Start: 18:00 Uhr
Ende: 19:00 Uhr
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Noch vor zwei Stunden war der Himmel blau und wolkenlos gewesen, die Sonne hatte hell und warm gestrahlt. Doch jetzt blies ein kräftiger Ostwind dunkle Wolken vor sich her und die Berge waren kaum mehr zu sehen. Ein rechtzeitiger Abstieg kam nicht mehr in Frage. Innerlich fluchend dachte Martin an die Warnungen der Dorfbewohner, die schon am Vormittag vor einem Gewitter gewarnt hatten. Er selbst hatte sich auf seine verschiedenen Apps verlassen, anstatt auf die Worte der Menschen zu hören, die seit Jahrzehnten hier lebten. Glücklicherweise waren sie nicht allzu weit von der Bergstation entfernt der Kabinengondel entfernt und zumindest Regenausrüstung trug Martin im Rucksack bei sich. Im Gehen zerrte er die Jacken hervor und reichte eine weiter.
Sein Neffe war schon beim Donnergrollen zusammengezuckt und sah ihn auch jetzt aus ängstlichen Augen an.
"Wir haben es gleich geschafft, werden aber vermutlich nass. Zieh das an", wies Martin den Jungen eilig an. Der Blondschopf nickte folgsam und stolperte hinter ihm her. Immer wieder musste Martin stehen bleiben und ihn schließlich an die Hand nehmen. Der steinige Weg war abschüssig, vor einer Stunde erst waren sie ihn entgegengesetzt gegangen. Da war der Kurze noch fröhlich und mutig gewesen. Immer wieder redete Martin ihm jetzt gut zu und atmete erleichtert auf, als er das Gebäude entdecken konnte. Ihm schwante aber nichts Gutes, als sie näher kamen. Keine Gondel war zu sehen und auch keine Menschenseele. Diesmal konnte er den Fluch nicht zurückhalten.
"Mist, die haben den Betrieb schon eingestellt." Wenn er ehrlich war, kein Wunder. Bei den Böen war es viel zu gefährlich, die Seilbahn am Laufen zu halten. In den Augen des Kindes sammelten sich Tränen. Tröstend zog Martin ihn unter das Vordach, damit sie wenigstens einigermaßen geschützt waren. Hektisch suchte er die Hinweisschilder nach einer Telefonnummer ab. Nichts. Er atmete durch. Und nun? Er zog sein Handy hervor und hätte am Liebsten bitter gelacht. Selbst wenn dort eine Notrufnummer gehangen hätte, sie hätte ihm nichts genützt. Er hatte keinen Empfang. So konnte er nicht mal in der Pension Bescheid geben. Oder seinen Bruder informieren, den Vater des Jungen. Während der Regen zu nahm, sah er sich um. Sein Blick fiel auf einer der Wandertafeln. Schutzhütten!
Wieder krachte ein Donnerschlag und sein Neffe stieß einen kleinen Schrei aus. Martin runzelte die Stirn, versuchte die Möglichkeiten abzuwägen. Hier bleiben und warten, dass es besser wurde? Oder bis sie jemand vermisste und man nach ihnen suchen würde? Oder sollte er die zwei Kilometer Fußweg zur nächsten Hütte in Angriff nehmen? Vermutlich würde man dort sowieso zuerst nach ihnen suchen. Oder sollte er es versuchen, mit dem Kleinen die Einkehrhütte zu erreichen? Diese lag zumindest auf gleicher Höhe, nur unwesentlich weiter weg als die Schutzhütte, aber dazu müssten sie den Berg nicht wieder hinauf. Und im Gegensatz zu diesem Unterstand war die Einkehrhütte ausgeschildert. Er musterte David, der sich in die Ecke gedrückt hatte.
"Okay, Großer. Wir müssen uns jetzt sehr beeilen, ja? Du bleibst an meiner Hand und wir laufen so schnell du kannst." Martin schätzte, dass sie eine halbe Stunde brauchen würden. Der Junge war sportlich und würde vermutlich konditionell durchhalten. Doch er hatte keine Ahnung, wie er mit der Angst und den stetigen Donnerschlägen umgehen würde. Unsicher sah David seinen Onkel an,
"Können wir nicht hier bleiben?", fragte er zitternd.
Energisch schüttelte Martin den Kopf.
"Nein, hier ist es nicht geschützt genug und wir werden nass bis auf die Haut. Schau, du frierst ja jetzt schon. In der Hütte ist es warm und trocken. Und wir können von dort Mama und Papa anrufen, damit sie sich keine Sorgen machen", erklärte er. Dabei fürchtete er jetzt schon, den beiden unter die Augen zu treten. Am Morgen waren sie zu einem eigenen Ausflug aufgebrochen und waren sicherlich bereits von ihrem Stadtbummel zurück.
"Und wenn da auch keiner ist?", fragte David weinerlich.
"Da ist immer jemand, die Betreiber wohnen dort, das hat mir unser Gastgeber vor ein paar Tagen erzählt," beruhigte er ihn. Martin hoffte, dass es die richtige Hütte war. Er hielt dem Jungen die Hand hin. "Bei drei laufen wir los, so schnell du kannst!"
Der Regen peitschte ihnen auf den ersten Metern ins Gesicht. Sie kamen viel langsamer vorwärts, als Martin gehofft hatte, dennoch lobte er und trieb den Jungen immer weiter an. Gott sei Dank war der Weg nicht so schmal und steinig, wie der zur Bergstation. Man merkte, dass er für die vielen Kurzbesucher angelegt war, die einfach nur mit der Bahn ankamen und zur Hütte spazierten. Nach einem Kilometer spürte Martin, wie die Nässe seine Haut erreichte. Auf dem zweiten Kilometer wurde David langsamer und stolperte immer öfter, die Konzentration des Grundschülers ließ zusehends weiter nach. Zumindest wurde der Regen weniger, dafür heulte der Sturm auf. Auf einem Schild an einer Kreuzung konnte Martin ablesen, dass sie es fast geschafft hatten. Nur noch wenige hundert Meter. Er schnappte sich den Jungen, setzte ihn sich trotz des Gewichts auf die Hüften. Das machte es für ihn nicht leichter, aber zweimal wäre David beinahe hingefallen. So drückte er ihn fest an sich und stapfte mit großen Schritten weiter. Und endlich konnte er ein Licht, dann die Hütte ausmachen. Vor Erleichterung hätte er fast geseufzt.
Die Tür wurde aufgerissen, kaum dass er die Stufen erreicht hatte. Man hatte sie kommen sehen. Er setzte erschöpft David ab und folgte ihm ins Innere.
"Herrgott, wo kommen Sie denn her? und dann mit einem kleinen Kind!", rief die Wirtin aus und half David schon aus der Regenjacke und den durchnässten Schuhen.
"Wir haben uns verschätzt", gab Martin kleinlaut zu und ging vor seinem Neffen in die Hocke. Die blauen Lippen zitterten und das Gesicht war leichenblass. "Haben Sie etwas Trockenes für meinen Neffen und vielleicht einen heißen Tee oder eine Schokolade?"
Sie brummte etwas zustimmendes und nahm David mit in den Raum hinter der Gaststube. Erst jetzt schälte sich Martin auch aus seiner Jacke.
Zehn Minuten später saßen sie vor einem Kaminfeuer. David in übergroßen Klamotten des 14-jährigen Sohnes der Wirtsleute und in einer dicken Decke. Immer noch heulte der Sturm und die Fensterläden schlugen heftig gegen den Holzbau. Jetzt schien es David aber nicht mehr so unheimlich zu finden. Vom Apparat der Hütte aus hatte Martin versucht seinen Bruder zu erreichen, erfolglos. So hatte er nur eine Nachricht in der Pension hinterlassen können. Sobald der Regen und Wind nachließ, wollte ihn der Wirt über die Fahrstraße nach unten ins Dorf bringen.
Das Unwetter tobte noch zwei Stunden. Sein Neffe hatte ein bisschen geschlafen und auch Martin hatte sich ausgeruht. Niemals mehr würde er Warnungen von Einheimischen ignorieren. Ihm bereitete aber zunehmend Sorge, dass er die Eltern des Kindes nicht erreichen konnte. Es war schon dunkel, als sie mit dem Lieferwagen im Tal an kamen. Die Fahrt über die Serpentinen hatte David schon als neues Abenteuer verbucht, im Gegensatz zu Martin. Die Kurven hatten es ganz schön in sich gehabt. Etwa auf halbem Weg gab sein Handy einen Ton von sich, er hatte wieder Empfang!
"Sitzen fest, eine Unterführung ist unterspült und wir kommen hier nicht weg."
Martin starrte ungläubig auf die Nachricht, die sein Bruder ihm vor drei Stunden geschickt hatte.
"Wir hatten keinen Empfang, geht es euch gut?", schrieb er zurück.
Es dauerte, bis sie in der Pension waren, bis sich sein Bruder telefonisch meldete. Sie kamen heute dort nicht mehr weg. Das Unwetter hatte neben der Unterspülung auch Bäume entwurzelt und Straßen blockiert. Martin versprach, sich um David zu kümmern und reichte das Telefon dann weiter.
Bei Davids Worten musste er schmunzeln. Mit keiner Silbe erwähnte sein Neffe dass er Angst gehabt hatte. Im Gegenteil. Er schmückte die Geschichte noch aus, ehe Martin eingriff und seinen Bruder beruhigte. Alles halb so wild, versicherte er. Verschwörerisch blinzelte er dem Jungen zu, als er ihn ins Bett brachte.
"Du hast geflunkert", meinte er. David grinste.
"Du doch auch!", rechtfertigte er sich.
Seufzend wuschelte Martin ihm durchs Haar.
"Naja, ich wollte nicht, dass sie sich im Nachhinein noch sorgen, weißt du."
David nickte.
"Genau, deswegen hab ich auch gesagt, dass ich keine Angst hatte, sondern so mutig war wie du", erklärte David ernst.
"Ach, ganz so mutig war ich ehrlicherweise auch nicht", gab er zu.
"Ich weiß", murmelte David und schlang dann seine Arme und den Hals seines Onkels. "Aber du warst trotzdem toll und Papa soll nicht dir schimpfen", erklärte er. Nun musste Martin wider Willen lachen. Er war dankbar, dass es so glimpflich ausgegangen war und David auch schon wieder lachen konnte. Ja, er hatte durchaus Angst gehabt, dass ihnen etwas passieren würde. Das hätte er sich nie verziehen. Liebevoll betrachtete er das Gesicht des Jungen, der schließlich eingeschlafen war. David war im Herzen viel mutiger, als er selbst wusste.