Start: 18:00 Uhr
Ende: 18:50 Uhr
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Warum dröhnte der Kopf so?
Langsam drehte er sich auf den Rücken.
Ganz vorsichtig öffnete er die Augen, kniff sie aber sofort wieder zusammen.
Viel zu hell.
Moment, irgendetwas stimmt nicht.
Wo war er?
Er deckte die Augen mit einer Hand ab und versuchte es nochmal.
Erschrocken kam er in den Sitz, woraufhin sich das Dröhnen in einen fiesen, pochenden Schmerz verwandelte.
Sofort kam eine Übelkeit dazu.
Er ließ sich einfach wieder nach hinten fallen.
Angestrengt dachte er nach.
Wie um alles in der Welt war er in sein altes Kinderzimmer gelangt?
Gut, es sah schon lange nicht mehr aus wie damals, als er mehr oder weniger ausgezogen war, aber es war dennoch das Zimmer, in dem er aufgewachsen war.
Er sah an sich herunter und stellte fest, dass er in seinen Straßenklamotten geschlafen hatte. Lediglich die Schuhe und Jacke fehlten. Wieder fuhr er sich über das Gesicht.
München war über 600 Kilometer entfernt.
Ein Auto besaß er nicht. Also blieb nur die Bahn.
Irgendeine Erinnerung schlich sich heran.
Er, beim umsteigen. Die letzte Etappe mit dem Taxi. Der Typ, der ihm im Speisewagen ein Bier nach dem anderen ausgegeben hatte. Das Gesicht seines Vaters, als der den Taxifahrer bezahlt hatte.
Oh, verdammt. Die Stunden davor, ehe er kopflos ohne einen Cent in der Tasche in den nächstbesten Zug gesprungen war.
Er schloss die Augen. Vielleicht war das ja auch nur ein Albtraum und wenn er gleich wieder wach werden würde, dann wäre alles wieder in Ordnung.
Der Kopfschmerz erinnerte ihn erbarmungslos daran, dass er schon wach war. Und auch sein Magen gab ihm eindeutig zu verstehen, dass er nicht schlief. Nicht träumte. Ganz und gar nicht träumte.
Der miese Geschmack im Mund brachte noch eine andere Erinnerung zurück. Ob seine Eltern arg sauer auf ihn waren? Immerhin konnte er sich schemenhaft daran erinnern, dass er sich volltrunken mitten im Flur übergeben hatte. Vermutlich auch schon im Taxi, aber so ganz bekam er das nicht mehr zusammen. Vielleicht war das auch auf der Toilette im Zug gewesen? Warum hatte der Typ ihn so abgefüllt? Ach ja, es fiel ihm wieder ein. Weil er ihm von den Stunden davor erzählt hatte. Wie es allerdings dazu gekommen war, das blieb in der Nebelsuppe, aus der sein Kopf zu bestehen schien.
Vor Scham würde er einfach nur gerne die Bettdecke über den Kopf ziehen und sich hier verstecken. Aber ihm wurde direkt bewusst, dass dies vermutlich keine Option war. Zumindest nicht für seine Eltern, die mit Sicherheit gerne eine Erklärung hätten. Aber er wollte gar nicht darüber reden. Damit würde alles so wirklich werden. Und das konnte er einfach nicht aushalten.
Um den Schwindel etwas zu beruhigen, rollte er sich auf die Seite. Zu seiner Überraschung entdeckte er auf dem Nachttisch eine Flasche Wasser und zwei Aspirin.
Als das Karussell in seinem Kopf angehalten hatte, setzte er sich auf und griff dankbar nach dem Blister und spülte beide Tabletten herunter. Erst jetzt bemerkte er, welch Durst er hatte. Klar, einen Brand, dachte er verbittert. Selber schuld. Er runzelte die Stirn. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte ihm der Kerl auch mindestens zwei Schnaps bezahlt. Auf sechs Stunden Fahrt hatte man reichlich Zeit. Er setzte sich auf die Bettkante und vergrub den Kopf in seinen Händen.
Wer hatte eigentlich das Bahnticket bezahlt?
Ein unangenehmes Gefühl machte sich breit.
Ganz vage sah er das mitleidige Gesicht einer Frau vor sich. Wo gehörte die denn jetzt hin?
An den Anfang oder das Ende der Geschichte?
Langsam quälte er sich hoch und ging die wenigen Schritte zum Fenster. Vielleicht würde ja Frischluft seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Offenbar war es früher Morgen. Die Sonne stand noch tief und es war ganz ruhig im Haus. Er stützte sich auf der Fensterbank ab und atmete ein paar Mal tief durch. Dann fiel ihm eine Kleinigkeit ein. Hektisch durchsuchte er seine Jeanstaschen. Richtig, er hatte der Frau versprochen, dass er ihr das Geld zurückgeben würde. Und tatsächlich fand er ihre Visitenkarte. Sie war bestimmt schon jenseits der 50 gewesen und laut der Karte Dozentin an der Uni in Stuttgart. Dort war sie auch ausgestiegen, wie er sich jetzt erinnerte. Und er dummerweise war in den Bistrowagen umgezogen, weil alle Sitzplätze reserviert oder belegt gewesen waren. Gut, darum würde er sich später auf jeden Fall kümmern. Sie war sehr nett gewesen und hatte nicht gezögert, als der Schaffner vor ihnen gestanden hatte. Auch ihr hatte er von seinem beschissenen Tag erzählt.
Nachdenklich trat er vom Fenster zurück. Er fühlte sich furchtbar. Als wenn er einen Schleudergang in der Waschmaschine überlebt hätte. Er brauchte dringend eine Dusche. Zwei oder drei Kaffee, vielleicht noch eine Aspirin. Und seine Ruhe. Nein, er wollte nicht darüber reden. So lange er es nicht tat, würde es vielleicht verschwinden. Ach nein, er hatte es ja schon erzählt. Zweimal. Wildfremden Menschen. Einfach so. Ob er dabei geweint hatte? Vermutlich. Ohne Grund hatte diese Dozentin ihn nicht mit Mitleid betrachtet und ihm der Anzugmensch nicht Unmengen von Alkohol ausgegeben. Jörg hieß der, oder Jochen? Er kratzte sich am Kopf. Egal. Soweit er wusste, hatte der ihn eingeladen. Weil, so hatte Jörg oder Jochen gemeint, mit Alkohol ließ sich alles besser ertragen. Sogar ein Wegbier hatte er ihm zum Abschluss auf dem Umsteigebahnhof noch in die Hand gedrückt. Daher auch hatte er auf das zweite Umsteigen verzichtet und das Taxi genommen. Weil ihm das so unheimlich kompliziert vorgekommen war. Oh ja, was so eine Taxifahrt aus der Kreisstadt bis zu seinem Elternhaus wohl kostete?
Das schlechte Gewissen nährte sich.
Ganz dunkel, sehr sehr dunkel, konnte er sich jetzt daran erinnern, dass sein Vater ihn die Treppe hochbugsiert hatte. Seine Mutter hatte immer wieder wissen wollen, was denn eigentlich passiert war, aber das hatte er zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr richtig gewusst. Stattdessen hatte er seinen Vater angeschrien. Es war ihm unangenehm. Mehr als das. Peinlich. Er war 21 Jahre alt, kein Kleinkind mehr, kein Teenager.
Nein, er war Student und einigermaßen erwachsen.
Da verhielt man sich anders. Ließ sich nicht volllaufen, weil man die Realität nicht ertrug. Oder doch? Zählte die Ausrede, dass die Liebe seines Lebens unheilbar an Leukämie erkrankt war?
Jan warf einen Blick auf das verlockende Bett.
Sorry, korrigierte er sich, die Ex-Liebe meines Lebens.