Nachgeschrieben 30.11.2021
Start: 20:00 Uhr
Ende: 20:53 Uhr
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Das Paar am Nebentisch ist unverschämt verliebt. Es erntet einige missbilligende Blicke, als der eine junge Mann den anderen mit einer Gabel Spaghetti füttert. Der Mann mir gegenüber, dessen Haupthaar längst schneeweiß und der Bart silbern geworden ist, lächelt allerdings und stupst mich mit seiner Fußspitze an.
Schmunzelnd nehme ich seine Hand.
"Weißt du noch, als wir jung waren und jeden Freitagabend bei Luigi in der Pizzeria saßen?", frage ich.
Die hellblauen Augen blitzen auf.
"Ich gehe jede Wette ein, dass auch wir solche Reaktionen hervor gerufen haben." Damit hat er höchstwahrscheinlich recht. Wir haben sie damals nur vermutlich ebenso wenig bemerkt, wie die beiden jungen Männer am Nebentisch heute. Und das ist nur gut so, denn das überwiegend ältere Publikum stört sich offensichtlich nicht hauptsächlich daran, dass sie Zeuge eines verliebten Turtelns sind. Viel mehr dürfte hier der Umstand, dass es sich um ein gleichgeschlechtliches Paar handelt, die Hauptrolle spielen.
Auch der Oberkellner wirkt pikiert, als er eine weitere Karaffe des ausgezeichneten Chiantis am Nebentisch abstellt. Dabei wird er von den beiden gar nicht wahrgenommen, sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich tiefe Blicke zuzuwerfen.
Zu unserer Zeit ist es noch unangemessen gewesen, sich überhaupt in der Öffentlichkeit verliebt zu zeigen. Meine eigene Mutter hat mich immer gebeten, meinen heutigen Mann doch bitte nicht auf offener Straße zu küssen. Damit kann die Gesellschaft heute immerhin umgehen. Solange es sich um einen Kuss zwischen einer Frau und einem Mann handelt.
Hier aber, im eigentlich toleranten Holland, aber eben auf der Touristeninsel Texel, in diesem hochpreisigen italienischen Restaurant direkt an der Strandpromenade, fällt das junge Paar auf wie ein bunter Hund. Sie halten Händchen, haben die Umwelt vergessen und nippen ab und an am Wein.
Ich spüre das sanfte Streicheln des Daumens meines Mannes auf dem Handrücken. Auch wir trinken Chianti und wollen den Abend einfach nur genießen. Selten, dass wir uns ein teures Essen leisten und noch seltener, dass wir es auf Texel tun. Normalerweise koche ich etwas in der Küche unseres Ferienhäuschens oder wir nehmen eine Kleinigkeit in einem der kleineren Strandlokale.
Doch heute ist unser Hochzeitstag. 42 Jahre sind wir nun verheiratet. Die Liebe meines Lebens. Der Fels an meiner Seite. Wir sind durch gute und schlechte Zeiten gegangen. Gemeinsam haben wir etwas aufgebaut, ein Heim geschaffen, zwei Söhne großgezogen und neben den Sonnen- auch die Schattenseiten kennen gelernt.
"Als wir noch so jung waren, da haben wir geglaubt, dass uns die Welt zu Füßen liegt", sagt er jetzt. Da ist ein wenig Sehnsucht in seinen Worten. Uns ist sehr bewusst, dass die besten Jahre hinter uns liegen, dass unser Dasein endlich ist. Längst sind da auch Enkelkinder, die wir lieben und die uns dennoch unbarmherzig vor Augen führen, wie schnell die Zeit vergeht.
Bei dem jungen Paar wird das Geschirr abgeräumt, die Dessertbestellung aufgenommen und ein Digestif gebracht.
"Möchtest du auch noch etwas", werde ich gefragt. Ich wäge ab. Der Figur täte es besser, ich ließe es bleiben. Noch so eine Begleiterscheinung, wenn man älter wird, alles setzt schneller an. Dabei bin ich körperlich aktiv. Garten und Haus sind groß und werden von mir in Schuss gehalten. Wir haben einen Hund, der mindestens einmal am Tag einen ausgiebigen Spaziergang machen möchte. Zweimal in der Woche helfe ich einer Freundin auf dem Pferdehof bei der abendlichen Fütterung, zum Einkaufen fahre ich mit dem Rad und zu guter Letzt halten mich auch die Enkel auf Trab.
"Tiramisu", höre ich mich sagen und entlocke meinem Mann ein Grinsen. Ich liebe es. Das Grinsen auch, aber vor allem Tiramisu. Und da ich es nie selbst zubereite, bleibt es meine Lieblingsnachspeise beim Essen außer Haus.
Er macht den Kellner auf sich aufmerksam, der nebenan eine Panna Cotta abliefert. Dort teilt man sich das Dessert. Sie tun es, wie es eben frisch verliebe tun. Das Getuschel in meinem Rücken beginnt mich zu stören.
"Wir sollten dann zeitnah zahlen", schlage ich vor. Verständnisvoll nickt er. Das Tiramisu aber, das genieße ich noch. Es schmeckt herrlich und nichts anderes habe ich in diesem Restaurant erwartet. Wir erhalten die Rechnung zeitgleich mit dem Nebentisch. Mein Mann schiebt einen Geldschein in die kleine Mappe und drückt sie dem Kellner in die Hand. Jener bedankt sich höflich für das Trinkgeld und eilt weiter. Ich greife nach meinem Tuch, schwinge es um meine Schultern und wir treten auf die Promenade, gefolgt von den beiden Herren.
Sie lächeln uns an, nicken und schlendern dann engumschlungen in Richtung Strand. Die Sonne ist noch nicht ganz versunken und ich sehe meinen Mann erwartungsvoll an. Er bietet mir seinen Arm an, ich hake mich unter und wir spazieren ein Stück, bis wir eine freie Bank mit Blick aufs Meer entdecken. Dort zieht er mich in seine Arme, ich lehne meinen Kopf gegen ihn und wir sehen schweigend zu, bis das Wasser die Sonne verschluckt hat.
"Als wir noch jung waren, fanden wir Menschen in unserem jetzigen Alter uralt. Aber ich fühle mich bei Gott nicht alt", lacht er leise.
"Alter ist relativ", gebe ich zurück. "Ich sehe in dir noch immer den jungen, unglaublich gut aussehenden Mann." Das ist nichts als die Wahrheit. Auch wenn er natürlich gealtert ist und sein Haar nicht mehr dunkelblond.
"Und du bist für mich noch immer dieses zauberhaft lebhafte Mädchen, welches ich sofort heiraten wollte."
Ich muss schmunzeln, den er hat daraus nie einen Hehl gemacht, mich auch bei seinen Eltern vorgestellt mit den Worten, dass er mich heiraten wird. Da waren wir kaum vierzehn Tage zusammen.
"Wir mögen äußerlich nicht mehr jung sein, aber wir sind es im Herzen. Wenn du mich fragst, kommt das von der Liebe und der nach wie vor vorhandenen Neugier auf das Leben", sagt er nun. Die letzte Tagesschimmer bricht gerade am Firmament. Ich neige den Kopf, denke über seine Worte nach und komme zu dem Abschluss, dass sie viel Wahrheit enthalten. Denn wir freuen uns auf die kommenden Zeiten. Haben noch Pläne und möchten den Enkeln vieles zeigen, sie aufwachsen sehen.
Er beugt sich zu mir und gibt mir einen liebevollen Kuss. Wir haben nie damit aufgehört, uns zu küssen. Vielleicht nicht mehr so oft in der Öffentlichkeit, das mag sein. Ich spüre seine Hand auf der Wange und meine Empfindungen für ihn sind so echt und pur wie zu Teenagerzeiten. Denn mehr waren wir irgendwie nicht, als wir uns begegneten.
Da es kühl wird, verlassen wir die Bank und machen uns Arm in Arm auf den Heimweg. Kur vor Ende der Promenade entdecken wir vor der kleinen Cocktailbar das junge Paar aus dem Restaurant. Sie teilen sich ein Getränk, erzählen flüsternd und tauschen schnelle Küsse. Beide strahlen über beide Ohren. So muss das sein mit der Liebe, nicht nur, wenn man noch jung ist.