16. Botschaft von Jim
Es war ein etwas sonderbares Gefühl für mich, als ich am nächsten Morgen neben Ramon im Auto saß, während er mich zur Arbeit chauffierte. Eigentlich schien irgendwie alles an diesem Morgen sonderbar, wobei „sonderbar“ eigentlich nicht der richtige Ausdruck für das Gefühlschaos war, das in mir tobte, seitdem ich die Augen aufgeschlagen hatte und mich in dieser Märchenwelt wiederfand, von der ich noch im Aufwachen dachte, sie sei vielleicht nur ein Produkt meiner überreizten Nerven gewesen.
Nein, unangenehm war das alles nicht, aber für mich völlig neu und ungewohnt.
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne brachen sich in dem schimmernden Stoff der zarten Seidenvorhänge, die sich hinter dem spaltbreit geöffneten Fenster bauschten, kurz nachdem ich durch ein dezentes Klopfen an der Zimmertür geweckt worden war. Schlaftrunken tappte ich zur Tür und sah mitten hinein in Celias lachendes, mütterlich rundes Gesicht. Sie erkundigte sich, ob ich gut geschlafen hätte, was ich ehrlich bestätigten konnte. Ich hatte tatsächlich wider Erwarten tief und traumlos geruht, und fühlte mich durchaus gewappnet für meine neue Arbeitswoche. Die Angst, die gestern nach dem Drohanruf tief in meinem Inneren an meinen Eingeweiden genagt hatte, war einer gesunden Zuversicht gewichen, seitdem ich wusste, dass Cooper mir vertraute und sich mit seinen Kollegen zusammen der Sache annahm.
Sichtlich zufrieden mit meiner Antwort fragte die aufmerksame Haushälterin, was ich gern zum Frühstück hätte, und unter ihrer Aufzählung vielfältiger schmackhafter Angebote zog sich mein Magen in freudiger Erwartung grummelnd zusammen.
Zurück in meinem Gästezimmer trat ich zunächst hinaus auf die Terrasse mit dem schmiedeeisernen weißen Geländer und bewunderte den Ausblick, der sich mir bot.
Das Grundstück befand sich auf einer Anhöhe, von der aus man über die Dächer der umliegenden Villen hinunter ins Tal sehen konnte. Es gab überall saftig grüne Palmen, exotische Pflanzen, kalifornischen Flieder und herrlich blühende Oleanderbüsche im Schatten einzelner großer Eukalyptus- und Walnussbäume, dazwischen gepflegte Rasenflächen, die von grünen Hecken eingegrenzt wurden. Ich fragte mich insgeheim, ob Ramon dies alles ganz allein in Ordnung hielt, oder ob es vielleicht in Coopers geheimem Imperium noch mehr Personal gab. Etwas seitlich erblickte ich den Platz, auf dem wir gestern gelandet waren, und obwohl Coop mich in seine Pläne eingeweiht hatte, und ich im Grunde froh war, dass er unterwegs war, um mir zu helfen, versetzte mir die Tatsache, dass sein Helikopter nicht mehr dort stand, doch einen leichten Stich der Enttäuschung. Es war überdeutlich gewesen, dieses Knistern zwischen uns, gestern Abend, als er sich an der Zimmertür fast fluchtartig von mir verabschiedet hatte. Aber wir waren beide intelligent genug um zu wissen, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, um sich hier und jetzt näher zu kommen. Bevor nicht alles andere geklärt und alle Gefahren gebannt waren, war es besser, einen kühlen Kopf zu behalten. Ich selbst war gestern Nacht so erschöpft gewesen, dass ich, sobald sich die Tür hinter Coop geschlossen hatte, sofort eingeschlafen war und nicht einmal mitbekommen hatte, wann er wieder gestartet war. Ich hoffte nur inständig, er würde gut auf sich aufpassen.
Im Badezimmer fand ich flauschig weiche Handtücher und einen schneeweißen Bademantel, sowie Wasch- und Pflegeutensilien vom Feinsten. Sicherlich hatte Celia all diese Dinge besorgt. Nur meine eigenen Sachen, die ich gestern Abend hier im Bad abgelegt hatte, konnte ich nirgends entdecken. Also wickelte ich mich nach einer ausgiebigen Dusche in den Bademantel und tappte hinunter in die Küche, wo Celia geschäftig herumhantierte.
„Da sind Sie ja, meine Liebe!“, begrüßte sie mich und lachte. „Sicher haben sie Ihre Sachen gesucht. Ich habe sie gestern aus Ihrem Zimmer geholt, aber Sie haben so fest geschlafen, dass Sie nicht einmal mein Klopfen gehört haben. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber ich dachte mir, Sie würden sich sicher sehr viel wohler fühlen, wenn Sie die Sachen heute Morgen frisch gewaschen anziehen können.“
Erstaunt riss ich die Augen auf.
„Sie haben alles gewaschen? Mitten in der Nacht?“
„In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf“, erwiderte Celia und zwinkerte mir zu. „Außerdem muss ich nur ein paar Knöpfe drücken, den Rest erledigt die Technik. Und nun frühstücken Sie erst einmal ganz ausgiebig!“
„Sie sind ein Engel!“, sagte ich aus tiefster Überzeugung und setzte mich an den gedeckten Tisch. „Der Kaffee duftet köstlich!“ Und genauso schmeckte auch das Frühstück, das Celia mir auftischte: Rührei mit Schinken, frische Croissants, Pancake mit Ahornsirup. Es war alles da. Ich langte kräftig zu und ahnte, dass ich auf Grund dieser ungewohnten Mengen heute getrost das Dinner auslassen konnte. Die Haushälterin räumte einstweilen geschäftig den Geschirrspüler aus.
„Wann ist Coop eigentlich abgeflogen?“, fragte ich so beiläufig wie möglich, während ich die Kaffeetasse, aus der es verführerisch duftete, in beiden Händen hielt und den frisch gebrühten Kaffee in kleinen Schlucken trank.
„Oh, er hatte es ziemlich eilig. Nachdem er Ihnen Ihr Zimmer gezeigt hat, hörte ich ihn in seinem Arbeitszimmer noch eine Weile telefonieren, dann kam er zu mir in die Küche, hat Jad eingeschärft, gut auf Sie aufzupassen und weg war er.“ Sie hielt mit ihrer Arbeit inne und sah mich nachdenklich an. „Er hat mir erzählt, was mit Ihren Sachen in der Hundestation passiert ist. Diesen Kerlen müssten die Hände abfallen!“
„Glauben Sie mir, ich habe denen schon Schlimmeres gewünscht“, seufzte ich. „Nach der Arbeit werde ich mit einer Freundin zusammen losziehen und in Santa Monica zumindest das Notwendigste neu kaufen.“
„Tun Sie das, Kindchen“, pflichtete sie mir bei. „Aber nehmen sie unbedingt Ramon mit.“
„Stört es Sie gar nicht, wenn er den ganzen Tag auf mich aufpassen muss?“, fragte ich vorsichtig. Celia winkte lachend ab.
„Überhaupt nicht. Das ist doch eine nette Aufgabe. Und abends sind Sie beide pünktlich zum Abendessen wieder hier. Früher war er mitunter monatelang weg, und ich wusste nie, ob er heil wieder nach Hause kommt.“
„Coop sagte, er war im Marine Corp.?“
„Ja, bei einer Spezialeinheit. Die haben mehr als nur einmal für andere die Kastanien aus dem Feuer geholt. Aber dann wurde er bei einem Einsatz schwer verletzt und musste am Knie operiert werden. Danach hat er den Dienst quittiert und wurde sesshaft. Ich war darüber mehr als froh.“
„Das glaube ich. Und seitdem arbeiten Sie beide hier?“
„Ich habe schon länger hier gearbeitet, als Haushälterin von Deans Vater. Er hat Ramon dann nach seinem Ausscheiden aus dem Marine Corp. als Mitglied seines Wachschutz-Teams eingestellt. Mittlerweile hat Dean seinen eigenen Wachschutz, und Ramon ist für alles andere hier verantwortlich. Wir beide kümmern uns um das Anwesen, vor allem, wenn er nicht da ist.“
„Und ist das oft der Fall?“
„Wenn er einen Auftrag hat, dann ist er mitunter wochenlang weg. Und manchmal bleibt er ein paar Tage und erledigt irgendwelche liegengebliebene Arbeit von zu Hause aus. Das ist ganz unterschiedlich. Aber die meiste Zeit ist er unterwegs.“
„Er hat so ein traumhaftes Zuhause und ist kaum hier“, sinnierte ich und putzte die letzten Krümel meines Croissants auf dem Teller zusammen. „Jammerschade.“
„Ich denke, das hat vor allem mit seinem gestörten Verhältnis zu seinem Vater zu tun“, verriet Celia. „Dean macht sich nicht viel aus all diesem Luxus. Er wollte seinem alten Herrn und vor allem sich selbst beweisen, dass er es zu etwas bringen kann, und das hat er geschafft. Heute lässt er die Firma, die er damals gegründet hat, größtenteils von Treuhändern leiten und geht seine eigenen Wege.“ Celia hielt inne und griff sich an die Stirn. „Entschuldigung, ich rede wieder viel zu viel. Das hat er Ihnen sicher schon alles selbst erzählt. Oder er wird es noch tun, wenn er zurück ist.“ Sie reichte mir den Brotkorb, doch ich lehnte dankend ab, worauf sie mich kopfschüttelnd musterte. „Sie müssen mehr essen, Kindchen, Sie sind viel zu dünn!“
Ich verschluckte mich fast an meinem letzten Rest Kaffee. Hatte ich mir nicht genau dasselbe gestern schon von Coop anhören müssen? Fast hätte ich „Ja Mama“ gesagt. Stattdessen lächelte ich nur etwas säuerlich und zwinkerte ihr dann zu. „Wenn Sie mich weiterhin so verwöhnen wie heute, wird sich das sicher sehr bald ändern!“
In diesem Moment kam Jad in die Küche getobt und begrüßte mich enthusiastisch bellend. Kurz darauf erschien Ramon, nickte mir freundlich zu und meinte, er hätte den Wagen vorgefahren.
Sofort flitzte ich nach oben, sprang in die frisch gewaschenen, duftenden Sachen, schnappte meine Tasche und war in weniger als fünf Minuten wieder unten. Celia stand an der Haustür, und ich sah, wie sie ihrem Mann liebevoll auf die Schulter klopfte, bevor er zum Wagen ging und Jad die Tür zum Rücksitz öffnete. „Passt mir beide gut auf Jess auf, hört ihr?“, rief sie ihm nach, und ich konnte nicht anders, als sie zum Abschied zu umarmen und ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange zu drücken.
„Wir passen auf einander auf, Celia. Heute Abend sind wir alle drei wohlbehalten wieder zurück!“
Und nun saß ich neben Ramon in dem geräumigen SUV-Combi, Jad brav auf der Rückbank, und wir fuhren über den Highway der aufgehenden Sonne entgegen.
Er redete nicht allzu viel, aber immerhin erfuhr ich, dass er gern für Coop arbeitete und damals, vor nunmehr rund zwanzig Jahren, nicht im Traum gedacht hatte, dass der aufmüpfige Bengel, dem seine Frau mit viel Geduld ein paar Manieren beizubringen versuchte, irgendwann einmal sein Freund und Arbeitgeber werden würde.
Er stellte keine Fragen zu meinen Problemen, und ich nahm an, dass Coop ihn bereits über alles informiert hatte. Umso besser, dann brauchte ich meine ganze Misere nicht noch einmal auszubreiten. Nur ein paar wirklich wichtige Details, denn die Erinnerung an den ganzen Schlamassel reichte mir schon, um diesem Tag einiges von seinem Glanz zu nehmen. Aber ich war inzwischen fest entschlossen, mich nicht von irgendwelchen Drohungen unterkriegen zu lassen. Immerhin hatte ich nun dank Coop zwei starke Beschützer direkt an meiner Seite. Ich wollte einfach nur meine Arbeit erledigen, später mit Paloma shoppen gehen und dann wieder ins Coopersche Märchenschloss zurückkehren, wo ich mich sicher fühlen durfte.
Wir fuhren vom Highway ab und passierten wenig später die Sicherheitsschranke der Station. Ramon zeigte nur kurz seinen Ausweis vor und wurde augenblicklich durchgelassen. Anscheinend kannte man ihn hier bereits.
Als wir aus dem Wagen stiegen, öffnete sich die Eingangstür, und Butch kam uns entgegengeschlurft. Erleichtert darüber, ihn wohlauf und gesund zu sehen, lief ich ihm entgegen. Er zog mich freudestrahlend in seine Arme.
„Lass dich umarmen, Lebensretterin!“
„Das war nicht ich, das war Curt“, protestierte ich lachend und erwiderte seine Umarmung nur zu gern. „Er hat sich den Knochen verdient!“
„Den bekommt er auch, unser Dynamit-Schnüffler. Aber wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, ihn zu holen?“
„Ich bin, kurz nachdem ich den Einbruch entdeckt und Tyler angerufen hatte, hinuntergegangen zu den Zwingern, um nach den Hunden zu sehen, und Curt war ungewöhnlich aufgeregt. Also habe ich ihn angeleint, und er ist direkt zur Schranke gelaufen, wo wir dich gefunden haben.“
„Diese verdammten Mistkerle haben mich ausgetrickst“, schimpfte Butch in Erinnerung an das Geschehene, doch als er sah, wie Ramon aus dem Auto stieg, hellte sich seine Miene schlagartig auf.
„Das gibt’s doch nicht, dass du dich auch mal wieder blicken lässt!“, rief er, und die beiden Männer begrüßten sich herzlich.
„Was denn? Wart ihr beim selben Marine-Corp.?“, fragte ich scherzhaft. Butch und Ramon wechselten einen erstaunten Blick und lachten dann.
„Im selben Corp.? Nein, nur in derselben Stammkneipe!“
„Ach du lieber Himmel!“, zeigte ich mich gespielt entsetzt, während ich meinem vierbeinigen Bodyguard die Wagentür öffnete. „Komm mit, Jad, wir lassen die beiden mit ihren Kneipenerinnerungen am besten allein!“
Der Vormittag verging wie im Fluge. Vor den täglichen Übungen der Polizeihundestaffel checkte ich unsere Hunde routinemäßig durch und assistierte Jordan Gallagher alias „Bud Spencer“ anschließend nebenan bei einer größeren Operation.
Als ich gegen Mittag in unsere Polizeihunde-Praxis zurückkehrte, wartete Paloma schon ungeduldig, denn wir hatten noch keine Zeit gehabt, uns über die jüngsten Ereignisse auszutauschen. Beeindruckt lauschte sie meinen Ausführungen und zeigte sich tief beeindruckt über meinen vermeintlichen Mut.
„Ich an deiner Stelle hätte keinen Fuß vor die Tür von Coopers Festung gesetzt“, meinte sie zutiefst überzeugt. „Und zwar so lange, bis auch der letzte Verbrecher hinter Gittern sitzt.“
„Ich fürchte, so lange reicht meine Green Card nicht“, scherzte ich und besah mir die aktuelle Checkliste. „Zwei gute Nachrichten, Paloma“, verkündete ich augenzwinkernd. „Die erste lautet: Wir sind für heute mit dem Check-up durch. Die zweite: Wir können shoppen gehen!“
„Na das klingt doch super!“ Meine Assistentin grinste von einem Ohr zum anderen und begann sofort mit dem Aufräumen. „Ich bringe die Praxis in Ordnung, dann ziehen wir los.“
In diesem Moment läutete das Telefon auf dem Schreibtisch. Auf dem Display erschien die Nummer der Gemeinschaftspraxis nebenan.
„Es sei denn…“, sagte ich vage und ließ meine Hand über dem Telefonhörer schweben.
„Was?“, fragte Paloma wenig begeistert und hielt mit ihrer Arbeit inne.
„Adam hat jetzt Dienst“, erinnerte ich sie mit einem bedeutungsvollen Augenzwinkern. „Entweder dein Secret Lover verzehrt sich gerade nach dir, oder er hat einen Notfall auf dem Tisch und braucht meine Hilfe!“
Paloma fluchte diskret vor sich hin, während ich den Anruf entgegennahm. Wie erwartet war Adam am anderen Ende der Leitung.
„Kannst du bitte mal kurz herüberkommen, Jess?“, fragte er ungewohnt ernst.
„Was gibt es denn?“
„Das lässt sich schlecht am Telefon erklären“, meinte er nur und räusperte sich umständlich. „Komm am besten her und sieh es dir selbst an.“
„Soll ich Paloma mitbringen?“
„Nein!... Ähm… nicht nötig.“ Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er bereits aufgelegt.
Nachdenklich starrte ich erst auf den Hörer, dann sah ich in Palomas neugieriges Gesicht.
„Habt ihr Zoff?“, fragte ich gerade heraus.
Erstaunt schüttelte sie den Kopf.
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Adam klang irgendwie gestresst.“
„Soll ich Ramon holen?“, fragte sie.
„Wozu das denn? Ich geh doch nur hinüber in die Praxis.“
„Nimm aber sicherheitshalber Jad mit.“
Mein vierbeiniger Beschützer, der unter dem Tisch vor sich hin gedöst hatte, hob sofort aufmerksam den Kopf, als er seinen Namen hörte.
„Ach Paloma“, seufzte ich lächelnd. „So schlimm klang Adam nun auch wieder nicht!“ Trotzdem gab ich Jad einen Wink, worauf er mir sofort schwanzwedelnd folgte. „Wir sind gleich zurück. Dann fahren wir los.“
Draußen vor der Tür atmete ich erst einmal tief durch, um das beklemmende Gefühl loszuwerden, dass während meines Gespräches mit Adam von mir Besitz ergriffen hatte. Ich kannte ihn zwar noch nicht lange, aber irgendetwas in seiner Stimme hatte mich innerlich alarmiert, und als ich auf den Gang hinaustrat, den wir als Verbindung zum nebenliegenden Gebäude nutzten, vermeinte ich die Anspannung überdeutlich zu fühlen.
Auch Jad schien mit dem sicheren Instinkt des geschulten Polizeihundes zu spüren, dass etwas in der Luft lag. Er blieb dicht an meiner Seite und achtete konzentriert auf jede meiner Bewegungen. Ich blieb stehen und sah ihn an.
„Du witterst es, nicht wahr, Jad? Es liegt Gefahr in der Luft.“
Er sah mich mit seinen klugen Augen aufmerksam an, und ich strich ihm über den Kopf. „Keine Sorge, mein Freund, ich werde mich vorsehen.“
Sicherheitshalber ließ ich die Verbindungstür zu unserem Trakt einen Spalt breit offen.
Vor der Tür zur Gemeinschaftspraxis verharrte ich einen Augenblick und atmete tief durch, bevor ich schließlich entschlossen anklopfte.
Sekunden später drehte sich der Schlüssel im Schloss, als hätte Adam direkt hinter der Tür auf mich gewartet.
„Entschuldige Jess, ich hatte keine Wahl“, sagte er leise, als ich mit Jad eintrat. Mitten in seinem Behandlungszimmer stand ein Mann mit drohend vorgehaltener Waffe, mit der er beängstigend genau in unsere Richtung zielte.
Während ich die Situation mit einem Blick erfasste, gab Jad bereits ein unheilvolles, warnendes Knurren von sich, wie ich es von ihm noch nie gehört hatte. Er sprang vor und baute sich schützend vor mir auf. Drohend zog er die Lefzen hoch, bleckte knurrend die Zähne und ließ durch sein Gebaren keinen Zweifel daran, dass er mich beim geringsten Anlass sofort bedingungslos gegen den Eindringling verteidigen würde.
„Pfeif sofort den Köter zurück, oder ich knall ihn ab!“, drohte der Fremde und fuchtelte sichtlich nervös mit seiner Waffe herum. „Na los, raus mit ihm!“
Jad bellte drohend, doch ich packte ihn fest am Halsband.
„Aus, Jad!“
Er gehorchte zwar, aber dennoch spürte ich die ungeheure Anspannung in dem Tier. Ein Wort von mir, eine unbedachte Bewegung des Fremden, und er würde wie der Blitz auf den Mann losgehen. Das durfte ich nicht zulassen, denn so schnell Jad sich auch bewegte, eine gezielte Kugel wäre schneller.
„Ganz ruhig, Jad.“ Ich zwang mich ebenfalls zur Ruhe und sah dem Fremden fest in die Augen. „Bleiben Sie dort stehen, ich bringe ihn hinaus. “ Nachdrücklich zog ich am Halsband. „Jad! Komm schon, aus!“
Jad war viel zu gut geschult, um sich einem Befehl zu widersetzen. Trotzdem musste er momentan mit einem Widerspruch klarkommen. Zum einen hatte er den Befehl bekommen, mich zu beschützen, zum anderen war ich jetzt, in Coopers Abwesenheit, für ihn der Boss.
Deshalb zögerte er kurz, bevor er reagierte. Langsam, aber spürbar widerwillig ließ er sich von mir zur Tür führen, die Adam noch immer aufhielt.
Ich schob meinen Beschützer über die Schwelle und bückte mich dabei zu ihm hinunter.
„Lauf zurück und hol Ramon!“, raunte ich ihm ins Ohr.
Jetzt zögerte er keine Sekunde. Wie ein Blitz jagte er über den Flur zurück in unseren Trakt.
Innerlich aufatmend drehte ich mich um, nickte Adam kurz zu, der kreidebleich an der Wand lehnte und schloss die Tür. Jad wusste, was zu tun war und würde Hilfe holen, da war ich ganz sicher.
Fragte sich nur, was in der Zwischenzeit geschah…
Der Mann stand noch immer an derselben Stelle, hatte die Waffe jedoch sinken lassen und schien sich langsam zu entspannen. Er war schätzungsweise um die Vierzig, relativ schlank, nicht sehr groß, aber breitschultrig und trug zu dunklen Blue Jeans eine teuer aussehende, schwarze Lederjacke mit dem deutlich sichtbaren Label von Armani. Das dunkle Haar war kurzgeschnitten, und die bucklige Nase sah aus, als wäre sie irgendwann einmal bei einem Boxkampf gebrochen und nicht wieder richtig zusammengewachsen. Sein auffallend kantiges Gesicht zierte ein Dreitagebart, der ihn noch etwas bedrohlicher aussehen ließ, als das ohnehin schon der Fall war. Die schmalen Lippen fest aufeinandergepresst und die dichten Augenbrauen drohend zusammengezogen musterte er mich eindringlich, wobei sich über seiner Nasenwurzel eine steile Falte bildete. Vermutlich saß ihm der Schreck über Jads angriffsbereites Verhalten noch immer in den Gliedern, was mich trotz der bedrohlichen Situation mit Genugtuung erfüllte.
Ich ahnte bereits, weshalb der Typ hier aufgetaucht war, und wem ich diesen Besuch zu verdanken hatte. Aber ich wusste auch, dass Hilfe unterwegs war und musste lediglich versuchen, etwas Zeit zu gewinnen.
„Was wollen Sie?“, fragte ich und versuchte so gut es ging, mir meine innere Anspannung nicht anmerken zu lassen.
„Jessica Hausmann?“, knurrte er, fast ohne die Lippen zu bewegen.
„Das wissen Sie doch längst. Also, was kann ich für Sie tun, damit wir diese Farce hier beenden, und mein Kollege in Ruhe weiterarbeiten kann?“
Er griff in die Seitentasche seiner Designerjacke und brachte einen Brief zum Vorschein.
„Lies das!“
Zögernd nahm ich den Umschlag entgegen und entfaltete betont langsam den darin befindlichen Brief. Ich erkannte die Handschrift auf den ersten Blick und wusste sofort, wer die Zeilen geschrieben hatte.
„Jessi, es tut mir leid, was ich getan habe. Dich in diese Sache mit hineinzuziehen war der größte Fehler, den ich je begangen habe. Leider ist es zu spät, um noch etwas daran zu ändern. Alles ist irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Ich muss meinen Gläubigern beweisen, dass wir sie nicht betrügen wollen, weder du noch ich, aber dazu brauche ich deine Hilfe, bevor sie mich hier finden. Du musst unbedingt nach Vegas kommen, weg von LA, wo uns die Polizei auf den Fersen ist. Der Mann, der dir diesen Brief überbringt, wird dich zu mir bringen. Du kannst ihm vertrauen. Bitte hilf mir, Jessi, nur dieses eine Mal noch… Jim“
Ich starrte auf die Zeilen, bis sie vor meinen Augen verschwammen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Er besaß wahrhaftig die Unverfrorenheit, bei seinen Spielschulden von "wir" zu sprechen! Dabei hatte ich nicht das Geringste damit zu tun! Einzig und allein wegen ihm steckte ich bis zum Hals in den Schwierigkeiten mit drin. Dachte dieser Idiot allen Ernstes, ich würde mich aus dem sicheren Schutz des LAPD und entgegen Coopers Weisungen direkt in die Höhle des Löwen begeben, um ihm den Hals zu retten? Ganz abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ich das überhaupt anstellen sollte! Mit Sicherheit glaubte Jim, das Geld in Las Vegas erspielen zu können. Sollte ich ihm bei diesem höchst zweifelhaften Unterfangen vielleicht Händchen halten und mich, wenn es nicht klappte, mit ihm zusammen von den Kerlen umbringen und in der Wüste verscharren lassen?
„Jess?“, vernahm ich Adams Stimme wie durch einen Nebel. „Alles in Ordnung?“
„Nein“, antwortete ich, mühsam meine Wut unterdrückend, sah dabei aber nicht ihn, sondern den Überbringer des Briefes an. „Was soll dieser Blödsinn? Woher haben Sie den Wisch?“
„Von Jim“, erwiderte der Unbekannte gelassen. „Er vertraut mir. Und das kannst du auch.“
Obwohl mir absolut nicht danach zumute war, musste ich lachen.
„Ihnen vertrauen, Mister? Das ist ja wohl mehr als ein übler Scherz, oder? Sie kommen hierher, in unsere Praxis, bedrohen meinen Kollegen mit einer Waffe und zwingen ihn, mich herzulocken? Was erwarten Sie denn jetzt? Dass ich ihnen bedingungslos in die Wüste folge?“
„Ja“, erklärte er scheinbar ungerührt und winkte bedeutungsvoll mit seiner Waffe. „Genau das erwarte ich von dir, und zwar sofort und ohne irgendwelches Aufsehen.“
Ich sah ihn an und verstand, dass er keine Scherze machte.
„Wieso hier?“, fragte ich, um Zeit zu gewinnen. „Wieso sind Sie nicht direkt zu mir gekommen, so wie Jim es vor ein paar Tagen getan hat? Wieso hat er Sie nach nebenan geschickt?“
Er blinzelte und seine Mundwinkel zuckten kurz, ein deutliches Zeichen, dass ich ihn mit dieser Frage aus dem Konzept gebracht hatte.
„Er hat mir gesagt, an wen ich mich wenden soll, um dich zu erreichen.“
„Das kann nicht sein“, erwiderte ich. „Er kennt weder Dr. Luis, noch diese Praxis hier.“
Der Mann stutzte kurz, doch dann straffte er die Schultern und hob entschlossen die Waffe.
„Aber ich kenne sie. Und nun komm endlich, oder muss ich dich erst überreden?“
Ich tauschte einen kurzen Blick mit Adam und wies dann mit einer Kopfbewegung auf die Tür zum Nachbartrakt.
„Okay, ich werde mit Ihnen gehen, aber erst muss ich die Tasche mit meinen Papieren holen. Sie können mich gern begleiten.“
„Netter Versuch, aber wir gehen ohne die Tasche“, erwiderte der Mann ungerührt und winkte erneut ungeduldig mit der Waffe. „Wir gehen hier hinaus, auf demselben Weg, auf dem ich hereingekommen bin. Dann kann der Doktor ungestört weiterarbeiten.“
„Wenn Sie meine Kollegin mit der Waffe bedrohen, wird mein Sicherheitsdienst einschreiten“, warf Adam kurzentschlossen ein.
„Welcher Sicherheitsdienst?“, grinste der Unbekannte und griff nach der Türklinke. „Das LAPD sitzt nebenan, nicht hier. Also… los jetzt, gehen wir!“
Ungeduldig riss er die Tür auf und wurde urplötzlich wie von Zauberhand von einer unsichtbaren Kraft zurück in den Raum geschleudert. Seine Waffe flog in hohem Bogen direkt auf mich zu. Geistesgegenwärtig fing ich sie auf. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich so ein Ding in den Händen hielt. Ich fasste sie mit den Fingerspitzen wie ein heißes Eisen, als fürchtete ich, mich jeden Augenblick daran zu verbrennen. Trotzdem ließ ich nicht los. Ich stand da, starrte auf den sich am Boden windenden Mann, hörte Jads warnendes Gebell und vernahm wie von Ferne unendlich erleichtert Ramons Stimme:
„Alles in Ordnung, Jess?“