30. Geheimnisse
Es war mitten in der Nacht, als das Telefon zu läuten begann. Der Festanschluss von Deans Villa befand sich unten in der Halle, doch es waren mindestens drei dazugehörige Handy-Stationen im Haus verteilt. Eine davon befand sich in Deans Arbeitszimmer, eine in der Küche, und das Handy der dritten Station aus der oberen Etage hatte ich in der vagen Hoffnung, dass Dean vielleicht irgendwann anrief, mit auf mein Zimmer genommen.
Durch das Klingeln jäh aus dem Tiefschlaf gerissen fuhr ich hoch und blinzelte auf das digitale Ziffernblatt des Weckers.
Ein Uhr nachts!
„Ja?“, ächzte ich verschlafen in den Hörer, und meine Stimme klang in diesem Augenblick selbst mir völlig fremd.
„Wo zum Teufel hat sich dieses Miststück versteckt?“, bellte eine mir unbekannte Männerstimme schonungslos in mein Ohr. „Sag mir die Wahrheit, Celia, ist das verdammte Luder mit dem Bengel bei euch untergekrochen?“
„Hallo?“, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach, in der Annahme, der offensichtlich sehr wütende Anrufer hätte sich nur verwählt.
„Celia!“, schnaufte der Anrufer ungeduldig. „Hat es dir die Sprache verschlagen?“
„Ähm…“, begann ich zögernd, wurde jedoch sofort in sehr ungehaltenem Ton unterbrochen.
„Mein Gott, bist du taub? Hier spricht Maxwell Cooper! Hol mir sofort meinen Sohn ans Telefon!“
Schlagartig war ich wach.
Der unbekannte Anrufer war… Deans Vater?
Aber wieso rief dieser garstige alte Bastard hier an? Dean hatte mir doch erzählt, dass der Kontakt zwischen ihm und seinem Vater nach dessen Auszug fast völlig abgebrochen war.
„Er ist nicht da“, sagte ich in eisigem Ton und hatte meine Stimme endlich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Einen Augenblick war es still am anderen Ende der Leitung, so das sich zuerst dachte, Cooper Senior hätte wortlos wieder aufgelegt, doch dann hörte ich erneut seine unangenehm herrische Stimme.
„Wer zum Teufel sind Sie?“
„Auf jeden Fall bin ich nicht Celia“, erwiderte ich schnippisch, nicht bereit, mich von ihm einschüchtern zu lassen. „Was wollen Sie, Mister Cooper?“
„Das werde ich Ihnen ganz sicher nicht auf die Nase binden!“
„Okay, dann werde ich Ihnen auch nicht auf die Nase binden, wer ich bin.“ Dito! Trotzdem setzte ich sicherheitshalber noch einen drauf. „Und unterlassen Sie bitte künftig ihre mitternächtlichen Anrufe.“
„Es ist elf Uhr mittags!“, schnaufte er empört.
„Mag sein, dass es bei Ihnen jetzt gerade Mittag ist, wo auch immer Sie sind, aber bei uns in Kalifornien ist es eine Stunde nach Mitternacht. Eine unchristliche Zeit, um Leute mit unhöflichem Gebrüll aus dem Bett zu werfen.“
„Ich rufe aus Kapstadt an.“
„Selbst wenn Sie vom Südpol aus anrufen, sollten Sie sich vorher über die Zeitzonen der Mutter Erde informieren.“
Er knurrte irgendetwas, das verdächtig nach „bitch“ klang.
„Wie bitte?“, fragte ich lauernd.
„Ist er da?“
„Nein, das sagte ich ihnen doch bereits.“
„Dann geben Sie mir Celia! Es ist dringend!“
„Ich werde Celia um diese Zeit ganz sicher nicht aufwecken. Es sei denn, es ist jemand gestorben, verunglückt oder in Lebensgefahr! Also?“
Ich hörte, wie er wütend schnaufte, und grinste zufrieden. `Oh nein, Mister Cooper Senior, mich werden Sie nicht herumkommandieren, so wie Sie das mit allen anderen hier immer getan haben!`
„Verdammt… Wer sind Sie?“, wiederholte er schließlich mit vor Wut bebender Stimme.
„Nennen Sie mich Deans Schutzengel. Gute Nacht, Sir!“
Voller Genugtuung legte ich auf und hoffte, dass der alte Tyrann am anderen Ende der Leitung vor Wut platzen möge.
Einen Moment lang hielt ich das Telefon noch unschlüssig in der Hand, da ich befürchtete, er würde sofort den nächsten akustischen Angriff starten, doch anscheinend hatte ich ihn derart schockiert, das er vorerst aufgab.
Nachdenklich starrte ich auf das bereits wieder erloschene Display des kleinen Handys.
Wieso rief Cooper Senior plötzlich nach all den Jahren hier an?
Mir fiel wieder ein, was er zu Anfang gesagt hatte, als er mich versehentlich für Celia hielt: „Wo zum Teufel hat sich dieses Miststück versteckt? Sag mir die Wahrheit, Celia, ist das verdammte Luder mit dem Bengel bei euch untergekrochen?“
Sprach er etwa von seiner derzeitigen Frau, Deans Ex-Freundin Rebecca? Und mit dem Bengel meinte er dann sicher den gemeinsamen kleinen Sohn, von dem er mir erzählt hatte.
Waren die beiden am Ende abgehauen?
Aus einem Impuls heraus versuchte ich Dean auf seinem Handy anzurufen, doch es meldete sich nur die Mailbox. Er war, wie so oft, mal wieder nicht erreichbar.
Was, wenn seine Ex morgen früh vielleicht mit Kind und Koffer hier vor der Tür stand, so wie der alte Cooper das eben am Telefon vermutet hatte?
Bei diesem Gedanken wurde mir ganz schlecht.
An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Ich lag wach bis in die Morgenstunden, wälzte mich unruhig von einer Seite auf die andere und stand schließlich auf, noch bevor die Sonne aufgegangen war. Nach dem Duschen schlüpfte ich in einen bequemen Jogginganzug und schaffte es an diesem Morgen tatsächlich, einmal vor Celia unten in der Küche zu sein.
Ein paar Minuten später erschien sie jedoch bereits fertig angezogen und in ihrer unvermeidlichen Granny-Schürze und sah mich überrascht an.
„Was ist denn los, Liebes? Konntest du nicht mehr schlafen?“
„Nein, nicht wirklich. Jemand hat mich unsanft geweckt.“
„Wieso? Ist Dean nach Hause gekommen?“
„Dann würde ich ganz sicher nicht von unsanft sprechen“, erwiderte ich grinsend und sie lachte.
„Nein, sicher nicht. Hast du etwa schlecht geträumt?“
„Maxwell Cooper hat aus Kapstadt angerufen“, erklärte ich ohne weitere Umschweife. „Er wollte zuerst dich und dann Dean sprechen, aber im Grunde wollte er nur wissen, ob ein gewisses Miststück mit dem Bengel sich hier versteckt hält. Dreimal darfst du raten, wer mit dieser wenig schmeichelhaften Umschreibung gemeint war.“
„Dios mio!“ Celia bekreuzigte sich und riss die Augen derart weit auf, dass ich Angst hatte, ihre Augäpfel würden gleich in die Tasse fallen, die sie eben aus dem Schrank genommen hatte. „Waas?“
„Setz dich, Celia, bevor du mir am Ende noch in Ohnmacht fällst.“ Ich nahm ihr die Tasse aus der Hand und stellte sie unter den Kaffeeautomaten.
Zu meinem Erstaunen befolgte sie meinen Rat sogar und ließ sich auf einen der gepolsterten Küchenstühle sinken.
„Mister Cooper hat hier angerufen? Erzähl mir alles, was genau hat er gesagt?“
„Ich sollte dich ans Telefon holen. Daraufhin haben wir beide ein kurzes, aber sehr interessantes Gespräch über die verschiedenen Zeitzonen der Erde geführt.“
„Und?“
„Nichts. Vermutlich war er danach zu wütend, um noch irgendetwas zu sagen.“
Plötzlich zog ein zufriedenes Grinsen über Celias rundes Gesicht.
„Bravo, Chica! Du hast ihm die Stirn geboten!“
„Aber nein“, widersprach ich milde lächelnd und zwinkerte ihr schelmisch zu. „Ich habe mich nur nicht von ihm herumkommandieren lassen.“
Der Kaffee war durchgelaufen und ich reichte Celia die Tasse mit dem duftenden schwarzen Gebräu, die sie dankend annahm. Während ich bereits die nächste vorbereitete, wagte ich jene Frage, die mich seit dem nächtlichen Anruf am meisten beschäftigte. „Und was tun wir, wenn sie wirklich hier auftaucht?“
„Wer? Rebecca?“, fragte die Haushälterin, obwohl sie unter Garantie genau wusste, von wem die Rede war. „Oh, das wird sie nicht wagen!“
„Vielleicht doch“, mutmaßte ich stirnrunzelnd. „Falls sie ihren Mann verlassen hat und mit ihrem Jungen einfach abgehauen ist, dann muss sie irgendwo hin, wo er sie nicht finden kann.“
„Das ist wohl wahr.“ Celia wiegte dennoch skeptisch den Kopf. „Aber in dem Fall ist dieses Haus hier genau der falsche Ort, um Zuflucht zu suchen und sich vor Maxwell Cooper zu verstecken. Außerdem wäre das Dean gegenüber auch ziemlich dreist.“
„Ach weißt du, wenn man verzweifelt ist und nicht weiß, wohin man sich wenden soll, dann geht man Kompromisse ein, die man vorher nicht einmal im Traum in Erwägung gezogen hätte“, gab ich zu bedenken und erinnerte mich dabei nur allzu gut an meine Flucht aus Irland und daran, wie ich mitten in der Nacht mutterseelenallein auf dem Pier in Santa Monica gestanden hatte. Damals war ich ebenso einen Kompromiss eingegangen und einem mir völlig fremden Kerl in seine Wohnung gefolgt. Ich hatte Glück gehabt, dass dieser Kerl Tyler gewesen war.
„Wirst du Dean von dem Anruf erzählen?“, unterbrach Celia meine Gedanken.
„Das würde ich gern, aber bisher war er mal wieder nicht zu erreichen.“
„Ramon ist mit ihm unterwegs.“
Ich verschluckte mich fast an meinem Kaffee.
„Und wo sind die beiden?“
„Keine Ahnung, Ramon durfte nicht darüber sprechen. Obwohl Dean genau weiß, dass ich solche Aktionen überhaupt nicht mag.“ Sie blickte auf die Uhr. „Aber vermutlich müssten sie ohnehin bald wieder auftauchen.“
Wie auf Stichwort hörten wir den Helikopter draußen landen.
Jad kam freudig bellend die Treppe herunter gesaust und blieb, erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelnd, an der geschlossenen Hintertür stehen, die in den Garten führte.
Sekunden später betrat Ramon, mit Jeans und Lederjacke bekleidet, die Küche durch eben diese Tür, dicht gefolgt von Dean, dessen Anblick mein Herz sofort wieder höher schlagen ließ. Er trug jenen schwarzen Flieger-Overall, in dem ich ihn einfach unwiderstehlich fand.
Als die beiden Männer uns bemerkten, blieben sie erstaunt stehen.
„Was macht ihr denn um diese Zeit schon hier? Könnt ihr nicht schlafen?“, fragte Ramon arglos und zwinkerte mir freundlich zu, bevor er sich zu seiner Frau herunterbeugte und ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange drückte, dass es schmatzte. Dann zog er seine Jacke aus, hing sie an den Haken neben der Tür und ließ sich aufstöhnend auf einen der Stühle fallen.
„Dasselbe könnten wir euch fragen“, gab Celia eisig zurück, während sie sich erhob, zum Schrank ging und zwei Tassen herausnahm. „Kaffee?“
„Unbedingt.“ Den missbilligenden Blick seiner Ehefrau ignorierend, streckte Ramon seine langen Beine aus. „Und ich habe Hunger wie ein Bär!“
„Dann treib dich nicht die ganze Nacht wer-weiß-wo herum! Aus diesem Alter bist du heraus, mi Corazón!“
„Lass gut sein, Celia“, ließ sich Dean vernehmen, der in die Hocke ging und Jad zur Begrüßung ausgiebig das Fell klopfte. Sein Blick galt in diesem Augenblick jedoch nicht dem Hund, sondern ausschließlich mir. Prüfend sah er mich an. Ich lehnte an der Küchentheke und nippte an meinem Kaffee, während ich seinen Blick über den Rand der Tasse hinweg schweigend erwiderte. „Ramon hat mir bei einem wichtigen Auftrag geholfen“, erklärte er kurz darauf an Celia gewandt. „Er wird dir später davon erzählen.“
`Und was ist mit mir? Wirst du mir auch davon erzählen? `, fragten meine Augen, doch mein Mund blieb stumm. Dean schien dennoch zu spüren, dass mich etwas bedrückte, erhob sich und kam auf mich zu.
„Alles in Ordnung, Doc?“
„Aber ja“, erwiderte ich und stellte die leere Tasse in die Spüle hinter mir. „Ich konnte nicht mehr schlafen, deshalb dachte ich, ich könnte mit Jad noch einen kleinen Morgenlauf machen, bevor ich in die Praxis fahre.“
„Darf ich euch begleiten?“, fragte er spontan. „Etwas Bewegung würde mir guttun.“
Nach außen hin blieb ich cool, doch mein Herz machte einen Freudensprung.
„Klar, nur zu. Jad?“
Der reagierte weitaus emotionaler, denn er stand bereits wieder an der Tür und nahm das unverhoffte Angebot mit einem freudigen Bellen an.
Wenig später, nachdem Dean in Windeseile den sexy Flieger-Overall gegen Shirt und Jogginghose getauscht hatte, liefen wir schweigend unsere gewohnte Strecke durch den angrenzenden Park, der sich uns um diese ungewohnt frühe Tageszeit noch still und menschenleer präsentierte. Es war ein kühler, glasklarer Morgen, die Sonne ging gerade erst auf und schickte ihre ersten wärmenden Strahlen durch das saftige Grün der Baumkronen. Von dem ewigen Smog, der die meiste Zeit wie eine Dunstglocke über der Millionenstadt Los Angeles hing, war hier oben nichts zu spüren. Alles wirkte frisch und sauber, so wie der junge Tag selbst.
Jad tobte übermütig voraus und blieb nur ab und zu stehen, um zu sehen, ob wir ihm auch wirklich noch folgten.
An unserer Akazie hielt Dean plötzlich an. Fragend drehte ich mich nach ihm um. Er lehnte sich an den Stamm des Baumes, grinste schelmisch und winkte mich mit dem Zeigefinger zu sich heran, genau so, wie es Patrick Swayze zu seinen besten „Dirty Dancing“-Zeiten mit seinem Baby getan hatte.
„Komm her!“
Unter seinem Blick schlug mein Herz sofort schneller, während ich zögernd seiner Aufforderung folgte.
„Was ist denn los?“
Statt einer Antwort griff er nach meiner Hand, sobald ich in seiner Nähe war, und zog mich dicht zu sich heran. Dann drehte er sich blitzschnell mit mir zusammen um die eigene Achse, so dass ich im nächsten Moment den Baum in meinem Rücken spürte. Weglaufen war unmöglich, denn er versperrte mir mit seinem Körper den Weg, stützte sich mit einem Arm neben mir ab und begann, mit dem Daumen seiner freien Hand zärtlich über meine Wange zu streichen.
„Was ist los mit dir, Doc?“, fragte er mit dieser erotisch rauen Stimme, die meinen Verstand regelmäßig lahmlegte und meine Knie sofort zu Pudding werden ließ. „Du bist heute so schweigsam.“
„W… was soll ich denn sagen? D... du warst ja in der letzten Zeit kaum zu Hause.“
Seine Augen blitzten schelmisch auf.
„Und das stört dich?“
„Es ist dein Leben.“
„Stimmt. Und du bist inzwischen ein Teil davon.“
Wow… Hatte er das wirklich gerade gesagt?
Bevor ich jedoch genauer darüber nachdenken konnte, beugte er sich vor und berührte meine Lippen mit seinen: vorsichtig, hauchzart, kaum spürbar. Ich erinnerte mich sofort an unseren allerersten Kuss, damals mitten in der Nacht in der Station, als ich Dean für einen Einbrecher gehalten hatte. In jener Nacht hatte mein Verstand einen Kuss lang total ausgesetzt, und er hatte es in kürzester Zeit geschafft, dass mein Körper mir nicht mehr gehorchte, sondern zu Wachs unter seinen Händen wurde. Allein der Gedanke daran brachte mich erneut zum Glühen und weckte augenblicklich ein kaum zu zügelndes Verlangen in mir. Meine Arme legten sich wie von allein um seinen Hals, und meine Fingerspitzen vergruben sich sehnsuchtsvoll in seinem dichten Haar. Sofort vertiefte er den Kuss und begann mit seiner Zunge meinen Mund zu erforschen. Voller ungezügelter Leidenschaft erwiderte ich seine Zärtlichkeit, während sich unsere Körper ausgehungert und gierig aneinanderpressten. Das Blut rauschte in meinen Ohren, doch irgendwann mischte sich ein wohlbekanntes Fiepen hinein…
Das Fiepen wurde sehr schnell eindringlicher und zeigte uns schließlich überdeutlich an, dass wir nicht allein auf der Welt waren.
Was wird denn das hier? Was zum Teufel macht ihr beide da?
Widerwillig ließen wir voneinander ab und wandten uns, noch immer benommen von der Wucht unserer Gefühle, langsam nach dem Grund der Fiepattacke um.
Jad saß einen Meter von uns entfernt im Gras, hielt seinen Kopf schief und schien angestrengt zu überlegen, in welche Kategorie von Unterhaltung er unsere gegenwärtigen Machenschaften einordnen sollte.
„Beruhige dich, mein Freund“, kommandierte Dean, atmete tief durch und schüttelte säuerlich lächelnd den Kopf. „Er glaubt wahrscheinlich, wir beißen uns!“
„Willst du seine Intelligenz beleidigen, Dean?“, protestierte ich und zupfte rasch meine Frisur zurecht. „Jad weiß genau, was wir tun und er versucht gerade zu verhindern, dass wir eine Anzeige wegen unsittlichem Verhalten in der Öffentlichkeit bekommen!“
„Wie kommst du denn darauf? Hier ist doch niemand!“
Er hatte die Worte noch nicht richtig ausgesprochen, als eine zierliche ältere Dame mit schlohweißem Haar und einem winzigen, ebenso schlohweißen Pudel unweit von uns zwischen den Bäumen auftauchte.
„Guten Morgen!“, grüßten wir sogleich freundlich und sie lächelte charmant zurück.
„Es ist ein wunderschöner Morgen, finden Sie nicht auch?“
„Oh ja, Ma`m, wunderschön“, erwiderte Dean und grinste mich vielsagend an. Bei dem Wort „Ma`m“ konnte ich mich nicht länger beherrschen und prustete los.
„Was ist?“, fragte er und hob arglos die Schultern. „Findest du den Morgen etwa nicht wunderschön?“
„Natürlich, klar. Ich lache ja auch nicht darüber, sondern vielmehr über die Anrede, die du für die Dame gebraucht hast.“
„Ma`m? Aber das sagt man doch zu älteren Damen.“
„Ja, das ist richtig.“ bestätigte ich, in Erinnerung an meine erste Begegnung mit Tyler und Shemar immer noch belustigt, und setzte mich langsam wieder in Bewegung.
Dean und Jad blickten mir verständnislos nach.
„Na los, ihr beiden, bewegt euch!“, rief ich ihnen lachend zu. „Sonst komme ich zu spät zur Arbeit!“
In der Villa angekommen, fiel mir ein, dass ich Dean noch gar nicht von dem Anruf mitten in der Nacht erzählt hatte, doch als ich es gerade tun wollte, klingelte das Telefon auf der Festnetzstation im Hausflur.
Dean nahm den Anruf entgegen. Mit dem Handy am Ohr verschwand er kurz darauf in seinem Zimmer, um dann nur ein paar Minuten später frisch geduscht, mit einer Jeans und einem dunkelblauen Poloshirt bekleidet, eilig in seinen Mustang zu springen und mit den Worten „Ich bin im Büro!“ davonzubrausen.
Nachdenklich stand ich an der Tür und sah ihm nach, als er die Auffahrt hinunterfuhr.
In diesen Klamotten ins Büro? Wollte der mich für dumm verkaufen?
Okay, was ich in den vergangenen Wochen mit Jim erleben musste, hatte mich zugegebenermaßen etwas misstrauisch gemacht. Und mein gesunder Menschenverstand sagte mir zudem überdeutlich, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Einer inneren Eingebung folgend griff ich nach dem Handy auf der Ladestation und drückte die Taste für „Zuletzt eingegangene Anrufe“. Auf dem Display erschien eine Handynummer.
Nach kurzem Zögern ging ich auf „Wahlwiederholung“ und lauschte gespannt.
Wenige Sekunden später nahm jemand ab.
„Ja?“, fragte eine mir unbekannte Frauenstimme. Das Handy ans Ohr gepresst stand ich wie angewurzelt da und fürchtete, dass mein dröhnender Herzschlag bis ans andere Ende der Leitung zu hören sein würde. „Hallo?“, hakte die Stimme noch einmal nach, und ich war bereits kurz davor, mich mit einem verbindlichen „Sorry, falsch verbunden“, zu entschuldigen und schnell wieder aufzulegen, als die unbekannte Teilnehmerin plötzlich fragte: „Dean? Hast du etwas vergessen?“ Fast im selben Moment erklang im Hintergrund eine helle Kinderstimme: „Wer ist dran, Mummy?“
Erschrocken unterbrach ich die Verbindung und warf das Handy auf den Tisch, als hätte ich mich daran verbrannt.
Rebecca… sie war also bereits hier, zusammen mit ihrem Sohn, mit Maxwell Coopers Sohn! Und Dean wusste es! Er hatte vorhin also mit ihr telefoniert und war in diesem Augenblick auf dem Weg zu ihr und seinem kleinen Halbbruder…
Mein Herz krampfte sich derart schmerzhaft zusammen, dass mir für einen Moment die Luft weg blieb. Deshalb also war er so oft unterwegs und blieb nächtelang wie vom Erdboden verschwunden! Er hatte keinen Undercover-Job, keine dienstlichen Verpflichtungen und auch keinen Ärger in seiner Firma, um den er sich unbedingt kümmern musste.
Er war bei ihr!
Dieser Mistkerl traf sich heimlich mit seiner Ex, und mir machte er nebenbei Hoffnungen, wie vorhin auf unserem Morgenlauf! Und ich selten dämliche Kuh wartete die ganze Zeit vergebens darauf, dass er mir irgendwann vielleicht endlich seine Liebe gestand!
Mit einem Mal kam es mir vor, als sei ich in einem riesigen Déjà-vu gefangen. War ich nicht aus genau demselben Grund aus Irland geflohen? Weil Jim mich belogen und betrogen hatte und damit unsere langjährige Beziehung einfach aufs Spiel gesetzt hatte? Und nun tat Dean mir scheinbar das gleiche an. Nur mit dem Unterschied, dass ich noch nicht einmal wusste, ob wir beide überhaupt eine Beziehung hatten.
Bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen hörte ich, wie das Blut in meinen Ohren rauschte und spürte, wie mein Herz unkontrolliert zu rasen begann, nur leider dieses Mal aus einem sehr viel weniger angenehmen Grund.
Atme, Jessica, atme!
Plötzlich begann sich das Zimmer um mich zu drehen. Schnell versuchte ich mich irgendwo zu halten, aber da war nichts. Meine Hände griffen ins Leere. Ich merkte, wie ich fiel, doch bevor ich aufschlug, hatte mich undurchdringliche Dunkelheit bereits schützend eingehüllt…