Start: 19:30 Uhr
Ende: 20:25 Uhr
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Fassungslos steht sie auf der anderen Seitenstraße. Geschützt vor dem Regen, unter einem Vordach, unter dem sie das Licht der Straßenlaterne nicht erreicht.
Um sie herum ist es dunkel und nass und kalt. Ein trister Spätnachmittag im Dezember.
Nur das blaue Licht des Rettungswagens spiegelt sich in der Fensterfront des Ladengeschäfts im Untergeschoss. Die Türen sind geöffnet, die beiden Sanitäter schon im Haus verschwunden. Niemand beachtet sie.
Ihr ganzer Körper zittert. Möchte nicht wahrhaben was passiert ist.
Sie ist zu keinem klaren Gedanken fähig, weiß gar nicht, ob sie nun traurig sein soll. Denn das ist sie nicht, eher erleichtert. Auch wenn sie sich dieses Ende nicht gewünscht hat.
Fast gleichzeitig treffen nun Notarzt und Polizei ein. Die Türen der Einsatzwagen knallen laut zu und auch die Besatzungen dieser Fahrzeuge eilen sofort in den Eingang.
Was soll sie denn nun tun?
Rüber gehen?
Sich zu erkennen geben?
Oder einfach verschwinden und so tun, als wäre sie nie hier gewesen?
Ob man den Anruf verfolgen wird? Ihre Fingerabdrücke sind mit Bestimmtheit auf dem Mobilteil zu finden. Achtlos hat sie es fallen lassen, als sie die ersten Sirenen hörte. Beinahe fluchtartig, einem Reflex folgend, hatte sie das Haus verlassen.
Aber sie kann nichts dafür. Selbst wenn sie eine halbe Stunde früher angerufen hätte, das hätte nichts mehr geändert. Dessen ist sie sich sicher.
Ob sie jemand hat hinein gehen sehen? Oder hinaus?
Natürlich wird man sich bei ihr melden. Das steht außer Frage. Immerhin ist die leblose Person dort drüben, im zweiten Geschoss über dem kleinen Feinkostladen, zumindest auf dem Papier ihre Mutter. Auch wenn sie diesen Namen streng genommen nicht verdient.
Langsam atmet sie durch. Ab jetzt wird alles anders sein. Und nichts mehr wie zuvor. Denn endlich ist sie frei. Und ja, das fühlt sich gut an. Sofort meldet sich aber auch das schlechte Gewissen.
Unsicher behält sie den Eingang im Blick. Die Zeit scheint still zu stehen, die Sekunden fühlen sich quälend lang an. Als sie die Ungewissheit nicht mehr aushält, macht sie auf dem Absatz kehrt. Es zieht sie weg. Weit weg.
Es dauert einige Stunden, bis ihre Betreuerin an die Zimmertür klopft und sie mit einem betretenen Gesicht ins Gruppenzimmer der Einrichtung bittet. Dort sitzen zwei Polizeibeamte. Ob es dieselben sind, die zuvor in der vermüllten Wohnung waren? Spielt das eine Rolle? Vermutlich nicht.
Der Ältere überbringt mit Anteilnahme die Todesnachricht. Dabei sieht er ihr ins Gesicht. Welche Regung erwartet er? Einen Aufschrei? Weinen? Toben?
Doch es ihr mehr oder wenig gleichgültig, Und jeden, der ihre Akte kennt, wird das nicht wundern.
Vermutlich eine Überdosis, erfährt sie. Gepaart mit viel zu viel Alkohol. Ob sie wisse, wo sich der sogenannte Lebensgefährte der Vierzigjährigen aufhält, wird sie gefragt. Dazu bleibt ihr nur ein Schulterzucken. Sie kennt diesen Mann kaum, er ist einer von vielen, sie kann sie kaum auseinanderhalten. Ihre Erzeugerin hatte sich die Partner nicht der Liebe wegen ausgesucht, sondern aus ganz anderen praktischen Gründen. Meist waren ihre Liebhaber auch ihre Dealer. Guten Stoff gegen guten Sex. Eine Win-Win-Situation. Meist hatten diese Männer aber auch die schlechte Angewohnheit, sich mehr für die Teenagertochter zu interessieren. Auch deswegen war sie vor einem knappen Jahr, mit gerade mal 15, vor die Tür gesetzt worden. Sie hatte sich immer nur geekelt, die Männer abgewiesen und sich vorsichtshalber stets eingeschlossen. Ihre Mutter hatte ihr nie geglaubt.
Wann sie ihre Mutter zuletzt nüchtern und klar gesehen hat, daran kann sie sich nicht erinnern. Ob das je der Fall war? Es gab zumindest den halbherzigen Versuch vor einigen Monaten. Ihr Leben hatte sie ändern wollen, ihre Tochter zurück. Das Jugendamt hatte sich Gott sei Dank nicht täuschen lassen. Und daher lebte sie wieder in dieser betreuten Einrichtung. Immer in der Angst, dass sie ihr altes Leben einholen würde. Doch auch das war nun vorbei.
Bei allem, was sie hatte erleben und ertragen müssen, sie hatte ihre Mutter einst geliebt. Sich über die Annäherung zunächst gar gefreut. Auf einen Neustart gehofft. Freiwillig war sie sogar für eine Woche dorthin zurückgekehrt, was ihr Zuhause gewesen war. Nur zu zweit, ohne Männer, Drogen, Alkohol, Demütigungen. Doch dann war alles eskaliert. Das schlechte Gewissen, die kranke Mutter allein gelassen zu haben, hatte schwer auf ihre Schulter gedrückt. Auch deswegen hatte sie heimlich immer wieder nach ihr gesehen. So auch heute. Doch da hatte ihre Mutter schon nicht mehr gelebt.
Die Polizei gibt sich mit der verfeinerten Variante zufrieden. Nein, sie habe ihre Mutter zuletzt vor zwei Wochen gesehen. Der Fall ist hier in Berlin nur eine Randnotiz. Eine weitere Drogentote in der Statistik. Niemand fragt, ob sie es war, die die 112 gewählt hat und dann verschwunden ist. Es ist offenbar egal.
Der Besuch dauert keine halbe Stunde.
Nachdenklich sieht sie den Beamten hinterher, als sie die Einrichtung verlassen.
Was ihr von ihrer Mutter bleibt sind zwei vergilbte Fotos aus ihren Babytagen, eine Halskette und zahlreiche Narben auf der Seele. Sie ist 16 Jahre alt, Waise und wer ihr Vater ist, hat sie nie erfahren. Sie schwört sich in jener Nacht, dass sie selbst es einmal besser machen wird. Ab morgen nimmt sie ihr Leben in die Hand. Und irgendwann wird sie hoffentlich vergessen. Den Müll, den Gestank, das Geschrei, die Geräusche aus dem Nachbarzimmer, den Anblick der Toten, die Angst.
Als erstes ändert sie ihren Namen.