6. Notausgang
Ja, kein Zweifel, er war es wirklich – Jad, der Schäferhund, dessen verletzte Pfote ich gestern verarztet hatte. Unbeweglich, wie aus Stein gemeißelt, saß er da und spähte unablässig zur anderen Straßenseite hinüber. Hinter ihm an der Hauswand lehnte scheinbar unbeteiligt sein Besitzer, mit Sonnenbrille und tief ins Gesicht gezogenem Basecap, die Hände weit unten in den Taschen seiner ausgeleierten Jeans vergraben.
Kurzentschlossen sprang ich auf, überquerte die Straße und bewegte mich eilig auf die beiden zu.
Jad bemerkte mich zuerst. Er drehte den Kopf und bellte einmal kurz, als ich seinen Namen rief. Danach jedoch visierte er sofort wieder die andere Straßenseite an. Ich sah hinüber, konnte aber nichts Interessantes entdecken. Die Straße war um diese Zeit fast menschenleer, lediglich eine dunkle Limousine parkte vor dem Eingang des dort befindlichen Hotels.
Ich hatte den Hund fast erreicht, als mich die scharfe Stimme seines Besitzers innehalten ließ.
„Hey! Keinen Schritt weiter!“
Erstaunt verharrte ich. Der Mann lehnte noch immer an der Hauswand, doch seine Haltung war bei genauerem Hinsehen alles andere als lässig. Er trug zwar exakt dieselben Klamotten wie am Tag zuvor, aber er wirkte irgendwie anders. Angespannt, fast wie ein Panther, zum Sprung bereit.
„Ich wollte nur sehen, ob es Jad wieder gut geht!“ rechtfertigte ich mich und blickte zu dem unbeweglich dasitzenden Hund.
„Es geht ihm bestens“, erwiderte sein Besitzer abweisend. „Und er will nicht gestört werden.“
„Wobei? Beim Sitzen und Warten auf die nächste Mahlzeit?“
„Machen Sie, dass Sie weiterkommen!“, zischte der Obdachlose warnend. „Und fassen Sie Jad nicht an!“
„Aber warum? Ist seine Pfote schlimmer geworden? Sie sollten doch die Desinfektion…“
„Verschwinden Sie endlich, verdammt!“ Das war mehr als deutlich. Allerdings nicht für mich.
„Jetzt halten Sie mal die Luft an!“, empörte ich mich lautstark. „In was für einem Ton reden Sie eigentlich mit mir? Ich wollte doch nur nach Jads Pfote sehen, und das werde ich jetzt auch tun, ob es Ihnen passt oder nicht!“
Entschlossen und ungeachtet seines neuerlichen Warnrufes drehte ich mich um, marschierte auf den Hund zu und streckte meine Hand nach ihm aus. „Hey, mein Freund, wie…“ Der Rest des Satzes blieb mir buchstäblich im Halse stecken, als Jad herumfuhr, die Lefzen gefährlich hochzog und mich warnend anknurrte. Gleich darauf sprang er auf und begann lautstark zu bellen.
„Aus!“, befahl der Obdachlose seinem vierbeinigen Gefährten sofort in scharfem Tonfall.
Fast im gleichen Augenblick ließ der Fahrer der dunklen Limousine auf der anderen Straßenseite den Motor an und fuhr in auffallend rasantem Tempo davon.
Einen Moment lang schien es fast so, als wolle Jad ihm nachsetzen, doch ein erneutes, energisches Kommando hielt ihn zurück. Widerwillig knurrend gab er klein bei und setzte sich sofort gehorsam nieder.
„Sind Sie noch ganz bei Sinnen, Lady? Was haben Sie sich dabei gedacht!“, fauchte der Obdachlose mich unmittelbar danach wütend an. „Sie können nicht einfach hingehen und ihn streicheln wie ein Schoßhündchen! Vor allem dann nicht, wenn er gerade dabei ist, seine Befehle zu befolgen! Fast hätte er Sie gebissen!“
„Befehle? Was denn für Befehle? Sollte er ein Taxi für Sie rufen oder was?“
Er schnaufte wütend, riss sich die Sonnenbrille von der Nase und starrte mich aus seinen unergründlich dunklen Augen drohend an.
„Ich sag`s Ihnen zum letzten Mal, Sie Nervensäge: Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Kram, verdammt nochmal!“
Instinktiv trat ich einen Schritt zurück.
„Sie sind der abscheulichste, undankbarste Mensch, der mir je begegnet ist!“
„Damit kann ich leben. Und nun verschwinden Sie endlich! Kommen Sie uns nie wieder in die Quere, denn ein zweites Mal werde ich den Hund nicht zurückpfeifen!“
Damit drehte er sich um, ließ mich stehen und stampfte wütend davon. Jad zögerte einen Augenblick, sah zu mir hoch, und mir schien, als wolle er sich mit seinem Blick bei mir entschuldigen. Dann sprang er auf und folgte seinem Besitzer.
Ich stand wie vom Donner gerührt und sah den beiden nach, bis sie hinter der nächsten Hausecke verschwunden waren.
Nach diesem erneuten Tiefschlag und der Erkenntnis, dass sich mit der unverhofften Abwesenheit der Jennings nun auch meine einzig mögliche Zuflucht in Luft aufgelöst hatte, verharrte ich psychisch völlig am Boden zerstört noch einen Moment, doch irgendwann setzten sich meine Füße wie von allein in Bewegung und trugen mich zurück zu Tys und Shemars Wohnung. Dort angekommen begann ich mechanisch und völlig gedankenleer meine Sachen erneut wieder zusammenzupacken.
„Und wenn ich so über mein Leben nachdenke: Ich bewege mich nach und nach immer weiter… westwärts. Aber was auch geschehen mag, ich werde nicht zurückblicken!“
Hatte ich nicht genau diese Worte noch vor etwa zwei Stunden zu Tyler gesagt? Und was tat ich jetzt? Genau das, was ich nie hatte tun wollen.
Ich würde schmählich aufgeben und den nächsten Flieger zurück nach Deutschland nehmen, egal, was mich dort erwartete. Irgendwie musste es schließlich weitergehen, und hier in den Staaten schien sich seit meiner Ankunft irgendwie alles gegen mich und meinen – zugegeben - ziemlich spontanen Fluchtversuch verschworen zu haben.
Als Tyler nach Hause kam, stand mein Koffer bereits an der Tür, und ich selbst hockte wie ein Häufchen Unglück auf dem Sofa. Mein Gastgeber nahm jedoch weder mein abreisefertiges Gepäck noch mein „Alles-im-Eimer“-Gesicht wahr. Mindestens ebenso resigniert wie ich ließ er sich neben mir in die weichen Polster fallen.
„Wie geht es deinem Kollegen?“, fragte ich, nichts Gutes ahnend.
„Es hat ihn ziemlich übel erwischt.“ erwiderte er, lehnte sich seufzend zurück und fuhr mit allen fünf Fingern durch sein dunkles Haar. „Irgend so ein betrunkener Vollidiot hat ihn mit über hundert Sachen unten auf dem Freeway kurz vor der Auffahrt zum Pico-Boulevard frontal erwischt. Sein Jeep war zusammengeschoben wie eine zertretene Sardinenbüchse. Die Leute von der Feuerwehr haben fast eine Stunde gebraucht, um ihn da rauszuholen. Er sah furchtbar aus.“
„Aber er lebt doch, oder…?“, fragte ich vorsichtig, und zu meiner Erleichterung nickte Tyler. „Ja, er lebt, aber er wird wohl eine ganze Weile brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Und bis dahin brauchen wir unbedingt einen Ersatz. Das jedoch wird ein echtes Problem.“
„Arbeitet er in deiner Abteilung?“
„Nein, nicht direkt. Hank Allister ist der leitende Veterinärmediziner unserer Hundestaffel“, erwiderte Tyler, in Gedanken versunken. Seine letzten Worte klangen wohl noch in seinen Ohren nach, als er sich plötzlich aufrichtete und mich derart eigenartig ansah, als hätte er soeben die absolute Erleuchtung vor Augen.
„Duuu!!!“
„Was ist?“, fragte ich verunsichert.
„Du… du kannst jetzt nicht zu deinen Leuten fahren!“
Verständnislos starrte ich ihn an.
„Ja aber… woher weißt du das?“
Ty schien mich gar nicht zu hören. Ich konnte ihm förmlich ansehen, wie fieberhaft seine Gedanken arbeiteten. Allerdings ahnte ich noch nicht, in welche Richtung.
„Wie lange willst du in den Staaten bleiben, Jess?“
„Na ja, ich habe ein Visum für zwei Wochen, aber ich wollte eigentlich schon wieder…“
„Okay“, unterbrach er mich, schlug wie zur Bestätigung mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel, sprang auf und griff nach seinem Handy. „Wie auch immer, du bleibst auf jeden Fall länger!“
„Aber ich habe vorhin erfahren, dass die Jennings gar nicht zu Hause sind.“ versuchte ich ihn ein weiteres Mal über den aktuellen Stand meines ganz persönlichen Dilemmas aufzuklären.
„Wer sind die Jennings?“, fragte er verständnislos.
„Die Leute, deren Adresse Shemar herausfinden sollte.“
Endlich schien er zu begreifen. Nach kurzer Überlegung nickte er und setzte sich erneut zu mir.
„Du hast gesagt, du bist wegen diesem Typen von der grünen Insel abgehauen“, begann er seine bisherigen Kenntnisse über meine Misere zusammenzufassen. „Und du möchtest ihn auch nicht wiedersehen. Deshalb bist du hier, damit er dich nicht findet. Stimmt doch, oder?“
„Ja… das könnte man so sagen.“
„Okay, dann lass uns einen Deal machen: Wir vom Police Department helfen dir und sorgen dafür, dass du fürs Erste in den Staaten bleiben kannst, solange du willst. Und als kleine Gegenleistung dafür hilfst du uns!“
„Und… wie soll diese Gegenleistung aussehen, wenn ich fragen darf?“, erkundigte ich mich vorsichtig.
„Du bist Tierärztin! Du könntest Hank vertreten, bis er wieder völlig gesund ist!“
„Ist das dein Ernst? In einer Hundestaffel?“
„Das ist eine sehr interessante Arbeit. Darüber hinaus hilft er auch noch ab und zu in der Nachbarpraxis aus. Und bei anfallenden OPs arbeitet er auch nicht allein, die beiden Kollegen von nebenan unterstützen ihn genauso, wie er sie. Außerdem hat Hank eine sehr fähige Assistentin, die eng mit dir zusammenarbeiten würde. Sie heißt Paloma, und sie ist richtig gut.“
„Langsam“, Mir schwirrte der Kopf. „Das … das ist…“
„Deine Chance, für eine ganze Weile wie gewünscht von der Bildfläche zu verschwinden und dabei noch aktiv in deinem Beruf zu arbeiten!“, unterbrach Ty mein Gestammel enthusiastisch. „Überleg mal, du könntest hierbleiben, Jess! Du hättest einen Job, der dir ganz sicher Spaß macht, und obendrein verdienst du deine eigene Kohle und bist auf niemanden angewiesen.“
Meine Gedanken überschlugen sich, und ausgerechnet jetzt fiel mir wieder diese Liedzeile ein…
„Im freien Fall durch das gelobte Land, kein Plan B und auch kein Notausgang…“
In diesem Augenblick wurde mir plötzlich klar, dass ich gar keinen Plan B brauchte. Tyler Lockwood hatte mir eben meinen ganz persönlichen Notausgang gezeigt, und ich wollte verdammt sein, wenn ich diese Chance nicht nutzen würde!
„Also gut, Ty“, hörte ich mich sagen. „Einen Versuch ist es wert.“
Bevor ich mich versah, nahm er mein Gesicht zwischen beide Hände und drückte mir begeistert einen dicken Kuss mitten auf meinen Mund.
„Das ist großartig! Ich bin sicher, du wirst deine Entscheidung nicht bereuen!“
Leider war ich mir momentan nicht halb so sicher wie er, ob die Sache auch wirklich funktionieren würde, aber immerhin war ich entschlossen genug, es darauf ankommen zu lassen.
„Für wie lange, denkst du, werde ich deinen Kollegen vertreten müssen?“, hakte ich noch einmal vorsichtig nach.
„Ein paar Monate auf jeden Fall. Warte…“ Tyler griff erneut nach dem Handy und tippte eilig eine Nummer ein.
„Shemar, hier ist Ty. Hör zu, ich habe eine geniale Lösung für unser Problem! Jess könnte Hank drüben im Trainingszentrum vertreten! ... Ja, klar ist sie einverstanden…“ Er zwinkerte mir bedeutungsvoll zu und bedachte mich mit seinem breiten Tom-Cruise-Grinsen. „Rede mit dem Chef darüber, lass all deine Beziehungen und deinen Charme spielen und besorg ihr bei der Einwanderungsbehörde so schnell wie möglich eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung ... Ja genau, ein H-1B-Visum beispielsweise … Wie lange? Keine Ahnung, mindestens ein halbes Jahr, oder länger… am besten so lange wie möglich!“
Noch am selben Nachmittag hatte ich beim leitenden Chief Director des Santa Monica Police Departements am Pier ein provisorisches Einstellungsgespräch.
Der Chief, ein großer kräftiger Mann in den Fünfzigern, war mir sofort sympathisch, denn er erinnerte mich auf den ersten Blick an Caitlins Dad. Er hatte einen strengen Blick, aber ein freundliches Lächeln. Ausgiebig besah er sich mein vorerst zwei Wochen gültiges Einreise-Visum, las sorgfältig meinen Lebenslauf und zeigte sich sehr angetan von meinen schriftlichen Studienabschlüssen. Zum Glück waren alle nötigen Unterlagen mein Studium und meine Approbation betreffend in meinem Laptop gespeichert.
Über den Rand seiner Lesebrille hinweg warf der Chief mir schließlich einen wohlwollenden Blick zu und nickte zufrieden.
„Wenn Sie die Praxis nur annähernd so bewältigen, wie die Theorie, dann steht einer befristeten Zusammenarbeit nichts im Wege, Miss Hausmann.“
Allerdings bekam ich nur einen vorläufigen Vertrag, der erst dann unterschrieben und in Kraft treten würde, wenn ich mir meinen neuen Zuständigkeitsbereich angesehen hätte und mit allen dortigen Gegebenheiten einverstanden war.
Tyler, der mich zu dem Gespräch begleitet hatte, erklärte sich bereit, mit mir zusammen sofort am nächsten Tag zur zentralen Diensthundestaffel am Dogweiler State Beach zu fahren und mir alles Notwendige zu zeigen.
Blieb nur noch die Frage der Unterkunft. Aber über eine angemessene Bleibe würde ich nachdenken, sobald ich den Job sicher in der Tasche hatte. Schließlich wollte ich das Sofa meiner beiden Gastgeber nicht überstrapazieren.
Froh und unendlich erleichtert darüber, dass sich mein Rückzugsplan nun in letzter Sekunde in Luft aufgelöst und ich somit meinen ganz persönlichen „Notausgang“ gefunden hatte, lud ich Tyler und Shemar an diesem Abend kurzerhand ins „Bubbas“ auf dem Pier auf einen Drink ein. Wir stießen auf unsere künftige Zusammenarbeit an, und auf den Mann, dem ich meinen Job auf Zeit letztendlich zu verdanken hatte, auch wenn die Umstände dafür alles andere als positiv für Dr. Hank Allister waren. Ich wünschte ihm von Herzen, dass er nach seinem schweren Unfall wieder ganz gesundwerden möge, obwohl das für mich bedeutete, dass ich dann endgültig meine Koffer packen müsste. Aber darüber machte ich mir zu diesem Zeitpunkt erst einmal noch keine Gedanken.
Es wurde ein fröhlicher Abend, denn es blieb nicht bei einem Drink. Nach Dienstschluss schauten noch einige Kollegen vom Police Department auf ein Feierabend-Bier herein und gesellten sich wie selbstverständlich zu uns. Als sie hörten, dass ich voraussichtlich für ihren verunglückten Kollegen in der Hundestaffel einspringen würde, hießen sie mich in ihrer Mitte sogleich herzlich willkommen und wünschten mir Glück.
Ich fühlte mich gut, denn mein Bauchgefühl signalisierte mir, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
„Hey Shemar!“, rief der Kellner, der den Männern wenig später einen neuen Pitcher Sierra Nevada Bier brachte und mir meinen zweiten Gin Tonic kredenzte. „Deine Schwester hat heute Abend noch einen Auftritt angemeldet. Müsste gleich hier sein.“
„Na dann haben wir ja beste Unterhaltung“, erwiderte Shemar und lachte, als er meinen erstaunten Blick sah. „Sie ist Sängerin“, erklärte er nicht ohne Stolz. „Das ist ihr Hobby, und sie ist nicht einmal schlecht.“
„Nicht schlecht?“, mischte sich Ty erbost ein. „Die Frau hat eine Hammer-Stimme und ganz nebenbei sieht sie auch noch spitze aus.“
Shemar grinste stolz.
„Das liegt in der Familie.“
Ich erkannte sie auf den ersten Blick, als sie auf der Bildfläche erschien. Es war die junge Afroamerikanerin, die an meinem ersten Abend auf dem Pier auf der Gitarre gespielt und Balladen gesungen hatte. Jetzt, da ich wusste, dass sie Shemars Schwester war, fiel mir die Ähnlichkeit zwischen den beiden natürlich auf. Groß und sehr schlank, dieselbe kaffeebraune Haut, die gleichen ausdrucksstarken dunklen Augen. Das gelockte, schwarzglänzende Haar umrahmte ihr ebenmäßiges, hübsches Gesicht, fiel offen über die Schultern und reichte fast bis hinunter zu ihrer schmalen Taille. Die verwaschene Jeans und das enge Top brachten ihre tolle Figur zusätzlich hervorragend zur Geltung. Sie war ein absoluter Hingucker, aber das Schönste an ihr war ihr sympathisches Lächeln, das ihre Augen zusätzlich strahlen ließ.
„Wir sind fast nicht voneinander zu unterscheiden“, lachte Shemar, als hätte er meine Gedanken erraten. „Bis auf diesen kleinen Unterschied.“
„Klar, sie hat mehr Haare als du“, zog ich ihn auf und hatte die Lacher auf meiner Seite.
Als die junge Sängerin ihre erste Ballade anstimmte, wurde es schlagartig still im Lokal. Andächtig lauschten alle Gäste ihrer wundervoll rauchigen Stimme, die mich kürzlich schon einmal in ihren Bann gezogen hatte.
Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und war sofort in Gedanken wieder am Rosbehy Creek. Aber es tat nicht mehr so weh wie beim ersten Mal, als ich diese vertrauten Songs draußen auf dem Pier gehört hatte, und mir bei der Erinnerung an die schönen Zeiten in Irland die Kehle eng wurde. Heute konnte ich die Balladen genießen. Zwei Gin Tonic und die Hoffnung, vorerst hierbleiben zu können und darüber hinaus einen guten Job zu bekommen, ließen mich innerlich triumphieren. Leise sang ich den vertrauten Text mit und merkte zuerst gar nicht, wie sich vorsichtig ein Arm um meine Schultern legte.
Erst als ich spürte, wie jemand zärtlich mit den Fingerspitzen über meine Wange strich, öffnete ich verwirrt die Augen und begegnete Tylers Blick. Was ich darin sah, brachte mich schlagartig auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Lass das bitte“, sagte ich leise, aber bestimmt und befreite mich mit einem diskreten Seitenblick auf die anderen, die zum Glück nichts bemerkt zu haben schienen, aus seiner Umarmung. „Das funktioniert nicht.“
„Woher willst du das wissen?“, raunte er und fing sich einen warnenden Blick meinerseits ein. Das Allerletzte, was ich wollte, war ein neuer Mann an meiner Seite. Zuerst mussten die Schatten der Vergangenheit beseitigt werden, und wer weiß, vielleicht würde mein Herz für immer verschlossen bleiben…
„Ich habe dir heute Mittag bereits gesagt, warum. Meine Meinung ist noch immer die gleiche. Ich habe dir in der kurzen Zeit, seit wir uns kennen, eine Menge zu verdanken und sehe dich als richtig guten Freund. Belassen wir es bitte dabei!“
„Du weißt doch, Liebeskummer bekämpft man am besten mit einer neuen Liebe!“
„Nicht in diesem Falle. Es ist kein Liebeskummer, was mir zu schaffen macht, sondern Enttäuschung und Wut. Und das wäre keine gute Basis für eine neue Beziehung, glaub mir!“
„Schade.“ Enttäuscht lehnte er sich zurück. „Ein Versuch war es wert. Und falls du deine Meinung ändern solltest…“
„Das werde ich nicht“, erwiderte ich entschieden. „Aber du bist ein toller Kerl, Ty. Du wirst deine Traumfrau schon noch finden.“
Er murmelte etwas, das ich nicht verstand und widmete sich stillschweigend seinem Bier.
In ihrer Pause gesellte sich Shemars Schwester mit zu unserer Runde, und als uns der junge Officer einander vorstellte, staunte ich ein weiteres Mal.
„Jess, darf ich dir meinen Zwilling Paloma vorstellen? Paloma, das ist Jess. Sie wird Hank vertreten, bis er wieder auf den Beinen ist.“
„Paloma?“ Erstaunt riss ich die Augen auf. „Die Paloma?“
„Ganz recht. Ich bin Dr. Allisters Assistentin“, erklärte sie freundlich. „Freut mich dich kennenzulernen, Jess.“ Sie musterte mich einen Augenblick lang nachdenklich. „Ich bin sicher, ich habe dich schon einmal gesehen. Gestern auf dem Pier?“
Ich nickte bestätigend.
„Du hattest dort einen Auftritt.“
„Stimmt“, erinnerte sie sich. „Du bist mir aufgefallen, denn du hast so traurig ausgesehen.“
„Ich war müde von dem langen Flug und der vergeblichen Suche nach einem freien Hotelzimmer. Und du hast Recht, ich war auch ein wenig traurig“, bestätigte ich mit einem wehmütigen Lächeln. „Deine Balladen haben mich an mein Zuhause erinnert. Oder vielmehr an einen Ort, den ich lange Zeit für mein Zuhause gehalten habe. Ich habe diese Songs früher selbst gesungen und auf der Gitarre gespielt.“
Sie hatte mir gespannt zugehört.
„Musik ist wie Balsam für die Seele, wenn man traurig ist. Sie befreit und hilft zu vergessen“, sagte sie weise und nickte mir aufmunternd zu. „Das wird schon wieder.“ Sie trank einen Schluck Bier aus dem Glas ihres Bruders und überlegte kurz. „Kennst du „Pride“ * von Amy McDonald?“
„Aber ja, natürlich. Amy ist Britin mit schottischen Wurzeln. Ich kenne fast jeden ihrer Songs.“
„Na dann komm, ich habe noch eine zweite Akustikgitarre dabei. Versuchen wir den Song zusammen zu singen und zu spielen!“
„Ja aber… ich bin nicht einmal annähernd so gut wie du“, versuchte ich einzuwenden, doch sie zog mich, begleitet von den Begeisterungsrufen der anderen, ganz einfach mit sich fort. Ehe ich mich versah, saß ich mit einer Gitarre auf dem Schoß neben ihr auf der kleinen, provisorischen Bühne am Tresen. Als die ersten Akkorde erklangen, war meine anfängliche Aufregung schlagartig verschwunden, ich konzentrierte mich auf mein Gitarrenspiel und ließ mich von dem schönen Song, den Amy irgendwann einmal für ihre Lieblings-Footballmannschaft, die Glasgow Rangers, geschrieben hatte, mitreißen. Bereits nach wenigen Liedzeilen bemerkte ich, dass unsere Stimmen sehr gut miteinander harmonierten. Wir sangen und musizierten unter dem begeisterten Beifall der Zuhörer und hatten einfach einen Riesenspaß.
An diesem Abend dachte ich nicht mehr an früher, nicht an das, was einmal gewesen war und auch nicht daran, was hätte sein können. Ich fühlte mich einfach wohl, jetzt und hier, zusammen mit den neuen Freunden, in diesem kleinen, gemütlichen Lokal auf dem Santa Monica Pier, mitten im schönen Kalifornien.
*Der Song „Pride“ von Amy McDonald ist zu finden auf:
https://www.youtube.com/watch?v=pTvAiMkj4QU