Start: 20:10 Uhr
Ende: 21:15 Uhr
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Man sagt, Erinnerungen trägt man im Herzen. Mir kommen sie vor, wie Polaroids, aufgereiht auf einer Nylonschnur, verblichen durch das Sonnenlicht werden sie immer unschärfer. Verklärter, ein wenig rosarot, entrückter. Aber sie sind da, werden angestachelt durch einen Geruch, eine Melodie, ein Gefühl.
Kleine Meilensteine meines Lebens. Geknipst durch die Linse meiner Seele. Gute, wie schlechte. Manche verfallen zu Staub, andere bleiben für die Ewigkeit, werden hier und da verschüttet, klopfen ab und an kräftig an die Tür. Das Rosarot kann zu einem Grau wechseln, verflüchtigt sich, färbt sich erneut ein.
Ich bin, wer ich bin, weil nur ich mein Leben so gelebt habe. Aus den kleinen Momentaufnahmen setzt sich mein Sein, mein Fühlen, mein Handeln zusammen. Nur ich kann die Erinnerungen in dieser Form riechen, schmecken, hören und spüren. Für andere sind es Schnappschüsse, unbedeutende Augenblicke. Für mich in der Rückschau ein wertvoller Ansatz oder eine entscheidende Mahnung. Oder die Wahrheit, die nur mir zusteht, die ich vor anderen verberge. Unveröffentlichte Bilder, ohne Copyright, nur für mich bestimmt. Oder ein Schatz, der in mir lange nachklingt, Kraft schenkt und nur mir seinen Wert verrät.
Manches blitzt unbewusst auf, ist nicht greifbar, schwebt durch einen Tagtraum oder spricht in der Nacht zu mir. Es sind die Bilder meines Lebens, eingefärbt von der eigenen Bewertung, vieles Jahre her, manches neu gefunden. Wie ein Polaroidfoto eine einmalige Begegnung, ein nicht wiederholbare Erfahrung, ein schemenhafter Kuss des Universums. Es gibt keine Sicherungskopie. Was zerfällt, sich auflöst, ist unwiederbringbar gelöscht. Vielleicht, mit ein bisschen Glück, bleibt eine Ahnung. Flattert im Bewusstsein umher, offenbart sich nie mehr in voller Pracht.
Nicht jede Erinnerung ist es wert, sie zu hüten. Andere wiederum sind so kostbar, dass man sie vervielfältigen mag. Die eine bringt mich zum weinen, die andere zum lachen. Nicht jede will man gehen lassen, sie festhalten, einfrieren, sie lebendig halten, mit einem Filter versehen, unzählige Duplikate fertigen. Und doch verblassen sie, ob man möchte oder nicht. Die innere Fotowand besteht aus einem Fotomosaik, dass man nur selbst verstehen und lesen kann.
Das Vergessen so sagt man, kann auch ein Geschenk sein. Doch wie wird es sich anfühlen, wenn die Polaroids in meinem Kopf immer weißer werden, immer weniger erzählen und keine Gerüche, Melodien oder Gefühle diese mehr zum Leben erwecken? Wie ein Verwelken? Kann man unendlich neue Bilder hinterherjagen? Sind deswegen so viele permanent darauf aus, jedes Erlebnis mit der Kamera festzuhalten? Ich wandere durch unsere Zeit und frage mich, ob das Herz nicht der bessere Fotograf ist.
Denn Gefühle, die kann man nur einmal so erleben, wie im Jetzt. Das Lachen ist nie so ehrlich, wie in diesem Moment. Eine Liebe nie so tief, wie beim ersten Atemzug, eine Trauer nie so überwältigend wie in der ersten Sekunde. Sie lassen sich nicht lenken oder einfangen. Eben wie ein Polaroid, für welches nur ein Versuch bleibt und sich das Ergebnis erbarmungslos im Anschluss zeigt. Nur eine Chance, etwas zum ersten Mal zu erleben.
In vielerlei Dingen entwicklen wir uns weiter, du und ich. Die Fotos werden besser, manche auch nicht. Aus jedem Fehler ziehen wir eine Lehre, aus jedem Glücksmoment den Willen hierfür. Manches wird eben rosarot, wenn wir zurücksehen, anderes versuchen wir zu verbannen. Doch all das gehört zu einem jeden von uns.
Die kleine Nylonschnur im Herzen, mit den Momentaufnahmen unseres Lebens. Das eigene kleine Paradies, aus dem mich niemand vertreiben kann. Bewacht von den Gefühlen, den Melodien, den Gerüchen.
Dass sie verfärben, eben wie ein Polaroid im Sonnenlicht, gehört auch zum Leben. Und manchmal ist das gut so. Denn nicht alles, was die Seele glaubte, auf Zellophan bannen zu müssen, müssen wir behalten.