Start: 19:50 Uhr
Ende: 20:48 Uhr
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Der Herbst hat Reize, das muss man schon zugeben. Selbst als Mensch, der sich von den oft den trüben Tagen und Nebelfedern emotional schnell einfangen lässt. Heute zum Beispiel. Am frühen Morgen ist es nasskalt gewesen, Hochnebelfelder hatten sich spät aufgelöst. Auf dem Weg zur Schule, beinahe im Stockdunkeln hat er noch gefroren und befürchtet, dass es wieder bei dieser grauen Suppen bleiben, doch nun zeigt sich der Oktober von der schönsten Seite.
Kurz vor der Pause, die Sonne strahlt warm ins Klassenzimmer, draußen leuchten die Blätter der Bäume in verschiedenen Farben. Vorne an der Tafel steht der Mathematiklehrer. Eine dieser endlosen Gleichungen, die Jan sowieso nicht versteht. Die Erklärungen des Pädagogen sind nicht mehr als Wortfetzen, die Nachfragen der Mitschüler inhaltlich unverständlich. Hier und da kratzt ein Kugelschreiber über das Papier. In Jans Heft prangt noch immer die Ausgangsgleichung. Wie die anderen Zeilen an der Tafel dazu gekommen sind, weiß er nicht. Abgeschrieben jedenfalls hat er sie nicht. Schon jetzt graut ihm vor der nachmittäglichen Hausaufgabenbetreuung.
Sein Blick wandert zum Fenster. Im Kastanienbaum sitzt ein Eichhörnchen. Fasziniert sieht er zu, wie es flink den Ast wechselt und dann am Stamm herunterwetzt. Weniger faszinierend ist die Auflösung der ersten Unbekannten. An der Reaktion seiner Klassenkameraden bekommt Jan nur mit, dass ein Großteil den Rechenweg nachvollziehen kann. Vor ihm zeigt Gunnar seiner Nebensitzerin, was sie falsch gemacht hat, was sie mit einem erkennenden Laut quittiert. Pascal, der Klassenstreber zeigt auf und ruft dann doch ungefragt herein, er hat selbstverständlich auch die zweite Unbekannte ermittelt und kassiert sein übliches Lob.
Neben ihm, auf der anderen Seite des Gang, meldet sich Anna. Mit einer ihm sehr vertrauten Bewegung streicht sie sich die langen, schwarzen Haare aus dem Gesicht, als sie aufgerufen wird. Der Lehrer lächelt ob ihrer Frage und beantwortet diese ausführlich. Die Worte erreichen Jan gar nicht, er ist viel zu sehr damit beschäftigt, sie anzusehen. Anna nickt zufrieden und schlägt ihr Heft zu. Im gleichen Moment klingelt es endlich. Erleichtert schließt auch Jan sein Heft. Endlich sieht sie zu ihm, lächelt und zwinkert ihm zu. Sein Herz macht einen Satz. Noch immer, obwohl sie seit einigen Monaten miteinander gehen und seither fast immer die Mittagspause zusammen verbringen, ist er aufgeregt. So ganz kann er nach wie vor nicht verstehen, warum sie ausgerechnet mit ihm zusammen ist. Anna ist wunderschön, das schönste Mädchen der Schule und dazu so viel schlauer und begabter als er. Es dauert zwar noch fast zwei Jahre bis zum Abitur, aber Anna hat ihr Stipendium an der Musikhochschule in München sicher. Er dagegen hat keinen blassen Schimmer, wie er das Abitur überhaupt schaffen und was er danach machen soll.
Gerade möchte er ihr aus dem Raum folgen, als der Lehrer ihn aufhält. Auch das noch. Ungeduldig blickt Jan ihn an, der Lehrer bittet ihn, kurz die Tür zu schließen. Entschuldigend zuckt er Richtung Anna die Schultern.
"Jan, du verträumst wieder den Unterricht. Das Jahr hat doch ganz gut angefangen. Wenn du jetzt nicht dran bleibst, wirst es aber erneut schwierig. Möchtest du den Stress nochmal?", fragt Herr Theobald gerade heraus. Jan beißt sich auf die Unterlippe.
"Nein", murmelt er.
"Dann nutze später bitte die Möglichkeit und arbeite nach, was wir heute durchgenommen haben. Es ist eine wichtige Grundlage für die ersten Klausuren. Du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, auch in der Arbeitsstunde. Können wir dir sonst irgendwie helfen?"
Jan senkt den Blick. Im Grunde hat er so viel Glück mit dieser Schule, insbesondere mit seinem Klassen- und auch dem Vertrauenslehrer. Und auch Herr Theobald ist alles andere als ein Scheusal.
"Ich komme klar", antwortet er schnell. Der Gesichtsausdruck des Lehrers verrät ihm, dass der ihm kein Wort glaubt.
"Du weißt, welche Konsequenzen drohen", erinnert er ihn nun. Jan wird heiß und kalt. Und wie er das weiß. Passt der Notenschnitt in den Kernfächern nicht, ist es vorbei mit dem zusätzlichen musischen Unterricht. Dann stehen verpflichtende Förderkurse anstatt Chor und Gesangsstunden auf dem Plan. Das bedeutet ebenfalls, dass er weniger Zeit mit Anna verbringen kann. Er spürt, wie ihm die Tränen in die Augen schießen wollen, hält sie krampfhaft zurück. Die Musik ist der einzige Lichtblick, neben Anna natürlich, die kann er nicht aufgeben. Er hasst sich selbst dafür, dass er sie aufs Spiel setzt. Dass er so dumm ist, nicht mitkommt, immer hinter den anderen hinterher hinkt.
Herr Theobald lässt ihn gehen. Jan weiß, dass er Meldung an den Klassenlehrer machen wird. Seit Jahren gilt er als Problemfall. Schon die Grundschule war eine einzige Qual. Jans Eltern haben irgendwann diese spezielle Schule aufgetan, deren Konzept Jan entgegenkommt. Die außerdem teuer ist. Er schiebt die Gedanken weg, tritt nach draußen und sieht sich um. Anna sitzt allein unter dem Kastanienbaum, die Sonne scheint in ihr Gesicht und sie lächelt, als er sich neben sie sitzt.
"Wittkamp war gerade hier", erzählt sie und strahlt mit dem goldenen Oktober um die Wette. "Ich soll ab heute ein besonderes Stück einstudieren und damit die Schule auf einem Wettbewerb vertreten. Dafür bekomme ich für die nächsten vier Wochen extra Stunden", freut sie sich. Jan weiß, was ihr das bedeutet, wie hart sie daran arbeitet, eine der besten Pianistinnen der Welt zu werden. Wenn man so sieht, dann könnte man fast vergessen, dass auch sie den grauen Nebel in sich trägt. Jan muss schlucken. Ein wenig hatte er gehofft, dass auch er an dem Wettbewerb teilnehmen dürfte. Anna nimmt seine Hand und küsst ihn auf die Handinnenfläche. "Du sollst dich bei ihm melden", sagt sie. Sofort springt Jan auf.
"Warum sagst du das denn nicht gleich?", fragt er.
"Ich warte hier!", ruft sie ihm nach.
Fassungslos steht Jan zehn Minuten später vor der verschlossenen Tür des Probenraums. Sie hätten ihn gerne geschickt. Rechneten ihm gute Chancen aus. Dafür müsste er aber mehr üben, Zeit investieren. Deswegen hat man sich dagegen entschieden. Anders als bei Anna ist eine andere Prioritätensetzung im Unterricht bei ihm nicht drin. Im Gegenteil gar. Mit dem Wechsel der Stundenpläne, die die Schule alle sechs Wochen vor nimmt, soll sein Schwerpunkt deutlich verschoben werden. Nur noch eine Gesangsstunde in der Woche, zwei Chorproben. Dafür mehr Mathematik, Physik und Chemie. Sein Klassenlehrer will das am Ende der Woche mit ihm und seinen Eltern besprechen.
Jan ist nicht einfach enttäuscht. Er weiß gar nicht, wohin mit all den Gefühlen. Gerne hätte er einfach eine Vase an die Wand geworfen. Oder besser zwei. In den Unterricht möchte er nicht zurück, auch Anna will er jetzt nicht sehen. Währende die Mitschüler zurück in die Klassenzimmer drängen, schleicht sich Jan zu seinem Spind, holt seine Jacke und verlässt ohne sich abzumelden das Schulgelände. Es gibt jetzt nur einen Ort, an dem er sein möchte. Mit dem nächsten Bus fährt er die zehn Kilometer in sein Heimatdorf, steigt aber einige Stationen früher aus als üblich. Es wird ein wenig dauern, bis man ihn vermisst, so hofft er.
Er liebt den Waldweg hinunter zum See. Das Bootshaus ist im Sommer ein beliebter Treffpunkt der Jugendlichen. Ein Stück weiter, an einer Lichtung, steht ein Hochsitz, der nur selten von Jägern benutzt wird. Er dient Jan seit einigen Jahren als Rückzugsort. Dort kann er allein sein, Musik hören, die Natur beobachten und muss niemandem erklären, warum er sich oft so traurig fühlt. Das weiß er nämlich nicht. Es ist eben so. Schon immer. Manchmal ist er mit Anna hier. Vor einem Jahr hat er ihr am See wahrscheinlich das Leben gerettet. Denn Anna versteht als Einzige, wie er sich fühlt.
Wie oft verliert Jan jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Mit einem Mal geht die Sonne unter, es wird dunkel und kalt, dann setzt erst Boden-, dann Hochnebel ein. Trotz der Jacke friert er. Zuhause wartet bestimmt ein Donnerwetter. Er hat ein schlechtes Gewissen. Seine Mutter sorgt sich schnell, er will ihr keine Angst machen. Er geht davon aus, dass die Schule angerufen hat. Dass seine Eltern schon wissen, wie es gerade steht. Vielleicht ist sein Vater noch nicht da? Ob er noch vor ihm Zuhause sein könnte? Viellicht kann er seine Mutter Milde stimmen, auf ihr Verständnis bauen. Sie kann dem Vater viel besser erklären, was Jan eigentlich sagen möchte. Er steigt die Leiter herunter und steht Mitten im Nebel. Kaum kann er sich orientieren, zerkratzt sich das Gesicht, als er versehentlich in einem Strauch landet. Nun bekommt er es mit der Angst. Zieht sich zurück in den Hochsitzt und kauert sich zusammen. Er ist dumm, so dumm. Nun muss er hoffen, dass das Wetter besser wird.
Für seine Gedanken ist das alles nicht gut. Jan schwankt zwischen Wut auf sich selbst und Verzweiflung. Zum ersten Mal nach langer Zeit fragt er sich, ob sein Leben nicht ein großer Irrtum ist. Aber selbst dazu ist er zu feige. Anna, ja, die hatte den Mut beinahe gehabt. Frierend drückt sich Jan in eine Ecke. Hier und da ein Käuzchen, ansonsten ist es totenstill. Und grausam dunkel. Selbst der Vollmond hat keine Chance, blitzt nur für wenige Sekunden hervor. Aber was ist das? Irritiert kneift Jan die Augen zusammen?
Ein Lichtschein? Eine Taschenlampe? Direkt unter ihm? Als er dann die Stimme seines älteren Bruder vernimmt, laufen ihm Tränen.