38. Licht und Schatten
Mir war, als hätte mich Frank Chambers trotz Vorwarnung mit seinen Worten gnadenlos in ein tiefes schwarzes Loch gestoßen, aus dem es kein Entrinnen gab.
„Nein… bitte nicht…“, wimmerte ich und sank neben Jad auf die Knie. Der Hund sprang auf, knurrte irritiert und legte mir dann mit einem kläglichen Winseln seine Schnauze auf die Schulter, als wolle er mich beschützen.
Beschützen… wovor?
Vor der Wahrheit, die so weh tat, als hätte mir jemand einen spitzen Dolch mitten ins Herz gestoßen?
Sekunden später war auch Paloma an meiner Seite. Sie nahm mir das Handy aus der Hand, reichte es wortlos ihrem Bruder und schloss mich in ihre Arme.
„Was ist los, Süße? Wer hat dich angerufen?“
„Der Ermittler, mit dem ich am Absturzort gesprochen habe“, schluchzte ich haltlos. „Vor einigen Stunden wurde die Leiche von Rebecca Cooper geborgen. Sie konnte aber allein keinen Helikopter fliegen. Deshalb…“ Ich schluckte schwer, denn die folgenden Worte wollten kaum über meine Lippen. „Sie vermuteten, dass da noch jemand bei ihr war. Vor ein paar Minuten haben sie ihn gefunden. Jetzt haben wir Gewissheit…“
„Gewissheit worüber?“, fragte Paloma eindringlich. „Du glaubst, dass es Cooper ist, den sie gefunden haben?“
Ich nickte heftig.
„Er war bei ihr, und es war sein Helikopter.“
„Komm schon, das bedeutet doch noch lange nicht, dass er ihn auch geflogen hat! Ein hervorragender Pilot wie er stürzt nicht einfach ohne Grund über dem Meer ab!“, protestierte Paloma mit einer beneidenswerten Logik, zog mich energisch auf die Füße und zwang mich, sie anzusehen. „Dass Dean tot ist, glaube ich erst, wenn ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe. Hör auf zu weinen, Jess! Schwangerschaftshormone hin oder her - Wo zum Teufel bleibt dein unverwüstlicher Optimismus?“
„Keine Ahnung“, schniefte ich und nahm das Kleenex, das sie mir reichte. „Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch glauben soll!“
„Jess!“
Shemar, der das Telefonat mit Chambers inzwischen beendet und danach ein paar kurze Worte mit Ty und Ramon gewechselt hatte, kam eilig zu mir herüber. Er reichte mir das Handy, legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir eindringlich in die Augen. „Du hast Chambers vorhin nicht ausreden lassen. Also hör mir jetzt gut zu: Die Leiche, die sie gefunden haben, ist nicht die von Coop, soviel steht bereits fest.“
„Was?“ Fassungslos starrte ich ihn an und zitterte plötzlich wie Espenlaub. Hätte er mich nicht gehalten, wäre ich wahrscheinlich zum zweiten Mal an diesem Tag in die Knie gegangen. „Was sagst du da?“
„Es handelt sich um einen weitaus älteren Mann“, fuhr Shemar fort und nickte mir beruhigend zu. „Ramon sagte dir doch vorhin, Coop hätte Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine dunkle Kapuzenjacke getragen, als er das Haus verließ. Der Tote trägt einen Anzug. Als sie ihn aus dem Wasser gezogen haben, hatte er sogar noch den Pilotenhelm auf, was bedeutet, dass er den Helikopter auch geflogen hat. Genaueres werden wir zwar erst später, nach detaillierten Untersuchungen erfahren, aber ich habe Chambers bereits gesagt, dass wir vermuten, dass sich Coops Vater eventuell seit gestern hier aufgehalten hat. Vielleicht gibt es ja einen Zusammenhang.“
„Wie kommst du darauf, dass er hier ist?“, fragte Paloma skeptisch.
„Weil Ramon sagte, dass Rebecca anscheinend sehr aufgeregt war, als Coop am Telefon mit ihr sprach. Vor wem sollte sie sich denn fürchten, außer vor dem Mann, vor dem sie und ihr Sohn weggelaufen sind?“
Ich stand immer noch zitternd da und brauchte ein paar Sekunden, bis mich die eben gehörten Worte wirklich erreichten. Der Himmel über mir war zwar noch immer strahlend blau, doch mit einem Schlag wurde alles um mich herum noch heller, als es ohnehin schon war.
Was hatte Shemar eben gesagt?
Dean war vielleicht gar nicht tot! Jemand anders hatte, warum auch immer, seinen Helikopter geflogen! Und allem Anschein nach war dieser Jemand sein Vater gewesen!
Meine Lebensgeister erwachten mit Urgewalten zu neuem Leben.
„Worauf wartet ihr dann noch?“, rief ich und griff nach dem Halsband meines tierischen Freundes. „Jad wollte unbedingt in dieses Haus, also lassen wir ihn seine Arbeit tun!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, klinkte ich die Leine aus. „Komm schon, alter Junge, zeig uns, was du draufhast! Bring uns zu Dean!“
Jad stürzte los wie von der Tarantel gestochen. Er fegte durch die offene Haustür, vorbei an Ty und Shemar, ins Innere des Hauses, durchquerte ohne zu zögern die Diele, ein angrenzendes Durchgangszimmer und blieb in der dahinter gelegenen Küche plötzlich wie angewurzelt stehen.
„Da ist niemand, Jad, da haben wir schon nachgesehen. Der Raum ist leer“, meinte Ty, doch der routinierte Polizeihund begann aufgeregt zu bellen und mit den Pfoten auf dem alten, abgenutzten Teppich zu scharren, der zwischen Tisch und Anrichte auf der Erde lag.
„Was zum Teufel…“, begann Ramon, brach jedoch mitten im Satz ab, während wir anderen allesamt ebenfalls wie erstarrt verstummten, als wir plötzlich leise, wie aus weiter Ferne, von unten her eine gedämpfte Stimme vernahmen, die uns sehr vertraut vorkam:
„Hallo… Hört uns jemand? Wir sind hier… hier unten! Kommt schon, holt uns raus!“
Nur Sekundenbruchteile später erwachten die Männer aus ihrer Starre und begannen, begleitet von Jads aufgeregtem Gebell, den Teppich beiseite zu räumen. Eine Klappe im Fußboden wurde sichtbar. Sie war groß genug, dass ein ausgewachsener Mann problemlos hindurch gelangen konnte. Gesichert war sie mit einem schweren eisernen Riegel, der sich jedoch problemlos von außen öffnen ließ. Spärliches Licht drang aus der Klappe und legte eine Treppe frei, die tief nach unten in einen verborgenen Vorratskeller führte.
Blitzschnell hatte ich mich an den Männern vorbeigezwängt, kniete Sekunden später am Rand der Klappe und spähte hinunter. Was ich dort sah, entlockte mir einen erstickten Schrei der Erleichterung, denn ich blickte mitten hinein in ein sehr lebendiges Gesicht, das von den untersten Stufen der Treppe zu mir hinaufsah.
„Dean“, flüsterte ich, denn zu mehr war meine Stimme nicht mehr fähig. „Du lebst…“
„Was hast du denn gedacht?“, ächzte er und erklomm langsam Stufe für Stufe.
„Schnell, packt mit an!“, rief ich geistesgegenwärtig, sprang auf und machte den Männern hinter mir Platz, damit sie ihm heraushelfen konnten, denn er war nicht allein. Auf seinen Armen trug er einen kleinen Jungen im Schlafanzug, der sein Gesicht ängstlich an der breiten Schulter des großen Bruders barg und die Ärmchen fest um dessen Hals geschlungen hatte - Matt Cooper.
Sekunden später stand er vor mir, der Mann, dem inzwischen mein Herz gehörte, dessen Kind ich in mir trug, und von dem ich in den letzten schrecklichen Stunden hatte glauben müssen, dass er tot sei. Abgestürzt über dem Ozean, zusammen mit seiner Exfreundin, die mittlerweile seine Stiefmutter geworden war.
Nun stand er hier, mitten in der Küche dieses fremden Hauses, in den Armen seinen kleinen Halbbruder, der ihn nach wie vor derart ängstlich umklammert hielt, als wolle er ihn nie wieder loslassen.
In mir tobte ein unbeschreibliches Chaos der Gefühle. Da war einerseits die unbändige Freude und Erleichterung, dass er wider aller Erwartungen am Leben und allem Anschein nach noch dazu wohlauf war. Andererseits schien mir die ganze Szene so unwirklich. Ich sah Dean wie durch einen Nebel und wollte ihn gern berühren, um mich selbst davon zu überzeugen, dass dies hier kein Trugbild war. Doch der Drang, mich in seine Arme zu werfen, wurde gebremst von dem kleinen Matt, den ich keinesfalls noch mehr verstören wollte, als er ohnehin schon war. Mir war urplötzlich bewusst, dass für dieses arme Kind mit dem heutigen Tag nichts mehr so sein würde, wie es vorher war. Dass Matt seinen Vater nicht besonders vermissen würde, hielt ich zwar für wahrscheinlich, aber ihm beizubringen, dass er nun auch seine Mutter für immer verloren hatte, würde schwer genug werden. Ich wusste, man musste sehr behutsam vorgehen, um die kleine, verletzliche Kinderseele nicht für immer zu traumatisieren.
Die anderen um mich herum schienen ähnlich zu empfinden, denn sie standen da und wussten anscheinend ebenfalls nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Nur Jad bellte laut und vorbehaltlos seine Freude über die geglückte Rettung heraus und wäre am liebsten an seinem Partner hochgesprungen. Sein Verhalten war es, das mich aus meiner Starre löste.
„Sitz, Jad“, sagte ich bestimmt.
Der hervorragend ausgebildete, kluge Hund gehorchte augenblicklich und blickte mich erwartungsvoll an. Ich ging auf Dean zu und legte ihm meine Hand auf den Arm. Unsere Blicke trafen sich und mir wurde ganz warm ums Herz, denn in diesem Moment spürte ich auch bei ihm diese grenzenlose Erleichterung darüber, dass wir ihn und Matt gefunden hatten, obwohl er bislang noch nicht einmal ansatzweise erahnen konnte, welches Unglück sich in der Zwischenzeit ereignet hatte.
„Matt“, sprach ich Rebeccas kleinen Sohn vorsichtig an und bemerkte, wie er sich beim Klang meiner ihm fremden Stimme sofort in Deans Armen versteifte. „Schau mal, da will dich jemand begrüßen! Du kennst doch Jad, Deans großen Schäferhund, nicht wahr? Er möchte dir unbedingt HALLO sagen.“
Wie zur Bestätigung ließ Jad sein typisches Fiepen ertönen und legte abwartend den Kopf auf die Seite.
„Sieh hin, Matt! Er hat uns beide gerettet. Er und alle, die hier sind. Du brauchst keine Angst zu haben“, flüsterte Dean dem Jungen liebevoll zu. Und tatsächlich, der Kleine hob vorsichtig das Köpfchen aus der Halsbeuge seines großen Bruders und drehte sich zögernd um. Misstrauisch richtete er seine großen blauen Augen auf mich, woraufhin ich ihm ermutigend zunickte und lächelnd nach unten deutete.
„Da, schau mal…“
Der Blick aus den treuen braunen Hundeaugen zeigte mehr Wirkung als tausend gute Worte.
„Jad…“, flüsterte Matt und streckte seine Hand nach dem Hund aus. Dean beugte sich mit ihm zusammen herunter und zauste dann seinerseits seinem Partner wohlwollend das Fell.
„Hey mein alter Junge, das hast du super gemacht!“
Jad schmiegte sich glücklich an Deans Hand und reckte dann stolz den Kopf, als ihn eine kleine Kinderhand vorsichtig zwischen den Ohren graulte.
„Schau mal einer an, Matt, ich glaube, das lässt er sich nur von dir gefallen. Und von Jess. Sie ist nämlich seine große Liebe. Und das kann ich ihm nicht verdenken“, erklärte Dean und zwinkerte mir mit einem verschmitzten Grinsen zu. Ich erwiderte seinen Blick mit einem unendlich erleichterten Lächeln.
„Ich mag ihn“, erklärte Matt mit seinem zarten Kinderstimmchen überzeugt.
„Ich bin sicher, er mag dich auch“, erwiderte ich gerührt. „Ihr beide werdet ganz bestimmt richtig gute Freunde.“
Mutig geworden rutschte der Kleine wenig später von Deans Knie und schlang beide Ärmchen um den Hals des Hundes. Jad war Profi genug, um sich diesen Liebesbeweis ohne weiteres gefallen zu lassen. Er legte seine feuchte Hundeschnauze auf Matts Schulter ab und fiepte leise.
„Ich hab dich auch lieb“, flüsterte der Junge und kuschelte sein Köpfchen an Jads weiches Fell.
Da er nun etwas abgelenkt war, nutzte Dean die Gelegenheit, um sich aufzurichten und mich in seine Arme zu schließen.
„Jess“, raunte er mir ins Ohr. „Du zitterst ja! Geht es dir gut?“
Ich schluckte und nickte heftig.
„Ja, Dean, jetzt geht es mir wieder gut.“
„Ich bin froh, dass du wieder aus New York zurück bist. Ich wollte dich abholen, aber dann ist diese dumme Sache hier passiert.“
„Alle haben gedacht, du wärst tot“, wisperte ich mit erstickter Stimme so leise wie möglich zurück, denn ich wollte Matt durch meine Worte nicht wieder beunruhigen. Dean zog erstaunt die Augenbrauen zusammen und musterte mich, als zweifelte er an meinem Verstand.
„Wie war das eben?“
„Sie haben gesagt, du bist mit dem Helikopter vor der Küste von Malibu ins Meer gestürzt.“
Irritiert schüttelte er den Kopf.
„Wie kommst du denn darauf? Der Vogel steht doch hinter dem Haus!“
Ich schluckte und schüttelte den Kopf, während sich meine Augen erneut mit Tränen füllten.
„Nein, Dean. Rebecca ist damit geflogen.“
Er sah mich noch immer an, als hätte er kein Wort verstanden.
„Was? Aber sie kann unmöglich…“ Er brach mitten im Satz ab und schüttelte fassungslos den Kopf. „Er hat den Heli genommen und hat sie gezwungen, mitzufliegen.“
„Von wem sprichst du?“
Inzwischen waren auch die anderen näher herangetreten, um die Unterhaltung um Matts Willen so diskret wie möglich zu führen, und um zu hören, was Dean zu sagen hatte.
„Ich spreche von meinem Vater, Jess. Er war hier und wollte Matt mit Gewalt zurückholen. Wir haben uns versteckt, damit er und seine beiden Helfer uns nicht finden konnten, aber Rebecca ist im letzten Moment noch einmal nach oben gelaufen, um ihr Handy zu holen. Ich hatte Matt auf dem Arm und konnte sie nicht zurückhalten. Plötzlich hat sie von außen die Klappe verriegelt und gerufen, wir sollten uns ruhig verhalten, sie würde schon alles regeln. So könnte sie endlich wiedergutmachen, was sie mir damals angetan hatte. Das wäre sie mir schuldig. Mein Vater sollte Matt auf keinen Fall bekommen. Und falls ihr etwas geschehen würde, dann sollte ich für ihn sorgen.“
„Das hat sie gesagt?“
Er nickte und ich sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, darüber zu reden.
„Matt und ich hockten hilflos da unten im Keller, als wir wenig später oben laute Stimmen hörten. Ich erkannte die Stimme meines Vaters. Er drohte Rebecca, aber sie rief, er würde Matt nie wiedersehen, denn ich sei mit ihm weggefahren, um ihn in Sicherheit zu bringen. Ich befürchte, er hat sie daraufhin geschlagen, denn es klang verdächtig nach einem Handgemenge.
Sie schrie ihn an und nannte ihn einen bösartigen Bastard. Ich hörte noch, wie mein Vater seinen Leuten befahl, den Wagen zu nehmen und am Flugplatz auf ihn zu warten. „Ich finde den Jungen. Du Miststück wirst mir zeigen, wo Dean ihn hingebracht hat! Und Gnade dir Gott, wenn du es nicht tust!“, waren die letzten Worte, die ich vernahm, dann war alles still. Matt war sehr aufgeregt und weinte leise, aber es gelang mir schließlich, ihn zu beruhigen. Als er irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen war, versuchte ich die Klappe zu öffnen, doch es funktionierte nicht. Kurz darauf hörte ich Jad oben bellen. Ich hatte ihn im Helikopter gelassen, als ich ins Haus lief, um Becky und Matt zu holen. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich doch nicht ahnen, dass ihnen mein Vater und seine Leute bereits so dicht auf den Fersen waren, dass wir es nicht mehr schaffen würden, vor ihnen das Haus zu verlassen.“
„Dann muss Jad aus dem Helikopter herausgesprungen und weggelaufen sein, als sie später die Tür öffneten um einzusteigen.“
Dean nickte.
„So muss es gewesen sein. Als ich ihn oben an der Klappe scharren hörte, habe ich ihm zugerufen, er soll zu Ramon nach Hause laufen und Hilfe zu holen.“
„Oh mein Gott“, stöhnte ich und hielt mich zitternd an ihm fest. „Wenn Jad uns nicht rechtzeitig hergeführt hätte, dann wärt ihr dort unten vielleicht…“
Beruhigend streichelte er meinen Rücken.
„Es ist ja alles gut, Jess. Ich konnte mich stets auf meinen Partner verlassen, und dank dir weiß ich, dass sich daran nichts geändert hat.“
„Aber warum hat sich Rebecca nicht mit euch zusammen versteckt?“
„Ich denke, dazu war keine Zeit mehr. Sie hat so gehandelt, um uns beide zu schützen“, erklärte Dean seine Vermutung. „Sie wollte sicher auf eine günstige Gelegenheit warten, um dem Alten zu entwischen und sobald wie möglich zurückzukommen, um uns wieder zu befreien.“
Er sah zuerst meinen Blick, dann die Blicke der anderen, und seine Wangen verloren deutlich an Farbe. „Du sagtest vorhin, sie sei mit dem Heli geflogen? Und du hast einen Absturz erwähnt, bei dem alle glaubten… Jess, was zum Teufel…“
„Sie kommt nicht mehr zurück, Dean“, flüsterte ich, damit Matt mich nicht hören konnte, und meine Stimme drohte zu versagen. „Sie ist tot.“
Seine Gesichtsmuskeln zuckten verdächtig, als Ramon ihm schweigend die Hand auf die Schulter legte.
„Und… was ist mit meinem Vater? Wenn überhaupt, dann hat er den Helikopter geflogen! Er muss sie gezwungen haben, ihn zu begleiten, weil er glaubte, sie würde ihn zu seinem Sohn bringen, wenn er sie nur genug einschüchtern würde.“
„Kann er denn fliegen?“
„Sicher doch. Er war vor vielen Jahren einer der jüngsten Hubschrauber-Piloten der US-Army, die zum Kriegseinsatz geschickt wurden. Ich habe dir doch erzählt, dass er sich Ramon verpflichtet fühlte. Er hat meinem Vater damals das Leben gerettet.“
„Das ist lange her.“ Man sah Ramon an, dass er sich nur ungern an diese Zeit zurückerinnerte. „Wir wurden nach Vietnam geschickt, als der Krieg gerade zu Ende ging. Maxwell Cooper quittierte sofort nach seiner Rückkehr den Dienst bei der Army. Soweit ich weiß, ist er danach nie wieder geflogen. Trotzdem verlernt man so etwas nicht.“
Jetzt begann das ganze Ausmaß der Absturz-Tragödie einen Sinn zu ergeben. Hilfesuchend blickte ich Ramon an und er nickte mir unmerklich zu.
„Dean…“ begann ich zögernd, doch ich wusste, dass ich ihm nichts vorenthalten durfte. „Der zuständige Ermittler hat mich angerufen, unmittelbar bevor wir euch hier fanden. Sie haben nach Rebecca noch eine zweite Leiche geborgen. Einen älteren Mann, der deinen Pilotenhelm trug.“
Er atmete tief durch, die Lippen fest aufeinandergepresst.
„Dann hatte ich also recht mit meiner Vermutung.“
„Sie sind noch nicht sicher.“
„Was gibt es daran zu zweifeln? Es passt alles zusammen. Er konnte fliegen und hat Becky gezwungen, ihn zu begleiten. Wer weiß, was da oben passiert ist. Vielleicht versuchte er ihr Angst einzujagen und hat den Helikopter dabei überzogen. Vielleicht hat sie ihn auch angegriffen, während er flog.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Ich befürchte fast, das wird nun ewig ihr Geheimnis bleiben.“
„Das tut mir so leid, Dean.“
„Nicht um ihn“, widersprach er hart. „Er war kein guter Mensch. Aber sie… Egal, was sie vor Jahren für Fehler gemacht hat, Matthew sollte nicht dafür büßen müssen, indem er gleich beide Eltern verliert.“
„Leider können wir nichts mehr daran ändern. Du musst es ihm schonend beibringen.“
„Später. Lass ihn erst einmal zur Ruhe kommen. Er braucht dringend etwas zu essen und ein wenig Schlaf. Am besten wir bringen ihn zu Celia.“
„Wenn es stimmt, dass dein Vater seine Begleiter zum Flughafen geschickt hat, um dort auf ihn zu warten, dann sollten wir schnellstens den ermittelnden Detective anrufen. Er kann das Terminal überwachen lassen“, schlug Butch vor.
Dean zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Was soll denn das noch bringen? Die beiden haben doch nichts getan, außer seinem Auftrag zu folgen und ihn zu begleiten.“
„Aber sie könnten aussagen…“
„Wozu? Aus welchem Grund sie hier waren, wissen wir bereits. Mein Vater hat seine Lakaien immer bestens bezahlt. Wenn sie hören, dass ihr Geldgeber tot ist, verschwinden die von ganz allein auf Nimmerwiedersehen. Also weshalb noch nach ihnen suchen?“
„Er hat Recht, Butch“, stimmte Ty zu. „Konzentrieren wir uns lieber auf wirklich wichtige Dinge. Wir müssen dem Chief Bericht erstatten. Und Chambers anrufen.“
„Ich erledige das“, nickte Shemar und zückte sein Handy. „Bringt ihr inzwischen den Jungen nach Hause.“
Paloma fuhr uns in ihrem kleinen Toyota zurück nach Bel Air, während Butch und die Polizisten vor Ort auf die Ermittler warteten. Natürlich würde auch Dean eine Aussage machen müssen, aber momentan konnte und wollte er Matt nicht allein lassen.
Der Kleine lehnte in seinem Arm und döste vor sich hin. Seine Hand lag auf Jads Fell. Unser vierbeiniger Officer hatte es irgendwie geschafft, sich in dem winzigen Auto zwischen mich und Dean auf die Rückbank zu quetschen, um in Matts Nähe zu bleiben, während Ramon vorn neben Paloma saß.
Matt hatte, bevor wir losfuhren, bitterlich geweint und nach seiner Mama verlangt. Dean war es schließlich gelungen, ihn zu beruhigen, indem er ihn zunächst glauben ließ, Rebecca sei nur eben mal unterwegs, um etwas zu besorgen. Diese Notlüge würden wir spätestens in ein paar Stunden sehr behutsam berichtigen müssen.
Er trug noch immer diesen Schlafanzug mit den Superman-Figuren darauf und sah mit seinen knapp vier Jahren wie ein kleiner Engel aus. Zum Glück war er noch zu jung, um zu begreifen, dass er heute zum Waisenkind geworden war. Aber er hatte Dean. Ich wusste, sein großer Bruder würde ihn nicht im Stich lassen. Und wenn er es zuließ, würde auch ich für ihn da sein.
Ich blickte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Während die Landschaft draußen an uns vorbeiflog, dachte ich an all die schlimmen Dinge, die in den letzten Stunden geschehen waren, an die Angst, die ich um Dean ausgestanden hatte und an das Geheimnis, dass ich unter meinem Herzen trug, und von dem er noch nichts ahnte. Ich spürte, in der gegenwärtigen Situation musste ich einfach abwarten, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, um es preiszugeben. Allerdings konnte ich nicht mehr lange damit warten. Dean war nicht dumm, irgendwann würde er fragen, warum ich nicht mehr in der Station arbeitete. Außerdem befürchtete ich, dass Celia vielleicht etwas auffiel, oder Paloma sich aus Versehen verplapperte.
Plötzlich spürte ich Deans Hand auf meiner Schulter.
„Alles wird gut, Jess. Ganz sicher.“
Ich schloss die Augen und nickte.
Oh ja, genau das war es, was ich von ganzem Herzen hoffte.