Start: 12:00 Uhr
Ende: 13:00 Uhr
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Die zehn kleinen Gespenster saßen gespannt auf den Kissen am Boden. Nur das Kaminfeuer und ungefähr zwei dutzend Kerzen spendeten Licht. Vor dem Fenster stand der Mond hell und voll am Himmel, die kahlen Äste bewegten sich im Wind. Drinnen war es warm und kuschelig. Ein jedes hielt einen Becher mit weißer, dampfender Schokolade in der Hand. Darin schwammen kleine Marshmallows, was zu großer Freude führte. Es wurde nur leise geflüstert, die Augen glitten durch den Raum, hin zum großen Ohrensessel. Auf dem Tisch standen allerlei Leckereien. Popcorn natürlich, der Herzenswunsch eines Gespensterkindes, Fledermäuse aus Quarkteig, rote Grütze mit Vanillesoße, rote Bratäpfel und ein Kuchen, der mit schaurigen Gestalten verziert war. Auf der Fensterbank lächelten die verzerrten Gesichter der Kürbislaternen, ihre Schatten tanzten flackernd an der Wand.
Lautlos ließ sich eine Gestalt in den Sessel sinken. In der Hand hielt sie ein dickes Buch, das sofort weiteres Getuschel hervor rief. Das Gesicht der Gestalt wurde vom Kerzenlicht gestreift. Feine Spinnennetzte durchzogen es, eine Warze prangte auf der linken Wange. Den großen Hut hatte sie tief ins Gesicht gezogen, man konnte nur erahnen, dass eine Augenlinse weiß schimmerte. Lange knochige Hände schlugen das Buch auf, dann betrachtete sie die zehn stummen Gespenster. Jetzt blitze das weiße Auge unheimlich. Eines der Kinder zischte leise und die Gruppe rückte enger zusammen.
"Ihr seid also heute hier, um die Geschichte von Viktor, dem Vampir und Clemens, dem Geist zu hören?", fragte sie. Eifrig nickten die zehn Köpfe. Jetzt wurde es ganz still im Raum. So still, dass man das Knistern des Kaminfeuers hören konnte. Und auch das Umblättern der Buchseiten versursachte ein gehöriges Bauchkribbeln. Aber das würde natürlich kein Gespenst jemals zugeben.
Viktor ist noch ein junger Vampir. Gerade mal 150 Jahre alt und noch in der Ausbildung. Was ein Vampir so lernen muss, fragt ihr euch? Nun, fliegen zum Beispiel. Es erfordert es gewisses Geschickt mit dem Umhang umzugehen und nicht wie ein nasser Sack zu Boden zu plumpsen. Jagen, denn der Ehrencodex der Vampirgemeinschaft verbietet es, wehrlose Menschen zu beißen. Stattdessen steht das Blut von Eichhörnchen und Mäusen hoch im Kurs. Natürlich reicht da nicht nur eine in der Nacht, also muss auch Viktor lernen, wie er genügend Blut zu sich nimmt. Das Schwierigste für ihn ist es aber, sich rechtzeitig wieder am Sammelplatz einzufinden und alleine in sein Sargbett zu gelangen. Der Deckel ist nämlich ganz schön schwer und wenn man den nicht richtig schließt, dann könnten Sonnenstrahlen herein gelangen. Und was das bedeutet, das weiß ja jeder, oder? Einmal hat Viktor mitbekommen, wie es einem anderen jungen Vampir ergangen ist. Nein, das war kein schöner Anblick. Seitdem bemüht er sich doppelt, pünktlich zu sein. Dabei gibt es so viel Ablenkung, besonders jetzt im Herbst und Winter, wo es morgens länger dunkel ist. Er sieht unheimlich gerne den Familien zu, die sich morgen für den Alltag vorbereiten. Da hat sich ganz schön viel geändert in den letzten 150 Jahren, das kann Viktor manchmal gar nicht glauben. Er hätte unheimlich gerne auch so ein Smartphone, aber seine Vampirfamilie hält davon nicht viel. Und er hätte gerne einen besten Freund. Aber unter den anderen Jungvampiren ist niemand, der so alt ist, wie er, als er Vampir wurde - nämlich zwölf - und ähnlich länge ein Vampirleben führt.
Clemens ist ein ebenso junger Geist. Ihn nerven seine Gespensteltern -und Geschwister sehr. Nichts darf er alleine machen, zum Spuken in alten Schlössern sei er noch zu jung. Manchmal schleicht er sich aber in Wohnhäuser, wenn die anderen auf der Arbeit sind. Ihr müsst wissen, Clemens ist ein richtiger Nachzügler. Mit Abstand der Jüngste, aber alt genug, um für einige Stunden allein im Unterschlupf zu bleiben. In ein paar Jahren, wenn er alt genug ist, wollen sie sich eine feste Bleibe suchen, ein dauerhaftes Spukverhältnis. Am Liebsten wäre Clemens ein Schloss, das noch bewohnt ist. Mit Kindern, die er erschrecken kann.
So kommt es eines Tages, dass Viktor in einem Baum vor einem Haus sitzt und das Kinderzimmer beobachtet. Es ist Abend und die Geschwister des Haushalts sollen bald schlafen gehen. Er hofft, dass der Vater wieder eine Geschichte vor liest. Denn Viktor liebt Geschichten und hört gerne zu. Sein Gehör ist übrigens so gut, dass er draußen jedes Wort verstehen kann. Er hat an diesem Abend Glück. Gleich zwei Geschichten werden vorgelesen und beide hat er in den letzten 150 Jahren noch nie gehört. Viktor ist glücklich. Sein Abendessen bestand aus zwei Feldmäusen, er hat einen vollen Bauch und fühlt sich lebendig wie lange nicht.
Dann geht im Kinderzimmer das Licht aus und er kann die Geschwister noch miteinander flüstern hören. Ach, wie schön das sein muss!
Gerade als er beschließt zu fliegen, nimmt er in dem Zimmer eine Bewegung wahr. Da! Ein heller Fleck gleitet aus dem Kleiderschrank. Was ist das denn? Viktor kneift die Augen zusammen. Es scheint so, als hätten die Kinder noch nichts bemerkt, aber das weiße Etwas schwebt auf ihre Betten zu. Auf einmal hört er die Beiden schreien. Nur wenige Sekunden später geht das Licht an und er kann den weißen Fleck nicht mehr sehen. Vater und Mutter sitzen an den Betten, beruhigen die Geschwister liebevoll. Bestimmt nur ein Traum, sagen sie. Aber Viktor weiß es besser.
Dann ist da ein Luftzug, genau neben ihm. Erschrocken hält er sich am Baumstamm fest.
"Was bist du?", fragt er erstaunt und mustert seinen Sitznachbar.
"Ein Gespenst, also noch kein Fertiges. Clemens mein Name. Und du?"
Nun kann Viktor zwei blaue Augen entdecken, die ihn neugierig mustern.
"Ein Vampir in Ausbildung. Gestatten, Viktor."
Clemens deutet zum Zimmerfenster, das Licht ist wieder aus.
"Eigentlich darf ich das noch nicht, aber die Verlockung war so groß", erklärt er.
Viktor schmunzelt.
"War gar nicht so schlecht. Und was hast du jetzt vor?"
Clemens zuckt mit den Schultern.
"Ich weiß nicht. Zuhause ist mir langweilig", antwortet er dann.
Viktor betrachtet ihn genauer. Eigentlich sieht er ganz nett aus.
"Ich habe noch die ganze Nacht Zeit. Sollen wir was zusammen unternehmen?"
Clemens schwebt jetzt direkt vor ihm und es sieht aus, als würde er hinter dem weißen Schleier lachen.
"Au ja!", ruft er. Dann kommt er wieder auf dem Ast zu sitzen.
"Moment!" Viktor ist etwas eingefallen, er runzelt die Stirn. "Dürfen Vampire und Geister denn überhaupt zusammen spielen und Freunde sein?"
Auch Clemens schweigt einen Moment, dann sehen sie sich an.
"Egal", entscheidet Viktor aus dem Bauch heraus. Erleichtert schwebt Clemens vom Ast.
"Komm, ich kenne einen tollen Friedhof, wo sich abends oft Jugendliche rumtreiben. Lass uns mal sehen, ob wir denen nicht einen Schreck einjagen können!"
Belustigt stößt sich Viktor ab und fliegt seinem neuen Freund hinterher. Von da an sind die beiden beste Freunde und unzertrennlich.
Das Buch klappte zu.
"Mein Papa war auch mal ein Vampir", entfuhr es einem der kleinen Gespenster und alle anderen sahen es verwundert an.
"War?", fragte die Vorleserin.
Sie deutete zur Tür und hatte sichtlich Mühe ernst zu bleiben.
Sofort quietschten alle los. Lautlos hatte sich tatsächlich ein großer Vampir ins Zimmer geschlichen und er entblößte gerade die Fangzähne.
"Papa!", rief das Gespenst von eben und sprang auf. Große Augen beobachteten, wie der Vampir das Gespensterkind auf den Arm hob.
"Eine Minute vor Mitternacht", flüsterte die Vorleserin und erhob sich langsam aus dem Sessel.
Sanft drückte der Vampir seine Lippen auf den Hals des Kindes, küsste es sacht und ließ es die scharfen Zähne spüren. Als das Blut zu fließen begann, schrien alle anderen kleinen Gespenster auf.
"Alles Gute zum Geburtstag, David", flüsterte Jan und ließ den Jungen herunter. Schnell ließ er das Blutkissen verschwinden und blinzelte seiner Frau zu.
Der Kleine wurde sofort von seinen Freunden umringt, jeder wollte die Bisswunde sehen. Die Gespenster-Übernachtungsparty konnte beginnen.
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Viktor und Clemens sind eine Erfindung von Jan, äh, also mir irgendwie ;-)