Start: 18:30 Uhr
Ende: 19:26 Uhr
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Fluchend leuchtete der junge Mann mit der Taschenlampe den Weg ab. Aber bei dem dichten Nebel half der Schein nicht wirklich weiter, maximal zwei Schritte Sicht. Dazu war es dunkel geworden. Nur ab und an kam der eigentlich helle Vollmond gegen die Verhältnisse an. Vorsichtig ging er weiter. Zum Glück kannte er den Weg gut, wie seine Westentasche. Umso näher er dem See aber kam, umso schwieriger wurde es. Im Grunde konnte man den Trampelpfad auch nicht wirklich einen Weg nennen. Er wusste, dass überall Wurzeln und Steine lauerten, dazu das viele Laub.
Konzentriert ging er weiter, orientierte sich am Ufer. Noch eine Biegung, dann hätte er sein Ziel erreicht. Mit etwas Glück würde er dort finden, was er suchte. Beziehungsweise, wen er suchte. Wessen er überhaupt unterwegs war. Innerlich schimpfte er vor sich hin. An und für sich säße er jetzt lieber mit seinen Kumpels in der Dorfkneipe. So wie es ausgemacht gewesen war. Doch er hatte die Bitte seiner Mutter nicht abschlagen können. Und außerdem konnte er nicht aus seiner Haut. Es war so eine Sache, diese Verantwortung. Der man sich nur ganz schlecht entziehen konnte. Auch, wenn man seit einem Jahr nicht mehr Zuhause wohnte und allenfalls an den Wochenende her kam. Man blieb ja Teil der Familie. Zwar bekam man die täglichen Dramen nicht mehr mit, aber berichtet wurden sie ihm ja doch. Es war zudem nicht so, dass er nicht fragte. Er wollte ja wissen, wie es daheim lief. Jetzt, wo er eben nicht mehr da war.
Endlich erkannte er die Lichtung und atmete auf. Kleine Luftwölckchen entstanden. Trittsicher ließ er das Ufer nun hinter sich, erkannte schemenhaft die Umrisse des Bootshauses. Irgendwo gab ein Käuzchen einen Laut von sich. Gespenstisch, dachte er. Zum Glück war er kein schreckhafter Typ. Horrorfilme fand er allenfalls witzig und sie boten eine gute Gelegenheit, im Kino den Arm um die Schultern eines hübschen Mädchens zu legen. Seufzend sah er sich um, der Lichtkegel erreichte den Fuß des Hochsitzes, seinem Ziel. Mehr aber konnte er nicht ausmachen. Langsam ließ er den Lichtschein an der Leiter nach oben wandern.
"Bist du da oben?", rief er auf gut Glück. Auf lange Diskussionen hatte er wirklich keine Lust. Es kam keine Antwort, aber konnte hören, dass sich etwas bewegt hatte. Nun leuchtete er die Luke direkt an. "Keine Mätzchen. Komm runter, ich bring dich nach Hause", meinte er streng. Samthandschuhe waren aus seiner Sicht unangebracht, egal was seine Mutter gesagt hatte. Außerdem blieb ihnen nicht viel Zeit, sollte der Vater nichts mitbekommen. Und zu guter Letzt wollte er selbst noch was von diesem Abend haben, besser spät als gar nicht auf seine Freunde treffen.
Es tat sich nichts und Martin schüttelte verärgert den Kopf. Manchmal, oder vielleicht auch ein bisschen öfter, würde er seinen jüngeren Bruder wirklich gerne schütteln.
"Nun stell dich nicht so an. Falls Anna bei dir ist, kein Thema. Ich fahre auch sie nach Hause. Also auf jetzt!"
Wer wusste schon, warum sich die beiden dauernd hier trafen. Martin hatte da so seine ganz eigene Theorie. Aber bei der nassen Kälte konnte das in seinen Augen kein gemütliches Schäferstündchen sein.
"Ich bin allein", kam es von oben. Zögerlich. Unsicher. Oder war es das schlechte Gewissen, dass seinem Bruder den traurigen Unterton verpasste?
Martin schwenkte das Licht in Richtung der Stimme.
"Komm runter. Mama ist kurz davor, dir einen Suchtrupp auf den Hals zu hetzen."
"Ist Papa Zuhause?", wollte der Jüngere wissen.
"Noch nicht. Und wenn du deinen Hintern jetzt endlich runter bewegst, besteht die Chance, dass er es auch noch nicht ist, bis ich dich abgeliefert habe", argumentierte Martin. Wobei er die Ängste nicht nachvollziehen konnte. Sein Vater war weder besonders streng, noch nachtragend. Er konnte es nur nicht leiden, wenn man sich nicht an Abmachungen hielt. Da Jan Hausarrest hatte, warum genau wusste Martin nicht, drohte also Ungemach. Vermutlich hatte sein Bruder dies auch verdient. Er war sowieso der Auffassung, dass die Eltern ihm zu viel durchgingen ließen. Schließlich war es nicht so schwer, sich an ein paar Regeln zu halten. Hatte er im gleichen Alter auch gemusst und es hatte ihm nicht geschadet.
Endlich erschien ein Schuh auf der Leiter. Bei den letzten Metern half Martin nach, bis Jan endlich unten angekommen war. Er reichte ihm den Pulli, den er vorsichtshalber mitgenommen hatte. Es war kalt geworden und der Hochsitz nicht sonderlich geschützt.
"Was machst du überhaupt hier?", fragte er dann, ehe er ihn sacht in die Richtung stieß, aus der er gekommen war. "Und wieso bist du nicht einfach losgelaufen, als es dunkel wurde?"
Er leuchtete seinem Bruder direkt ins Gesicht.
Der senkte den Blick, wie so oft. Martin zuckte die Schultern. Klar, die Pubertät war eine schwierige Zeit. Aber die Verschlossenheit und der Trotz Jans waren wirklich eine andere Hausnummer. Dazu diese Wutanfälle, die laut seiner Mutter ebenfalls zugenommen hatten. Hätte er was zu sagen, er würden den Kontakt zu diesem seltsamen Mädchen unterbinden. Seit Anna da war, tanzte Jan den Eltern auf der Nase herum; machte, was er wollte.
"Na gut, dann nicht", meinte er. Er ließ Jan voran gehen, versuchte wie auf dem Hinweg den Weg aus zu leuchten. Der Nebel gab kaum nach und sie brauchten eine gefühlte Ewigkeit, bis sie den Parkplatz erreichten. Dort stand der Golf, den sich Martin zugelegt hatte. Erst beim Einsteigen sah er, wie sehr der Bruder fror und dass er Kratzer im Gesicht hatte. Von der Rückbank fischte er eine Decke und warf sie ihm zu. Wortlos startete er den Motor und fuhr sehr langsam zur Ausfahrt. Auf der Fahrt musste er sich konzentrieren, vergaß seinen Beifahrer beinahe. Noch unterwegs entschied er, dass er gleich zu Fuß zur Kneipe gehen würde.
Als sie das Wohnhaus erreichten, stand auch des Vaters Wagen vor der Tür. Martin sah neben sich, Jan hatte die Lippen trotzig zusammen gepresst. Er rührte sich nicht, als Martin aussteigen wollte.
"Komm, er wird dir schon nicht den Kopf abreißen", meinte er aufbauend.
"Du könntest sagen, dass wir noch zusammen unterwegs waren", meinte Jan mit einem flehenden Blick.
"Lügen sind keine gute Idee. Sie finden es sowieso heraus. Also stell dich der Standpauke", gab Martin zurück.
Beinahe erschrak er, als Jan die Beifahrertür aufriss und entgegengesetzt des Wohnhauses im Nebel verschwand. Martin hörte noch, wie eine Tür zugeschlagen wurde. Er hatte genug davon. Der Rest war Thema der Eltern. Er war nicht das Kindermädchen seines Bruders. Schon im Flur kam ihm die Mutter mit besorgtem Gesicht entgegen, dahinter der Vater. Der sah eher grimmig aus. Martin nickte und legte seinen Autoschlüssel auf die Kommode.
"Er ist in der Werkstatt und traut sich nicht rein", sagte er und seine Mutter atmete aus. "Ich bin dann weg", fuhr Martin fort und sah dann seinen Vater an. Kurz überlegte er, sah zu, wie der in seine Jacke schlüpfte und den Ersatzschlüssel des Nebengebäudes vom Haken nahm. Nein, in Jans Haut wollte er nicht stecken. Denn laut konnte der Vater durchaus werden. Doch hier und da wusste er gar nicht, ob das seinen Bruder überhaupt erreichtem. Denn manchmal, da kam es ihm so vor, als wäre der in seinem ganz eigenen Nebel.