Start: 19:40
Ende: 20:40
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Zeit ihres Lebens ist sie immer gerne unterwegs gewesen.
Heute hier, morgen dort.
Sie hat in London gelebt, in Mailand, Lissabon, Canberra und in New York.
Im Laufe der Jahre ist sie durchs Eis gewandert, auf dem Kilimandscharo gestanden, mit Delphinen geschwommen und hat in der Wüste geschlafen.
Zuerst hatte sie einfach nur raus gewollt, aus dem Mief der Kleinstadt, in der jeder jeden kannte. Sie wollte wissen, wie es sich in einer Millionenstadt lebt, wie auf einer abgelegenen Farm oder ohne Strom und Wasser.
Dabei hat sie viel über sich selbst gelernt. Zum Beispiel, dass sie den Reklametafeln am Piccadilly nicht abgewinnen kann, die am Times Square aber liebt. Und dass Menschen sie faszinieren. Für das Alleinsein war sie nicht gemacht, aber ihr Herz hatte sie dennoch an niemanden verloren.
So war sie immer weitergezogen, hatte ihre Zelte oft nur nach wenigen Monaten abgebrochen. Nirgends stellte sich das ein, was sie als ein Heimatgefühl bezeichnen wollte. Es trieb sie quer durch die Welt. Einmal dachte sie, in Sao Paolo die Liebe gefunden zu haben. Aber es stellte sich heraus, dass José dies vollkommen anders definierte.
Ihr Koffer war immer schnell gepackt. Denn sie reiste stets mit leichtem Gepäck. Sie hing nicht an Gegenständen oder Büchern. Sie besaß nur so viel Kleidung, wie unbedingt nötig. Ihr Credo war, jederzeit aufbrechen zu können und nichts zurück lassen zu müssen. Wichtig waren ihr lediglich ihr Paß, eine Kamera, ein Mobiltelefon und die Speicherkarten mit den unzähligen Fotos. Und die Halskette, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Bis vor wenigen Jahren hatte sie keine Besitztümer wie Möbel ihr eigen genannt. Das hatte sich nur mit der letzten Station geändert.
Für eine ungewohnt lange Zeit hatte sie sich hier, im pulsierenden Zentrum zwischen der 7th Avenue und dem Broadway aufgehoben gefühlt. Vielleicht sogar heimisch. Und dennoch hätte sie auch von hier problemlos abreisen können. Aus alter Gewohnheit lebte sie in dem winzigen Apartment aus dem Koffer. Verlor nie den Überblick darüber, was notwendig war und was Luxus.
Als sie merkte, dass die Uhr aber auch hier ablief und sie überlegte, wohin sie als nächstes wollte, stellte sie etwas seltsames fest.
Auf einmal regte sich nicht die Sehnsucht nach einem noch unbekannten Platz in ihr. Beim Stöbern weckte keine Destination ihre Aufmerksamkeit.
Weder Toronto, noch eine südpazifische Insel oder Tokio.
Stattdessen machte sich ein ganz anderes Gefühl bemerkbar. Sie hatte ein paar Tage gebraucht um zu verstehen, dass sie des Weltenbummlerlebens müde geworden war. Ganz offenbar wurde es Zeit, nach Hause zu gehen.
Aber was war das nun genau?
Über 30 Jahre hatte sie diesen Platz gesucht und nicht gefunden.
Nun stand sie ausgerechnet an Heilig Abend in der Abflughalle des John F. Kennedy International Airport. Den Koffer hatte sie bereits aufgegeben und nochmal betrachtete sie nachdenklich das Ticket in ihrer Hand.
Ein Telefonat hatte den Ausschlag gegeben.
Herz und Bauch hatten prompt signalisiert, dass sie es tun sollte.
Dann war alles ganz schnell gegangen. Die junge Nachmieterin war ganz begeistert gewesen, dass sie die Möbel gegen eine geringe Abschlagszahlung hatte übernehmen können.
Mit einer kleinen Party hatte sie Abschied von der Stadt genommen, die tatsächlich niemals schläft. Sie fragte sich, ob sie mit der Umstellung zurecht kommen würde. Ob sie es dann doch vermissen und wieder los ziehen würde. Oder ob sie dort endlich ankommen würde. Was eine Ironie das auch wäre! Hätte sie sich das ganze Reisen und Suchen nicht gleich sparen können?
Zurück also.
Dorthin, wo sie mit Mitte 20 geglaubt hatte, nicht leben zu können.
Wo ihr alles zu klein, zu eng, zu spießig vorgekommen war.
Wo sich immer noch alle kannten, nur eben sie nicht mehr.
Irgendwie hatte sie nun das Gefühl, das dies ihr größtes Abenteuer werden könnte.
Sie griff in die Ledertasche, die seit 10 Jahren ihr steter Begleiter war. Dank der Zeitverschiebung war auf der anderen Seite des Atlantiks schon früher Nachmittag. Vermutlich waren die Menschen dort mit den Vorbereitungen für das Familienfest beschäftigt. Wie lange sie schon kein Weihnachten auf diese Art mehr verbracht hatte. Und morgen würde sie, sofern der Jetlag es zu ließ, mitten hinein stolpern.
Mit einem Tastendruck entsperrte sie ihr Handy und wählte eine eingespeicherte Nummer. Sie musste lächeln, als sie seine Stimme hörte. Auch so etwas unerklärbares. Da kannte man sich fast ein ganzes Leben. Ohne Vorwarnung war in den letzten Monaten über die Distanz etwas entstanden, von dem sie nun beide hofften, dass es kein Trugbild war.
"Das Boarding beginnt gleich. Tatsächlich pünktlich", informierte sie. In Amsterdam musste sie umsteigen, Direktflüge waren so kurzfristig nicht mehr bezahlbar gewesen. Alles in allem würde sie elf Stunden unterwegs sein.
"Meld dich aus Amsterdam, dann fahre ich pünktlich los", meinte er.
Kopfschüttelnd beobachtete sie, wie das Personal am Counter letzte Handgriffe erledigte.
"Das musst du nicht", warf sie ein.
"Ich möchte aber", widersprach er und sie lachten beide.
Die Lautsprecher knarzten, die Passagiere der First Class wurden aufgerufen.
"Hab einen ruhigen Flug", wünschte er von der anderen Seite des Ozeans.
"Und du ein schönes Fest", gab sie lächelnd zurück.
Mit klopfendem Herz betrat sie eine Viertelstunde später die Boing. Nun gab es kein Zurück mehr. Sie war aufgeregter, als sie je zugeben würde. Und gleichzeitig voller Neugierde und Vorfreude, so wie sie es von zahlreichen Neustarts gewohnt war. Zurück also. In ein neues Leben.