Start: 20:45 Uhr
Ende: 21:37 Uhr
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In der Kiste befinden sich an die hundert Postkarten und Briefe. Aus einer Zeit, in der man sich eben noch keine Emails oder Kurznachrichten schreiben konnte. Damals blieb nur das geschriebene Wort, oft wochenlang, im Einzelfall monatelang, unterwegs.
Dazwischen ein hastiges, sehr teures Telefonat. Begleitet von
Nebengeräuschen und oft genug unterbrochen.
Es sind ganz besondere Zeugnisse, die Anke aufbewahrt hat. Ihre
Schwester hat sie teilhaben lassen an ihren Reisen, Abenteuern und Geschichten.
Manche Postkarte ziert nur ein Satz, einige Umschläge sind prall gefüllt. Eng
beschriebene Zeilen, auf Briefpapier diverser Hotels oder einem Abrissblock.
Mal erzählte Ursel von aufregenden Erlebnissen, dann philosophierte sie über
das Leben, hier und da hatte sie nur ein Lebenszeichen absetzen wollen.
Heute sitzen sie gemeinsam in der Stube und ordnen dieses Sammelsurium. Die Poststempel weisen ihnen den Weg. Datum und Ort leiten sie durch die Vergangenheit. Dabei trinken sie einen guten Wein. Sie weinen und lachen, werfen nur zufällig einen Blick auf den Inhalt.
Dabei sitzt David, Ankes sechsjähriger Enkelsohn. Ihn begeistern vor allem die bunten Briefmarken. Mit Erstaunen stellen sie fest, dass diese Marken in seinem Leben kaum eine Rolle spielen. Und wenn, dann sind es schlichte Ausdrucke, die man sich heute online kaufen kann.
Dagegen schmücken Ursels Post bunte Motive. Blumen aus Südamerika, Löwen aus Afrika, Sondermarken aus den Staaten. David lässt sich ganz genau erklären, was er da zu sehen bekommt. Es sind kleine Schätze und Anke möchte gar nicht wissen, was Sammler heute dafür bezahlen würden.
Begeistert deutet David auf einen Brief, den Ursel in den 90ern aus New York schickte.
„Damals war die Fußball-WM in den USA“, erklärt Ursel. „Ich glaube, die meisten Amerikaner wussten das nicht mal. Aber es gab einen ganzen Haufen Briefmarken und als Deutsche wollte ich diese auch unbedingt haben.“
Anke nickt und zeigt David weitere Briefe aus der Zeit.
„Wahrscheinlich hast du uns auch alle geschickt“, lacht sie.
David runzelt die Stirn und zieht einen Brief mit einer schlichten Marke aus dem Stapel.
„Und das hier? Die sieht irgendwie langweilig aus“, stellt er fest.
Lachend gibt Ursel ihm recht.
„Eine ganz normale Marke. Nicht immer hatte ich Zeit und Muße, mich am Postamt anzustellen und oft wollte ich den Brief auch endlich auf die Reise geben.“
Interessiert betrachtet David weitere Umschläge. Disney-Motive, Präsidenten, besondere Ereignisse.
„Ich weiß noch, wie ich damals dauernd auf Post gewartet habe. Das Telefonieren war so teuer und ich wollte doch wissen, wie es dir geht“, erinnert sich Anke. „Es war schon seltsam, dich so weit weg zu wissen.“
Ursel nippt an ihren Wein und beobachtet amüsiert den Jungen, den die Briefmarken jetzt doch schnell langweilen.
„Du solltest ja ein Teil von meinem Leben bleiben. Und wenn ich das hier heute so sehe, bin ich selbst ganz überrascht, wo ich überall war. Wie viel ich dir geschrieben habe. Ich glaube, ich weiß war nicht mehr, was ich dir alles geschrieben habe.“
Lachend deutet Anke auf eine Postkarte aus Mexiko.
„Julio ist ein Depp – ich werde das Land verlassen“, liest sie dann vor. Während ihr Enkelsohn sich auf die Suche nach einer anderen Beschäftigung begibt, zwinkert sie der Schwester zu. Die hat die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen.
„Oder hier. Eine Karte aus Paris: Franzosen werden überbewertet. C´est la vie – ich versuche es bei den Italienern“, zitiert sie trocken. Dann wird sie ernst.
„Es gibt einen Brief aus Mailand, in dem du dich seitenweisen über die Ansprüche an jungen Tänzerinnen auslässt. Vermutlich würden deine damaligen Aussagen noch heute in die Branche passen. Berührt hat mich auch einer deiner ersten Briefe aus New York, in dem du die Magie des glitzernden Broadways beschreibst.“
Entspannt lehnt sich Ursel zurück.
„Oh ja, daran entsinne ich mich. Und du müsstest eine Postkarte mit der 5th Avenue als Motiv haben, in der ich dir von meinem ersten Job erzähle.“
Kichernd wühlt Anke in dem Stapel und zieht sie hervor.
„Die hat damals Paul aus dem Briefkasten geholt und er liebte diese Marke“, sagt sie mit einem versonnenen Lächeln.
Auch Ursel wird es ganz anders um Herz.
„Eine Sondermarke für den Broadway und ich habe sie wochenlang herumgetragen, weil ich sie unbedingt hierauf kleben wollte. Immerhin war es ein Meilenstein in meinem Leben.“
Liebevoll streicht sie darüber und reicht die Karte an Anke zurück. Obwohl David einiges durcheinandergebracht hat, hat sie einen Überblick und eine Ordnung.
„Nun bin ich wieder hier und bin absolut glücklich darüber. Es hat Spaß gemacht die Welt zu sehen und sich einen Platz zu suchen. Nun ist er hier, bei euch, meiner Familie. Back to the roots, wie man auf Englisch sagen würde. Und neben meinen Tagebüchern ist diese Kiste die beste Erinnerung an diese Zeit. Bei manchem Poststempel muss ich lachen und werde nachher in meinen eigenen Erinnerungen stöbern. Danke, dass du all das aufgehoben hast“, sagt Ursel jetzt mit einem Kloß im Hals.
Schmunzelnd packt Anke alles zurück in die Kiste und verschließt den Deckel sorgfältig.
„Im Aufheben bin ich gut, weißt du.“ Sie greift nach ihrem Glas und prostet der Schwester zu. „Paul hätte gerne, dass ich noch mehr entsorge, aber gegen die Briefmarken hatte er kein Argument“, kichert sie dann. Sie ist so glücklich, dass Ursel zurück in Deutschland ist und sie sich wieder so gut verstehen. Ursel mag weit weg und viel auf Reisen gewesen sein, aber Anke ist sie immer nah geblieben. Im Herzen. Dank manch hastig verfassten Zeile oder einem langen Brief. Und dem Band, dass nur Schwestern verbindet.