Start: 19:22 Uhr
Ende: 20:20 Uhr
*******
Es wurde ruhiger im Stall. Hier und da ein Schnauben oder ein Geraschel, ansonsten kehrte die abendliche Ruhe ein. Mit aufmerksamen Blick ging Dunja an den Boxen vorbei. Hier und da streckte sich ihr ein Pferdekopf entgegen. Lächelnd strich sie im Vorbeigehen über Nüstern, flüsterte den Tieren etwas zu. An der vordersten Box blieb sie etwas länger stehen, betrachtete das nur wenige Tage alte Fohlen und seine Mutter. Ein hübscher junger Hengst, der das Licht der Welt eben hier erblickt hatte. Schon jetzt war er der Liebling aller, vor allem aber der Kinder. Mit leuchtenden Augen hatte die Jungen und Mädchen der letzten Reitstunde ihn bewundert. Es hatte ein paar strenge Worte gebraucht, sie aus dem Trakt zu bekommen. Immerhin hatten sie brav ihre Sachen in der Sattelkammer verstaut, die Dunja jetzt sorgsam verschloss. Ein letzter Blick galt dem Bereich mit den übrigen Utensilien. Sie räumte noch die ein oder andere Bürste an ihren Platz, schob die Schubkarre weiter nach hinten, dann war sie zufrieden. Als sie wieder auf den Gang trat, vernahm sie ein leises Wiehern. Es kam von weiter hinten. Nochmal ging Dunja an den Pferden vorbei, bis sie die Stute erreichte, der sie den Laut zuordnete.
"Na?", meinte sie sanft. Irgendwo raschelte es. Irritiert hob Dunja ihren Kopf. Das kam nicht von der Stute oder einem der anderen Tiere, da war sie sich sicher. Sie lauschte angestrengt, fuhr dabei der Pferdedame durch die Mähne, hörte aber nichts mehr. Vielleicht eine der Katzen, dachte sie, oder eine Maus. Beides gab es auf dem Hof zur Genüge. Sie wollte sich gerade wieder in Richtung Ausgang begeben, als sie ein Flüstern hörte. Einen leisen Fluch. Jedenfalls kam es ihr so vor, verstanden hatte sie nämlich nichts. "Ist da jemand?", fragte sie. Dabei sah sie nach oben, zum Heuboden. Stille. Nur ein Schnauben der Stute. "Was meinst du, Princess, ist da oben wer?", fragte Dunja. Eigentlich verspürte sie wenig Lust die schmale Leiter hochzusteigen. Doch ab und an kam es vor, dass sich hier ein Landstreicher versteckte, und das sah die Eigentümerin gar nicht gerne. Vor allem nicht, wenn sich am nächsten Tag Zigarettenstummel als Beweise fanden.
"Wenn Sie freiwillig raus kommen, dann finden wir bestimmt einen Schlafplatz für die Nacht", bot Dunja an. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie eine arme Seele im Waschhaus oder der kleinen Reiterstube einquartierte. Natürlich unter Stillschweigen und der ein oder anderen Auflagen. Kein offenes Feuer, kein Alkohol und idealerweise eine Hilfe am Morgen. Die Meisten allerdings nahmen lieber Reißaus. "Ansonsten bin ich leider verpflichtet, die Polizei zu rufen", schob sie nach. Nichts. Kein Ton. Da war jemand, auch wenn er oder sie sich nicht zeigte. Dunja wartete eine Minute. In ihrem Rücken bliebt Princess unruhig. "Na gut, dann komme ich jetzt hoch", informierte Dunja. Seufzend griff sie mit beiden Händen an die Leiter. Und erschrak im nächsten Moment zu Tode.
Ein Gesicht erschien am oberen Ende. Ein kleines Gesicht. Noch dazu eins, welches sie gut kannte. Es war vielleicht eine Stunde her, dass sie es mit vier weiteren aus dem Stall gescheucht hatte.
"Was machst du denn da oben?", fragte sie überrascht. "Du solltest längst Zuhause sein. Zumal ich deinem Vater gesagt habe, dass du bereits los bist. Er war hier und wollte dich abholen." Zerknirscht nickte das Gesicht. "Nun komm erstmal runter", bat Dunja.
"Kann ich nicht hier bleiben? Nur eine Nacht?", bettelte das Kind. Bedauernd schüttelte Dunja den Kopf.
"Das geht nicht. Aber wir können drüben bei mir gleich einen Kakao machen und dann erzählst du mir, was los ist", schlug sie vor. Und natürlich würde sie den Vater informieren, der sich sicherlich schon sorgte. Aber das wollte sie dem Kind nicht direkt auf die Nase binden. Immerhin stieg es jetzt, mitsamt einem prallen Rucksack auf dem Rücken, die Leiter hinab. Dunja musterte den Jungen. Ein kleiner Pferdenarr, der mehrmals in der Woche hier war, mit half, Reitstunden nahm und ihr ans Herz gewachsen war. Betrübt ging er auf die Box der Stute zu. Princess stupste ihn an.
Dunja ließ ihn kurz gewähren, dann legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. Schweigend führte sie ihn aus dem Stall heraus, verriegelte die Tür und ließ den Schlüssel in die Tasche ihrer Strickjacke gleiten.
"Komm", forderte sie ihn sanft auf.
Sie bewohnte zwei kleine Zimmer über dem Reiterstübchen. Still glitten die blauen Augen des Jungen durch die Wohnstube.
"Kann ich vielleicht hier schlafen?", fragte er. Dunja goss kopfschüttelnd Milch in einen Topf, nahm das Kakaopulver aus dem Schrank.
"Was ist denn los?", wollte sie wissen. Der Junge zuckte mit den Achseln. Aber Dunja konnte ihm ansehen, dass er Kummer hatte. Dafür war sie immerhin lang genug in ihrem Beruf. Hatte jeden Tag mit Kindern zu tun. Auch mit Kindern, die ein wenig mehr Aufmerksamkeit benötigten. Einige der Pferde, darunter Princess, waren zusätzlich ausgebildet und geeignet für das therapeutische Reiten.
"Hast du Ärger Zuhause oder in der Schule?", fragte sie weiter. So weit sie wusste war er ein guter Schüler, gerade in die zweite Klasse gekommen, hätte durchaus eine überspringen können. Sie wusste aber auch, dass er schon viel mitgemacht hatte in seinem jungen Leben. In den letzten Jahren war viel Ruhe eingekehrt, die Familie wirkte stabil. Geschwisterkinder waren dazugekommen. Die er sehr liebte, viel über sie erzählte, aber es war natürlich eine Umstellung.
"Mama ist nicht da", erklärte er. Davon hatte Dunja gehört. Im Moment waren Vater und Sohn allein.
"Das ist nicht schön", meinte sie und behielt die Milch im Blick. Ihr entging aber auch das traurige Nicken des Jungen nicht.
"Papa hat deswegen schlechte Laune", erzählte er weiter.
"Vielleicht ist er auch einfach nur traurig", regte Dunja an. Sie kannte den Vater gut.
"Ich weiß, aber er ist einfach total blöd und unfair."
Dunja nahm die kochende Milch vom Herd und rührte den Kakao an.
"Was hat er denn gemacht?", erkundigte sie sich, reicht dem Jungen die Tasse. "Vorsichtig, ist heiß", mahnte sie und deutete auf einen Sessel. Pustend setzte sich das Kind, starrte kurz auf den Boden.
"Ich darf gar nichts. Dauernd verbietet er Sachen. Und nie hat er Zeit. Er hat mir versprochen, dass wir Klettern gehen. Dass wir im Zelt schlafen. Im Garten, weißt du? Das ist so gemein. Dann muss er weg und ich darf nicht mal bei Simon schlafen, sondern bei Oma und Opa. Und heute wollte er gucken kommen, weil ich doch für das Turnier übe, aber da hat er vorhin gesagt, dass er es nicht schafft."
Neben dem offensichtlichen Trotz und der Unverständnis erkannte Dunja ein paar kleine Tränen. Tapfer nippte der kleine Mann an seinem Kakao.
"Hast du deinem Papa gesagt, dass du das blöd findest?", fragte Dunja. Kopfschüttelnd setzte der Junge die Tasse ab. Ein niedlicher Schokoladenmund zierte jetzt das Gesicht.
"Ne. Dann ist er noch trauriger", murmelte er.
"Meinst du nicht, dass ihn das jetzt nicht auch traurig macht? Bestimmt hat er auch Angst, weil du nicht nach Hause gekommen bist", meinte Dunja. "Hast du gehofft, dass er dann von sich aus merkt, dass er was falsch gemacht hat, und sich dann mehr Zeit nimmt?"
Verlegen sah der Junge zur Seite, nickte.
"Ach, David", seufzte Dunja. "Ich habe eine Idee. Was hältst du davon, wenn ich ihn jetzt anrufe und mit ihm spreche? Soll ich ihn fragen, ob du diese Nacht hier bleiben und mir morgen früh zur Hand gehen darfst?"
"Echt?" Erstaunt ruhten die blauen Augen Davids auf ihr.
"Echt", bestätigte Dunja. "Möchtest du solange zu den Ponys? Die sind noch draußen", meinte sie. Begeistert sprang David auf.
"Darf ich Dixie noch was geben?", fragte er eifrig. Er liebte das kleine stämmige Pony, auf dem er seine ersten Reitversuche unternommen hatte, sehr.
"Einen Apfel, mehr nicht", antwortete Dunja und sah ihm nach, als er die Trepper herunterlief.
Schon nach dem ersten Klingeln erreichte sie seinen Vater. Atemlos hatte der sich gemeldet und er fragte prompt, ob sie David noch gesehen hätte.
"Dein Ausreißer ist hier, ja. Ich habe ihn im Stall aufgegabelt, als er sich ein Nachtlager einrichten wollte." Sie hörte ein erleichtertes Ausatmen.
"Ich bin sofort da. Ist er okay?"
"So weit. Er würde gerne hier bleiben, mir morgen früh helfen. Mir macht das keine Umstände, zumal er alles dabei hat, was er braucht, sogar seine Zahnbürste." Dunja hatte schmunzelnd den Rucksack geöffnet, ein Stofftier, den Schlafanzug und die besagte Zahnbürste oben auf entdeckt. Ein Zögern. Verständlich. "Weißt du, er ist ein wenig böse auf dich. Das geht vorbei. Lass mich helfen. Und du kommst morgen früh auch dazu, das wird ihm gefallen", schob sie milde nach.
"Es ist gerade nicht so leicht", kam es entschuldigend.
"Für euch beide nicht", stimmte Dunja zu.
"Na gut", willigte er ein. "Aber wenn was ist, dann ruf an."
Sie versprach es ihm.
Gemeinsam mit David versorgte Dunja nach dem Telefonat die Ponys, dann schickte sie den Jungen ins Badezimmer und richtete ihm einen Schlafplatz auf dem bequemen Sofa. Sie sprachen über die Situation, die Sorgen des Jungen, über das, was er gerade nicht verstand. Sie hörte vor allem zu, bis er eingeschlafen war. Und am nächsten Morgen konnte sie sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen, als David seinen Vater herzlich und liebevoll umarmte.