2. Erste Hilfe
Der Mann in den ausgeblichenen, zerrissenen Jeans und dem schmutzigen, schwarzrot karierten Arbeitshemd saß mit lässig ausgestreckten Beinen auf einer ziemlich schäbig aussehenden, grauen Decke. Mit locker vor der Brust verschränkten Armen lehnte er bequem an der schattigen Hauswand und blickte offensichtlich ungerührt unter seinem tief ins Gesicht gezogenen Basecap der Los Angeles Dodgers hervor, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Zumindest bildete ich mir ein, dass er mich ansah, denn seine Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Aber seine gesamte Haltung wirkte absolut nicht so, als würde er bedauern, dass ich seinetwegen gerade lang hingeschlagen war. Im Gegenteil, es schien ihn sogar zu amüsieren, denn ich bemerkte, wie seine Mundwinkel inmitten der ziemlich ungepflegt aussehenden Dreitagebart-Stoppeln verdächtig zuckten.
Neben ihm lagen zwei große Plastiktüten mit dem Label einer bekannten Supermarkt-Kette, randvoll gefüllt mit irgendwelchen Sachen, die er sein eigen nannte. Gleich daneben türmte sich ein beachtlicher Berg unordentlich zusammengeknüllter Kleidung. Davor befand sich, gut sichtbar, ein alter abgegriffener Schlapphut, in den mitleidige Passanten im Vorübergehen bereits einige Münzen geworfen hatten. Anscheinend hatte sich „Mister Obdachlos“ hier an dieser Stelle häuslich eingerichtet.
„Was zum Teufel glauben Sie eigentlich, was Sie da tun?“, herrschte ich den Mann ungehalten an, während ich vorsichtig mein Knie betastete, das zu allem Überfluss nun auch noch zu bluten begonnen hatte.
„Ich sitze hier“, erwiderte der Mann ungerührt.
„Was Sie nicht sagen!“, keifte ich wutentbrannt. „Hätten Sie gestanden, wäre ich bestimmt nicht gestürzt!“
„Hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen gehabt“, bekam ich prompt zur Antwort, und nun zuckten die Mundwinkel meines Gegenübers unübersehbar deutlich nach oben.
Ich glaubte platzen zu müssen.
„Sie… Sie sind…“
„Nun mal langsam, Lady!“, knurrte er drohend, was mich zumindest dazu veranlasste, den Rest meiner Worte herunterzuwürgen. Als einzige Reaktion seinerseits hob er beschwichtigend die eine Hand. „Ich weiß wirklich nicht, warum Sie sich so künstlich aufregen! Ich habe niemanden belästigt und wollte nur ein Nickerchen halten, bevor Sie wie eine Wilde um die Ecke geschossen kamen und mir in die Beine getreten sind.“
„Ich… Ihnen?“, protestierte ich wütend und wies anklagend auf mein schmerzendes Knie, das wie Feuer brannte. „Sehen Sie, was Sie angerichtet haben? Das ist ganz allein Ihre Schuld!“
„Bin untröstlich“, erwiderte der Mann, dessen Alter aufgrund seines ungepflegten Aussehens nicht einmal annähernd zu erahnen war, ungerührt und schob sein Basecap ein paar Millimeter nach oben. „Der liebe Gott hat Ihnen Augen geschenkt, Lady, und hätten Sie die benutzt, dann würden Sie jetzt nicht hier stehen und ein Spektakel veranstalten, dass mir die Ohren klingen.“
Das war doch wohl die Höhe!
Ich holte tief Luft, um etwas zu erwidern, als ich direkt neben dem Obdachlosen plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Erstaunt bemerkte ich, wie sich der Haufen aus unordentlichen Sachen zu bewegen begann. Kurz darauf kam eine braune Hundeschnauze daraus zum Vorschein.
Der Mann folgte meinem Blick und hob missbilligend die Hände.
„Gratuliere, jetzt haben Sie ihn mit Ihrem Gebrüll aufgeweckt. Dabei brauche ich ihn nachher munter und ausgeschlafen!“ Er rülpste ungeniert und wandte sich an das Objekt meines Erstaunens. „Na los, komm schon raus, Jad, die tut nix, die zetert nur!“
Ungeachtet dieser Frechheit stand ich reglos da und blickte beeindruckt auf einen großen, schwarzbraunen Schäferhund. Ein wunderschönes Tier, das mich mit seinen intelligenten, bernsteinfarbenen Hundeaugen aufmerksam musterte.
„Hier, nehmen Sie!“, riss mich der Mann aus meinen Gedanken und hielt mir ein zerknautschtes Kleenex hin, welches er soeben aus der unergründlichen Tiefe einer seiner Hosentaschen gezerrt hatte. Ungeduldig wies er damit auf mein blutendes Knie.
„Danke. Ich habe selber welche“, erwiderte ich abweisend.
In diesem Augenblick erinnerte ich mich erschrocken an meinen Rucksack, dessen Inhalt sich während des unfreiwilligen Fluges über den gesamten Gehweg verteilt hatte. Die Schmerzen im Knie ignorierend lief ich hin, bückte mich und sammelte hastig meine Habe ein.
Der Mann brummte etwas Unverständliches und steckte das Tuch wieder weg.
„Jad!“, wandte er sich an seinen Hund und wies mit einer Kopfbewegung in Richtung der Broschüre, die ein paar Meter entfernt am Boden lag. „Na los, mach schon!“
Gehorsam erhob sich der Hund und tat, was sein Herr ihm befohlen hatte. Mit der Broschüre im Maul ließ er sich kurz darauf vor mir nieder und sah mich abwartend an.
Ich hielt mit meiner Sammelaktion inne, denn ich hatte etwas bemerkt, was mich momentan viel mehr interessierte. Langsam streckte ich meine Hand aus.
„Hey mein Freund“, sagte ich so ruhig wie möglich und nahm ihm das Heft vorsichtig ab. „Du bist aber ein Feiner.“ Der Hund blieb bewegungslos vor mir sitzen, und ich sah, dass er die linke Vorderpfote in einer Schonhaltung etwas angehoben hatte. Vorsichtig strich ich ihm übers Fell. Als ich merkte, dass er nicht zurückwich, begann ich ihn leicht zwischen den Ohren zu graulen.
„Lassen Sie das!“, knurrte sein Besitzer sogleich und richtete sich aus seiner lässigen Haltung auf. „Er mag das nicht.“
Als wäre nicht ich, sondern er selbst getadelt worden, erhob sich der Hund sofort und blickte sich abwartend nach seinem Besitzer um.
„Das scheint mir aber gar nicht so“, entgegnete ich schnippisch und blinzelte den Mann im karierten Hemd herausfordernd an. „Er humpelt. Was ist passiert?“
„Keine Ahnung“, brummte dieser abweisend. „Hat vorhin erst damit angefangen, als wir hier ankamen.“
Ich beachtete ihn nicht weiter, sondern konzentrierte mich auf den Hund, dessen braune Augen mich wieder unverwandt anblickten. „Jad… so heißt du doch… na komm, lass mich mal sehen!“
„Machen Sie, dass Sie weiterkommen, Lady, und kümmern Sie sich um sich selbst!“, tönte sofort die unfreundliche Stimme seines Besitzers. „Bei Fuß, Jad!“
Sofort erhob sich der Hund und trottete gehorsam zu seinem Schlafplatz zurück.
So leicht ließ ich mich jedoch nicht abweisen. Schon gar nicht, wenn es sich um ein verletztes Tier handelte. Meine eigenen Schmerzen in dem verletzten Knie ignorierend folgte ich dem Hund, legte Rucksack und Broschüre ab und hockte mich erneut vor ihm nieder.
„Hab keine Angst, Jad, lass mich mal deine Pfote sehen.“
Jad wandte sich zum wiederholten Mal seinem Herrn zu, als wolle er ihn um Erlaubnis fragen, doch der lachte nur höhnisch.
„Hab keine Angst, Jad…“, äffte er mich ungeniert nach und maß mich über den Rand seiner Brille hinweg verächtlich von oben bis unten. „Ein Früchtchen wie Sie frisst der zum Frühstück!“
„Das mag ja sein“, erwiderte ich und zwang mich des Hundes wegen zur Ruhe. „Aber momentan ist ihm ganz sicher nicht nach Fressen zumute, denn jeder Schritt, den er tut, bereitet ihm anscheinend höllische Schmerzen.“
Der Obdachlose schien noch einen Moment lang zu zögern, dann jedoch stand er umständlich auf und tätschelte seinem Hund den Kopf.
„Na los, tu was die Lady sagt. Sitz!“
Gehorsam, als wüsste er, dass ich ihm helfen wollte, ließ Jad sich nieder und hob die linke Vorderpfote. Vorsichtig ergriff ich sie und besah sie mir genau von allen Seiten. Er ließ es geschehen und winselte leise, als ich mit meinem Finger leicht über die Unterseite der Pfote strich.
„Was tun Sie denn da?“, knurrte der Mann, der uns keine Sekunde lang aus den Augen ließ.
„Wonach sieht es denn aus?“, erwiderte ich abweisend und besah mir die Unterseite der Pfote genauer. „Tja, mein Freund, so etwas hatte ich fast schon vermutet. Das da ist es, was dich ärgert, stimmt’s?“ Wie zu meiner eigenen Bestätigung nickte ich. „Warte einen Augenblick, Jad. Gleich kannst du wieder richtig auftreten.“
„Was soll das jetzt hier werden?“, knurrte der Obdachlose ungeduldig und kratzte sich ungeniert seinen Dreitagebart, während er mich nach wie vor argwöhnisch beobachtete. „Helfen Sie ihm nun, oder wollen Sie ihm vielleicht nur die Hand auflegen? Am besten machen Sie, dass Sie weiterkommen und lassen Sie uns in Frieden!“
Ich ignorierte seine Bemerkung und richtete mich langsam auf.
„Haben Sie eine Pinzette?“
„Eine… was?“
„War ja klar“, grummelte ich, mehr zu mir selbst, und verdrehte genervt die Augen. „Eine Pinzette! So ein kleines Ding, mit dessen Hilfe man…“
„Ich bin nicht blöd, Lady!“, unterbrach er mich ungehalten und schnaufte wütend. „Sorry, nein, so ein Ding habe ich gerade nicht dabei, hier in meinem Luxus-Appartement!“
Ich wollte nicht mit ihm streiten. Es ging mir einzig und allein darum, diesem wunderschönen und überraschend gut erzogenen Hund zu helfen.
„Okay, warten Sie hier. Ich bin gleich zurück.“
Ich raffte meinen Rucksack auf, strich Jad, der mich mit seinen Bernsteinaugen erwartungsvoll anblickte, noch einmal übers Fell und humpelte, ungeachtet der brennenden Schmerzen in meinem Knie, einen Block zurück, wo ich vorhin auf meiner Suche nach der Tourist-Information an einer Drogerie vorbeigekommen war.
Als ich Minuten später zurückkehrte, saß der Mann erneut auf seiner Decke, diesmal allerdings mit angezogenen Beinen. Den Arm liebevoll um den Hund gelegt, der sich neben ihm niedergelassen hatte, blickte er argwöhnisch unter seinem abgegriffenen Basecap hervor, als er mich bemerkte. Jetzt, nachdem er die Brille abgelegt hatte, glaubte ich, ganz kurz so etwas wie Erstaunen in seinen dunklen Augen aufleuchten zu sehen. Anscheinend hatte er nicht damit gerechnet, dass ich zurückkommen würde.
Mein Knie zierte ein großes Pflaster, das mir der freundliche Drogist sehr dienstbeflissen und höchstpersönlich über die Wunde geklebt hatte. Ich spürte den Schmerz zwar noch immer, fühlte mich jedoch bedeutend wohler, nachdem mir das Blut nicht mehr am Schienbein hinunterlief.
„Na komm, jetzt kann ich dir helfen“, wandte ich mich an den Hund, ließ mich vor ihm nieder und kramte die neu erworbene Pinzette aus der Verpackung.
„Hey... Was haben Sie vor?“, fragte der Mann misstrauisch. Dennoch schien er endlich zu kapieren, dass ich wirklich nur helfen wollte, denn er schob das Basecap etwas zurück und richtete sich auf. „Sie können doch gar nicht wissen, was mit seiner Pfote los ist!“
„Er hat sich etwas eingetreten. Ich werde es entfernen. Das ist schon alles“, erwiderte ich und streichelte das Tier beruhigend. „Jad, sei brav und zeig mir nochmal deine Pfote.“
Obwohl er den Sinn meiner Worte genau verstanden hatte, sah der Hund wieder zuerst seinen Herrn an, und erst, als dieser zustimmend nickte, hob er bereitwillig die schmerzende Pfote.
„Halten Sie ihn einen Moment“, forderte ich den Mann auf. Er musterte mich argwöhnisch.
„Sind Sie sicher, dass Sie…“
„Festhalten!“
Widerstrebend rappelte er sich auf, stützte sich auf seine Knie und nahm seinen Hund in den Arm.
„Na komm, mein Alter, lass sie mal machen.“ An mich gewandt knurrte er leise, aber drohend: „Tun Sie ihm bloß nicht weh!“
„Das habe ich nicht vor. Heute sollte sich niemand von uns mehr wehtun!“
Ein gezielter Griff, ein kurzes Winseln, ein fester Ruck, und ich hielt das Ärgernis in Form einer winzigen Glasscherbe mit der Pinzette nach oben. „Na also. Das war schon alles.“
„So was“ Verblüfft richtete der Mann sich auf und starrte ungläubig erst auf die Pinzette, dann auf mich. „Wie zum Teufel haben Sie so schnell…“
Ich ignorierte ihn und kramte stattdessen ein ebenfalls in der Drogerie erworbenes Hundeleckerli aus dem Rucksack.
„Du warst brav, Jad. Hier, das hast du dir verdient.“
Auch dieses Mal wartete der Hund erst die Erlaubnis seines Herrn ab, bevor er die Belohnung annahm.
„Er ist erstaunlich gut erzogen. Das ist nicht etwa Ihr Verdienst?“, fragte ich in sarkastischem Tonfall, während ich noch einmal Jads weiches Fell streichelte.
„Natürlich! Was glauben Sie denn?“
Ich sah auf, und unsere Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Mir fiel auf, dass ich ihn auf Grund seiner äußeren Erscheinung um einiges älter geschätzt hatte. In Wahrheit mochte er wohl höchstens Mitte oder Ende Dreißig sein. Das Haar unter seinem Basecap war kurz und widerspenstig und nach einer gründlichen Haarwäsche vermutlich von einem satten Dunkelbraun. Seine Augen unter den dichten, dunklen Brauen blinzelten neugierig, und als für einen kurzen Augenblick der Anflug eines Lächelns über sein schmutziges, aber sehr markantes Gesicht huschte, bildeten sich kleine Lachfältchen in den Augenwinkeln, die ihm eine nicht geahnte Attraktivität verliehen. Bruchteile von Sekunden später wich dieses Lächeln jedoch erneut einem spöttischen Grinsen.
„Das hätten Sie einem Penner wie mir wohl nicht zugetraut, wie?“
„Nein“, gab ich unumwunden zu, richtete mich auf und reichte ihm eine kleine Sprayflasche. „Desinfizieren Sie seine Pfote. Danach dürfte er keine Probleme mehr haben.“
Der Mann nahm die Flasche entgegen, warf einen kurzen Blick auf das darauf befindliche Etikett und nickte dann mit leicht geschürzten Lippen.
„Tja also… die Sache mit dem Knie tut mir leid.“
„Ja, mir auch“, erwiderte ich kurz angebunden, beugte mich herunter und strich dem Hund, der mich mit seinen großen Augen unverwandt ansah, zum Abschied über den Kopf. „Pass gut auf dich auf, mein Freund.“
„Ähm… danke“, brummte sein Besitzer unwillig, als sei er nicht daran gewöhnt, sich bei jemanden für irgendetwas bedanken zu müssen.
Ich deutete auf Jad.
„Schon gut. Ich habe es für ihn getan.“
Ohne mich noch einmal umzudrehen, ging ich schnell davon. So konnten die beiden die heißen Tränen nicht sehen, die mir erneut in die Augen schossen, weil mir plötzlich wieder mit aller Härte klar wurde, was ich wirklich alles in Irland zurückgelassen hatte.