Start: 18:20
Ende: 19:05
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Die Dunkelheit des Wintermorgens wurde von einer Dämmerung abgelöst. Ein fades Licht erkämpfte seinen Platz, Stück für Stück, millimeterweise. Nur langsam gab die Nacht ihr Kleid her. Dicht wabbelten Nebelschwaden nah am Boden, bis hoch in die Baumwipfel des Waldes. Der Tag brach an, aber das Bild blieb dennoch nur verschwommen.
Das verwischte Grau löste das tiefe Schwarz ab, keine Farbe hatte eine Chance. Ein verwaschenes Allerlei, meiner Seele nicht unähnlich. Kaum konnte man sich Leben vorstellen. Nur hier und da hellere Flecken, aber keiner vermochte die Tristesse zu vertreiben.
Alles war zu Eis gefroren, die klirrende Kälte stand in der Luft. Alles blieb dumpf, auch die Geräusche der Natur. Orientierung zu finden, eine schiere Unmöglichkeit. Oben oder unten, ich fühlte mich verloren und taub.
Seit Wochen das gleiche Bild. Nichts erreichte meine Sinne, meine Augen fanden einfach keinen Fixpunkt. Meine stummen Schreien verhallten ungehört.
Wo war das Grün der Bäume, wo das Blau des Himmels?
Wie sehr man doch Schattierungen von rot und gelb vermissen kann.
Tage kamen, Tage gingen - Stunde um Stunde.
Jede Minute fühlte sich schwer wie Blei an, jede Sekunde hämmerte hart gegen mein Herz.
Ich irrte in mir umher, verlief mich unter den Bäumen. Alle sahen so schrecklich gleich aus, hoch und bedrohlich. Nirgendwo fand sich eine Lücke und gar eine Helligkeit. Sie rückten täglich näher, schlossen mich immer mehr ein. Bis irgendwann egal war, ob es nun Tag oder Nacht war. Es blieb einfach nur noch dunkelgrau und der Weg nur noch eine Ahnung.
Ich konnte nichts spüren. Nicht die Kälte, nicht die Angst, nicht eimal mehr die Trauer. Da war nichts mehr. Ich war blind geworden und tastete mich hilflos von Stamm zu Stamm. Hoffte auf ein Zeichen, eine Spur. Irgendwann musste dieser endlose Winter an Gefühlen enden oder wollte er mich in die Knie zwingen?
Jeder Atemzug tat weh, schmerzte in meinen Lungen und in meinem Kopf. Der war zudem wie leer gefegt, schickte mir keine bunten Bilder der Zuversicht mehr. Die Minusgrade in mir lähmten, machten aus jedem kleinen Schritt eine grausame Anstrengung. Ich sehnte mich nach Wärme, nach Schlaf, nach irgendeiner kleinen Hoffnung. Und ich wusste, würde ich mich irgendwo setzen und mich dem hingeben, dann war das das Ende.
Immer weiter laufen, nicht stehen bleiben, nicht umsehen. Da waren nur noch Schatten. Sie griffen nach mir, flüsterten mir Verlockungen zu. Spielten ihr todbringendes Spiel mit mir. Obwohl das Herz so schwer, es kamen nicht einmal mehr Tränen. Nur der Ballast, der drückte mich bei jedem Schritt immer tiefer in das Eis.
Mehr als einmal überkam mich die Versuchung. Ausruhen, nur ganz kurz. Kraft schöpfen. Vielleicht ein paar Sekunden nur die Augen verschließen vor dieser Ödnis. Doch da war noch ein Brennen, tief verschüttet unter all den Narben. Es hielt mich aufrecht, ließ mich nicht los. Weiter, weiter. So summte es irgendwo.
Ich taumelte weiter, jeder Wald, jedes Labyrinth hat einen Ausgang. Und würde es Jahre dauern, ich wollte ihn finden. Immer aufs Neue aktivierte ich jede Zelle, jede Faser meines Willens. Manchmal stand ich einfach nur da und wartete auf einen noch so winzigen Moment, der mir die nötige Energie schenkte. Hier und da war zu spüren, dass ich nicht allein war, dass man mich erwecke wollte, aus diesem Zustand zwischen Leben und Tod. Ein Hauch einer Berührung, die Ahnung eines Kusses. Ich klammerte mich daran und versuchte sie einzufangen.
Es blitzte hell. Zwischen den Bäumen, ganz weit weg, aber es war Licht. Eine Richtung, auf die ich zugehen konnte. Dann wieder blieb es einige Zeit dunkel, aber nicht mehr so schwarz wie zuvor. Ich folgte jedem noch so kleinem Schein. Stolperte und stellte verwundert fest, dass der Weg breiter wurde, die Abstände der Bäume weiter.
Und dann, endlich, nach einer Ewigkeit in dieser Nacht, trat ich auf eine Lichtung. Nur freies Feld, unendlich weit. Und am Horizont brach ein Sonnenstrahl hervor, der alles erhellte. Er traf auf meine nackte Haut, löste ein Kribbeln aus. Drang tief durch mich hindurch. Um mich herum tauchte alles in Farben, als hätte jemand das Schwarz einfach abgewaschen. In mir taute das Eis, das sich um meine Seele gelegt hatte. Die Panzerschicht zerfloss und überall knackten dichte Schichten auf.
Wärme, die über mein Gesicht strich, wie eine zärtliche Hand. Es wurde so hell, dass ich kaum noch etwas sehen konnte. Aber diesmal machte es mir keine Angst. Ich blieb stehen, genoss das Prickeln auf meinen Armen und der Nase und pumpte die reine Luft in meine Lungen.
Es roch nach Leben.