40. Showdown
Er stand dicht vor mir und wartete auf eine Antwort.
So gut ich konnte hielt ich dem finsteren Blick aus seinen unergründlich dunklen Augen Stand.
„Dean… bitte lass uns später darüber reden. Curt hat üble Schmerzen und sollte so schnell wie möglich behandelt werden“, sagte ich schließlich entschlossen und nahm Paloma eilig die Spritze aus der Hand. „Ich muss jetzt anfangen.“
„Okay. Wir reden, wenn du hier fertig bist“, knurrte er widerwillig und nickte wie zur Bestätigung. „Ich warte unten.“
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, sahen Paloma und ich einander sekundenlang schweigend an.
„Verdammt“, murmelte sie kopfschüttelnd, während sie sich anschickte, die zweite Spritze aufzuziehen. „Das sollte wohl etwas anders laufen, denke ich.“
„Ich kläre das schon“, erwiderte ich gespielt gleichgültig, obwohl mir das Herz bis zum Hals schlug. „Jetzt weiß er es wenigstens. Und nun lass uns endlich anfangen!“
Einen Augenblick lang nahm ich mir die Zeit und streichelte Curts weiches Fell, zu seiner und zu meiner eigenen Beruhigung, bevor ich ihm die erste Spritze verabreichte.
Von diesem Augenblick an blendete ich alle persönlichen Gefühle aus. Es war fast so, als würde jemand einen Schalter in meinem Kopf betätigen. Vor allem bei Operationen kam mir diese besondere Fähigkeit zugute. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf meine Arbeit, funktionierte nur für den Patienten, und jeder Handgriff saß präzise und genau.
Erst wenn Curt bestmöglich versorgt war, würde ich meinen Gefühlen nachgeben und mich dem Unvermeidlichen stellen.
Zwei Stunden später lag unser Dynamit-Curt schlafend und mit dickem Verband im Aufwachraum.
Paloma säuberte die Instrumente, während ich noch einmal die Vitalwerte des Hundes überprüfte, mich anschließend umzog und anschickte, nach unten zu gehen.
„Brauchst du seelischen Beistand, Süße?“, fragte Paloma mit ihrer rauchigen Stimme und zwinkerte mir aufmunternd zu.
„Keine Ahnung. Wenn es ganz schlimm werden sollte, kannst du ja nach unten kommen und mir das „Lied vom Tod“ singen.“
Sie lachte.
„Ich halte Coop nach wie vor für einen halbwegs intelligenten Menschen. Er wird dir sicher nicht den Hals umdrehen.“ Mit einer nachdrücklichen Handbewegung wies sie auf meinen Bauch. „Immerhin ist das hier eine Sache, an der ihr beide beteiligt gewesen seid. Also Kopf hoch, Baby, schnapp ihn dir und verschaff dir endlich Klarheit!“
Ja, genau das würde ich tun. Trotzdem schlich ich über den Flur wie ein geprügelter Hund und wünschte mir in diesem Augenblick wenigstens einen kleinen Teil von Palomas unverwüstlichem Enthusiasmus.
An der Treppe angekommen atmete ich tief durch, straffte die Schultern und schritt hoch erhobenen Hauptes Stufe für Stufe nach unten. Was auch passierte, ich würde mich nicht unterkriegen lassen, auf gar keinen Fall! Allerdings würde ich demjenigen, der Dean hinter meinem Rücken von meiner Schwangerschaft erzählt hatte, später liebend gern an die Gurgel gehen.
Butch, Dean und die beiden Polizisten saßen am Tisch und unterhielten sich miteinander, während auf dem großen Flachbildschirm, der über der Anrichte hing, ein Zeichentrickfilm lief, den sie ganz sicher für den Jungen ausgesucht hatten. Der sah jedoch gar nicht hin, sondern spielte mit Jad und warf ihm immer wieder einen kleinen Ball zu, den der Hund jedes Mal geschickt mit der Schnauze auffing.
Matt war es auch, der mich zuerst bemerkte und sofort auf mich zugelaufen kam.
„Jess! Ist der große Hund jetzt wieder gesund?“
Die helle Kinderstimme zauberte umgehend ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich beugte mich zu ihm herunter und strich ihm liebevoll eine seiner hellen Haarsträhnen aus der Stirn.
„Im Augenblick schläft er noch, aber bald geht es ihm wieder gut.“
„Kann ich ihn aufwecken und mit an den Strand nehmen?“
„Du darfst mit Butch hinauf zu Paloma gehen und Curt vorsichtig streicheln, aber aufwecken solltest du ihn nicht. Er schläft sich nämlich erst gesund, und das kann noch ein paar Stunden dauern.“
Aufgeregt wirbelte Matt herum.
„Onkel Butch, kommst du?“
„Na klar, mein Freund, das will ich auf keinen Fall verpassen!“ So schnell es seine schmerzenden Knie erlaubten, sprang Butch auf und nahm die kleine Kinderhand, die sich ihm erwartungsvoll entgegenstreckte, in seine große Pranke. „Was ist mit euch, Jungs?“, fragte er die beiden Officer Curtis und Garner, die zwar aufgesprungen waren, nun jedoch etwas unschlüssig herumstanden. „Wollt ihr eurem Partner nicht auch einen kleinen Besuch abstatten?“
„Klar kommen wir mit!“, rief Garner erfreut, und Curtis schüttelte mir im Vorübergehen erleichtert die Hand. „Danke Doc! Vielen Dank!“
„Keine Ursache.“
Ich blieb einen Moment lang stehen und sah ihnen nach, wie sie die Treppe hinauf zur Praxis gingen. Dann atmete ich tief durch, bevor ich mich langsam zu dem einen umwandte, der noch immer am Tisch saß.
„Und was tun wir jetzt?“
An seinem Blick hatte sich in den letzten zwei Stunden nichts geändert. Finster sah er mich an.
„Wir reden.“
Ich unterdrückte ein Seufzen, nickte ergeben und wies auf die Tür. „Lass uns bitte nach draußen gehen, ich möchte mir ein wenig die Beine vertreten und den Geruch der Desinfektion aus der Nase bekommen.“
Dean erhob sich wortlos, schaltete den Bildschirm per Fernbedienung aus und trat einen Schritt vor, um mir die Tür aufzuhalten.
Ich schlüpfte an ihm vorbei ins Freie und atmete erleichtert auf, als die frische, würzige Meeresluft, die vom Strand herüberwehte, meine Lungen füllte.
Schweigend liefen wir nebeneinander her, über den Parkplatz, hinüber zum Strand. In diesem Augenblick hätte ich für mein Leben gern seine Hand genommen, doch ich wagte es nicht. Diese unheilvolle Stille stand wie eine unsichtbare Mauer zwischen uns, und ich spürte mit jeder Faser, wie wütend er war.
Wenn er doch endlich etwas sagen würde!
Doch stattdessen wies er auf eine der Bänke am Übungsplatz, setzte sich und blickte hinaus aufs Meer. Zögernd nahm ich neben ihm Platz.
„Woher weißt du es?“, fragte ich leise, als ich glaubte, das Schweigen nicht länger ertragen zu können.
„Auf jeden Fall leider nicht von dir“, erwiderte er, ohne mich anzusehen. „Es ist also wahr?“
„Dass ich schwanger bin? Ja, das ist wahr.“
Er drehte den Kopf und sah mich prüfend an.
„Bist du deshalb nach New York geflogen?“
„Was? Aber du weißt doch, dass ich mich dort mit Cait treffen wollte!“
„Ach ja?“ Er schnaufte verächtlich. „War es nicht vielleicht eher so, dass wir deinem Ex-Verlobten nicht ganz zufällig am Flughafen begegnet sind? Wolltest du mit ihm zurück nach Irland fliegen, um ganz neu anzufangen, weil du gehofft hast, ihn durch deine Neuigkeiten endlich zur Vernunft zu bringen?“
„Wie kommst du denn auf diesen Blödsinn? Ich habe dir doch gesagt, dass ich mit ihm ein für alle Mal abgeschlossen habe!“
„Ja, aber jetzt bist du schwanger.“
Ich starrte ihn fassungslos an, denn nun ging mir endlich ein Licht auf.
„Hey Moment mal… Du glaubst doch nicht…“, begann ich und hob abwehrend die Hände, doch er ließ mich gar nicht zu Wort kommen.
„Ich bin nur deshalb so verdammt wütend, weil du`s mir nicht gesagt hast, Jess!“
„Dafür gibt es einen guten Grund.“
„Ach ja? Am Flughafen wolltest du unbedingt eine Liebeserklärung von mir. Du hast sie bekommen. Was zum Geier willst du denn noch, damit du endlich begreifst, wieviel du mir bedeutest? Ich werde dich nicht einfach aufgeben, nur, weil du sein Kind bekommst! Dann werden wir es eben gemeinsam großziehen, zusammen mit Matthew. Und wir werden dafür sorgen, dass es kein Spieler wird! Und irgendwann werden wir beide vielleicht auch noch gemeinsam eins haben, du und ich, und dann...“
„Stopp!“ Ich hob abwehrend beide Hände um seinen Redeschwall zu bremsen. „Warte mal! Ich glaube, du hast da etwas… missverstanden!“
„Was zum Teufel gibt es da falsch zu verstehen?“
„Zuerst einmal: Wer in der Klinik hat die verdammte Frechheit besessen und dir gesagt, dass ich ein Baby bekomme? Die Ärztin?“
„Nein, gesagt hat es mir niemand. Es war eher ein Zufall.“
„Ein Zufall, ja?“ Verärgert schüttelte ich den Kopf. „Da habe ich schon bessere Lügen gehört.“
„Ich habe es selbst herausgefunden.“
„Einfach so? Das soll ich dir glauben?“
„Ich sage die Wahrheit. Zuerst habe ich John Mitchell in der Klinik getroffen, und er hat sich nach deinem Befinden erkundigt. Vermutlich dachte er, du hättest mir bereits erzählt, dass du ein Baby erwartest. `Sie ist ein nettes Mädchen, Dean. Achte gut auf sie, denn sie sollte sich in ihrem Zustand nicht zu viel zumuten`, waren seine Worte. Das hat mich stutzig gemacht. Als ich zur Anmeldung kam, sortierte die Schwester gerade mehrere Patientenakten ein und entschuldigte sich bei mir, weil sich mein Termin zeitlich etwas verzögerte, da die Ärzte in dieser Abteilung gerade mit der Abrechnung beschäftigt waren. Also habe ich eine Weile am Tresen gewartet, uns da sah ich deine Akte oben auf dem Stapel liegen. Als die Schwester kurz weggerufen wurde…“
„Schon gut, den Rest kann ich mir denken. Sicher war der Begriff „Pregnant“ auch noch rot eingerahmt“, erwiderte ich sarkastisch und schüttelte enttäuscht den Kopf. „Okay, wie dem auch sei, die Sache zeigt mir nur einmal mehr, dass du mir noch immer nicht vertraust.“
„Natürlich vertraue ich dir!“
„Aber trotzdem kontrollierst du mich?“
Er rieb sich verlegen das Kinn.
„Wie gesagt, das war nur ein dummer Zufall. Ich hatte die Gelegenheit und habe sie genutzt.“
„Komm mir bloß nicht mit dieser Tour! Wie soll das mit uns weitergehen? Willst du in Zukunft jeden meiner Schritte überwachen? Mal vorausgesetzt, wir haben überhaupt so etwas wie eine Zukunft, denn mit einem Kontrollfreak kann ich nicht leben.“
„Jess…“
„Nein, ich habe genug von diesem ewigen Misstrauen. Ohne gegenseitiges Vertrauen funktioniert eine Partnerschaft einfach nicht.“
„Vertraust du mir denn?“
„Aber sicher. Was bleibt mir denn anderes übrig bei deinem Lebensstil? Du kommst und gehst, wann es dir passt, und immer unter dem Deckmantel deiner Undercover-Arbeit. Wenn du unterwegs warst, und keiner wusste, wo du bist und was du tust, dann habe ich dir vertraut. Ich gebe zu, es hat mir nicht gefallen, als du dich in der letzten Zeit heimlich mit Rebecca getroffen hast. Aber ich habe mir trotzdem immer wieder eingeredet, dass es dafür sicherlich einen guten Grund geben muss. Allerdings muss ich gestehen, dass mich dein mangelndes Vertrauen doch ziemlich belastet hat. Außerdem war ich bis zu unserem Gespräch am Flughafen nie ganz sicher, ob wir beide überhaupt eine richtige Beziehung haben. So etwas tut weh, Dean!“
Er saß da und starrte hinaus aufs Meer.
„Du hast Recht, Jess“, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit leise. „Es tut mir leid.“
Wow… der hartgesottene Cop zeigte offen Einsicht? Also wenn das kein guter Anfang war!
„Dann versuche es zu ändern. Versuche, dich zu ändern. Du kennst mich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich ehrlich zu dir bin. Ich hintergehe dich nicht, in keiner Weise. Dasselbe erwarte ich auch von dir.“
„Aber warum hast du mir nicht von der Schwangerschaft erzählt?“
„Ich wollte es dir nicht verheimlichen. Ich habe nur gewartet, bis sich nach dem Tod von Rebecca und deinem Vater alles etwas beruhigt, und vor allem wollte ich warten, bis es Matt besser geht.“
„Es geht ihm besser.“
„Ja, seit vorhin, als er Curt schwer verletzt da liegen sah. Das hat ihm so große Angst gemacht, dass er plötzlich anfing zu fragen, ob der Hund nun auch sterben würde, so wie seine Mama.“
„Butch hat mir davon erzählt. Du hast gut reagiert.“
„Ich habe nicht nachgedacht, sondern einfach versucht, das Richtige zu tun.“
„Matt mag dich. Das hat er mir vorhin verraten.“
„Ich mag ihn auch, und ich hoffe, er kann bei dir bleiben.“
„Momentan bin ich dabei, alles zu klären. Matt hat keine weiteren Verwandten. Da sind zwar noch seine Großeltern mütterlicherseits, aber er kennt die beiden gar nicht. Rebecca hat mir erzählt, dass ihre Eltern nie versucht haben, Kontakt zu ihr aufzunehmen, seitdem sie damals von hier weggegangen ist. Also scheinen sie auch kein Interesse an ihrem Enkel zu haben. Zumindest haben sie bisher keinerlei Ansprüche angemeldet.“
„Wie auch immer, du musst um ihn kämpfen. Er gehört zu dir.“
„Zu uns, Jess, er gehört zu uns.“
„Ich war nicht sicher, ob es überhaupt ein „uns“ geben würde, wenn ich dir erzähle, dass ich schwanger bin“, gestand ich mit einem bitteren Lächeln. „Aber ich habe Paloma vorhin versprochen, heute noch mit dir über alles zu reden.“
„Paloma wusste davon?“
„Paloma und Caitlin. Niemand sonst.“
„Weiber“ brummte er kopfschüttelnd. „Und was ist mit Jimbo? Weiß er, dass er Vater wird?“
Jetzt musste ich wirklich ein Lachen unterdrücken. Dean glaubte also wirklich allen Ernstes, ich sei schwanger von meinem Ex?
„Jetzt hör mal, ich habe keine Ahnung, ob Jim irgendwann einmal Vater wird. Und wenn, dann ganz sicher nicht…“
Er schien gar nicht zuzuhören, sondern nahm meine Hände in seine und zwang mich auf diese Art, ihn anzusehen.
„Willst du mich heiraten, Jess?“
„Waaas?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Sag das noch einmal!“
„Wenn du glaubst, ich falle hier mitten auf dem Gelände der Polizeihundestaffel vor dir auf die Knie, damit jeder Cop, der mich zufällig sieht, wochenlang etwas zu lachen hat, also ehrlich, darauf kannst du lange warten!“, murrte er gutmütig und grinste. „Also Doc, hier und jetzt, wollt ihr… ich meine, willst du und das Baby… wollt ihr mich heiraten?“
Nicht nur dieser spontane Antrag machte mich sprachlos und überglücklich, sondern vielmehr noch die Tatsache, dass er mich heiraten wollte, obwohl er glaubte, mein Baby sei gar nicht von ihm. Er wollte mich… alles andere war ihm egal! Konnte ich mir einen besseren Beweis seiner Liebe wünschen?
Trotzdem wollte ich diesen Irrtum so schnell wie möglich aus der Welt schaffen.
„Nein, Dean! Ich werde dich nicht heiraten!“, rief ich spontan und amüsierte mich köstlich über sein dummes Gesicht. „Zumindest nicht, solange du glaubst, mein Baby sei von Jim!“
„Ist es nicht?“, fragte er mit einem derart irritierten Gesichtsausdruck, dass ich nun wirklich laut lachen musste.
„Entschuldige bitte, aber das ist völlig absurd, denn dann könnte ich meinen Zustand sicherlich nicht mehr verbergen! Ich kann mich nämlich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal mit meinem Ex zusammen war. Das ist schon verdammt lange her. Ich habe diesen Mann bereits völlig aus meinem Gedächtnis gestrichen.“
Sein Blick wurde unsicher.
„Aber… du bist doch schwanger!“
„Das ist richtig.“ Lächelnd legte ich meine Hand auf seinen Arm. „Ich lebe nämlich seit kurzem mit einem Typen zusammen, in den ich völlig vernarrt bin, mit dem ich den heißesten Sex meines Lebens habe, der aber gelegentlich gern mal das Kondom vergisst, mich regelmäßig zur Weißglut bringt und manchmal ein ziemlicher Esel ist!“ Nachdrücklich tippte ich mit meinem Zeigefinger an seine Stirn. „Hast du`s endlich verstanden, Cooper? Wir bekommen ein Baby!“
„Wir? Du meinst…“ Seine Stimme drohte zu versagen, deshalb wies er zunächst nur wortlos erst auf sich selbst und dann auf mich.
Lachend nickte ich.
„Aber du hast doch immer gesagt, du nimmst die…“
„Tja, die Pille ist bei Stress und Langzeitflügen nicht hundertprozentig sicher. Ausnahmen bestätigen die Regel, wie man an uns sieht. Und dein Überfall damals in der Dusche…“
Weiter kam ich nicht, denn er sprang auf, zog mich mit einem Freudenschrei in seine Arme und wirbelte mich mit einem Lachen, das ich so noch nie von ihm gehört hatte, herum.
„Ich werde Vater! Jess…“
Unendlich erleichtert und überglücklich stimmte ich in sein Lachen ein und barg den Kopf an seinem Hals. Plötzlich hielt er inne, setzte mich vorsichtig ab und nahm zärtlich mein Gesicht zwischen seine Hände.
„Ich liebe dich!“
„Ich liebe dich auch, du Dummkopf! Aber du hast mir heute richtig Angst gemacht. Und wenn du mir immer noch nicht glaubst, kannst du einen Vaterschaftstest machen lassen, wenn das Baby…“
„Was für ein Blödsinn! Ich vertraue dir!“
„Ach ja?“ Gespielt beleidigt trat ich einen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das klang aber vor ein paar Minuten noch ganz anders, Mister!“
Wieder zog er mich in seine Arme, beugte sich vor und küsste mich unendlich zärtlich und liebevoll.
Jads Gebell und Matthews helle Kinderstimme holten uns abrupt aus unserer Zweisamkeit. Jad rannte wie wild auf uns zu, stoppte kurz vor Deans Füßen und umkreiste uns aufgeregt.
„Dean… Jess…“ Atemlos kam der Kleine wenig später mit seinen kurzen Beinchen bei uns an, packte meine Hand und versuchte mich sogleich energisch mit sich fortzuziehen. „Komm mit, Jess! Schnell!“
„Was ist denn los, Matt?“, fragte ich erstaunt. „Ist etwas mit Curt nicht in Ordnung?“
„Nicht Curt“, erwiderte der Junge aufgeregt. „Tante Lomi ist so komisch. Onkel Butch hat gesagt, ich soll dich holen!“
Ich tauschte einen fragenden Blick mit Dean und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er Paloma meinte. „Was ist denn mit ihr, Matt?“
„Komm schon!“, wiederholte er eindringlich und zog energisch an meiner Hand, während Jad weiter aufgeregt bellend um uns herumsprang. Dean und ich folgten Matt schnellen Schrittes zum Gebäude, wo Garner und Curtis bereits warteten.
„Es geht um Paloma. Sie benimmt sich echt eigenartig. Keine Ahnung, was mit ihr los ist. Butch hat gesagt, wir sollen euch holen, aber der Zwerg war schneller.“
„Bin kein Zwerg!“, erwiderte Matt entrüstet. „Bin schon groß!“
„Klar bist du das“, stimmte Dean lachend zu, nahm ihn auf den Arm und folgte mir eilig die Treppe hinauf.
Die Tür zur Praxis stand, ebenso wie das Fenster, sperrangelweit offen. Ich nahm den etwas eigentümlichen Geruch im Zimmer wahr und ahnte bereits, was passiert war.
Butch stand hinter dem Computerstuhl, auf dem Paloma mit weit von sich gestreckten Beinen mehr lag als saß und uns aus glasigen Augen entgegenstarrte. Bevor ich jedoch etwas sagen oder tun konnte, hatte sie Dean erblickt und fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch. Es schien, als wolle sie ihn mit ihrem ausgestreckten Zeigefinger erdolchen.
„Duuuuu!“
Irritiert setzte Dean seinen kleinen Bruder ab und trat vorsichtig näher.
„Ich?“, fragte er sicherheitshalber nach und tippte mit dem eigenen Finger an seine Brust.
Geistesgegenwärtig winkte ich Butch heran und schob ihn und Matt zur Tür.
„Was ist mit Tante Lomi?“, fragte der Junge beunruhigt.
„Es geht ihr gleich wieder gut, keine Sorge. Sie ist nur müde von der Arbeit und muss sich ein wenig ausruhen.“
Butch nahm seinen kleinen Schützling bei der Hand.
„Na komm, wir schauen mal, was Jad unten treibt.“
„Wird Tante Lomi Dean jetzt verhauen?“, hörte ich Matt noch ängstlich fragen, bevor ich die Tür schnell hinter den beiden schloss, mir mühsam ein Lachen verdrückte und grinsend zurückeilte zu Paloma, die Dean noch immer aus merkwürdig zusammengekniffenen Augen äußerst angriffslustig anvisierte.
„Du arroganter Mistkerl…!“, lallte sie empört und versuchte vergeblich, sich aus dem Stuhl zu erheben. „Du wirst soffott damit aufhören…!“
Völlig überfordert hob er die Hände.
„Aufhören? Aber womit denn, Paloma?“
„Meine Freundin so ferddich zu machen…“
„Paloma, jetzt beruhige dich mal!“, versuchte ich sie zu beschwichtigen, obwohl ich sicher war, dass dies momentan wenig Sinn hatte. Sie hatte allem Anschein nach eine gewisse Menge von dem Lachgas eingeatmet, mit dem wir Curt betäubt hatten. Wie sie das geschafft hatte, war mir zwar noch schleierhaft, doch die Symptome waren eindeutig.
„Hi Süüüße…“, lallte sie in meine Richtung. „Wenn duuu das nich hin…bekommst, dann werde ich dem fff…feinen Herrn jetzt mal die Meinung sagen! Du bist un…möglich, Cooper… du sturer E...Esel hast sie gar nich veddient… Ich komm gerade nich hoch aus diesem b…blöden SSSessel, sonst würde ich… ja ich würde dich… k.o. würde ich dich… oooh mein Gott…“ Sie fiel in den Computerstuhl zurück und verdrehte die Augen. „Verdammt, ich bin sooo müde, Jess…“
„Das ist das Lachgas, Paloma.“
„Was für`n Zeugs? Ich lach doch gar nich… und er gleich auch nich mehr, wenn ich ihn in meine F... Finger kriege…“
Ich drehte den Stuhl in Richtung Fenster.
„Hey, was machst`n du daaa… nich aufs Riesenrad, da muss ich immer ko…“
„Bleib sitzen und atme tief ein!“, fiel ich ihr energisch ins Wort.
„Coooooper, wag es blossss nich abzu…haun… ich bin noch nich mit dir ferddich…“
„Atme, Paloma, atme!“
Sie ließ den Kopf zurückfallen und schloss die Augen. Sekunden später war sie eingeschlafen.
Dean hatte die kleine Szene mit wachsender Belustigung beobachtet und trat nun neugierig näher.
„Aber hallo, was war das denn? Für einen Augenblick hatte ich richtig Angst!“, grinste er.
„Zu Recht, mein Lieber“, gab ich zurück und überprüfte die Vitalwerte meiner Assistentin. „Das Lachgas hat sie ausgeknockt. Sie muss erst einmal ihren Rausch ausschlafen. Kannst du sie bitte nach nebenan aufs Sofa tragen?“
„Bist du sicher, dass sie auch wirklich schläft und mich nicht unterwegs beißt oder so?“
„Dean!“
„Schon gut…“ Mit Leichtigkeit hob er sie hoch und trug sie hinaus. Ich untersuchte inzwischen das Narkosegerät und hatte ziemlich schnell den Fehler gefunden. Paloma hatte es zwar ordnungsgemäß abgeschaltet, um es zu säubern, so wie sie das immer nach Operationen tat. Dabei hatte sie jedoch übersehen, dass sich der Schlauch, der das Gerät mit der Gasflasche verband, gelöst hatte. So hatte sie, ohne es zu merken, das ausströmende Gas eingeatmet. Es war zwar in dieser Konzentration nicht gefährlich, aber seine Wirkung hatte es trotzdem in dem bis dahin geschlossenen Raum nicht verfehlt.
Paloma hatte schlicht und einfach einen Rausch.
„Die Lady war ja stinksauer auf mich“, kommentierte Dean Palomas verbalen Ausbruch, als er zurück ins Zimmer trat. „Womit hatte ich das verdient?“
„Sie war wütend auf dich, weil du wütend auf mich warst“, erklärte ich mit einer absolut einleuchtenden Logik und grinste. „Und wir Frauen halten bei solchen Dingen nun einmal zusammen.“
„Hat sie sich wieder unter Kontrolle, wenn sie aufwacht?“, erkundigte er sich vorsichtig.
„Wart`s ab, Feigling!“
„Vor bewaffneten Gegnern und wütenden Frauen sollte man sich besser vorsehen“, raunte er, während er näher trat.
„Uuuh, ich wette, daraus spricht eine Menge Lebenserfahrung!“, lästerte ich lachend und ließ es nur zu gern zu, dass er mich in seine Arme zog. Ich fühlte mich unendlich erleichtert. Endlich waren alle Zweifel ausgeräumt. Die Bürde des Geheimnisses lastete nicht mehr länger auf mir, und ich konnte frei und ruhig durchatmen. „Wie wäre es, wenn du diese überaus wertvolle Lebenserfahrung nutzt und mich küsst?“
„Nur küssen? Ich möchte dich hier und jetzt auf der Stelle vernaschen!“
„Daraus wird leider nichts. Auf dem einzigen Sofa in dieser Praxis schläft Paloma, und im Nebenzimmer wird Curt bald aufwachen.“
„Da wäre noch der große Behandlungstisch.“
„Dean! Das ist makaber! Ich würde auf gar keinen Fall…“
„Ich würde schon“, raunte er, drängte sich verboten dicht an mich und begann verführerisch an meinem Ohrläppchen zu knabbern.
„Und was ist mit Matthew?“, flüsterte ich eilig, bevor ich befürchten musste, dass mich meine Gefühle restlos übermannten.
„Was ist mit ihm?“
„Er wartet unten sicher schon ungeduldig auf uns und könnte jeden Augenblick heraufkommen!“
Das Argument saß. Dean ließ von mir ab und seufzte tief und ergeben.
„Okay. Jetzt hast du mich. Wir werden also keinen Sex haben.“
„Zumindest nicht jetzt und nicht hier“, ergänzte ich mit einer Mischung aus Erleichterung und Bedauern. „Aber heute Abend werde ich dich verführen, dass dir Hören und Sehen vergeht!“
„Wow“, grinste er unverschämt. „Ist das ein Versprechen?“
„Lass dich überraschen. Jetzt gehen wir erst einmal hinunter und sehen nach deinem kleinen Bruder.“
„Jess… Warte!“ Sein Gesicht wurde ernst, und er zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach. „Was meinen kleinen Bruder betrifft… Wenn Matthew bei uns bleibt, wird er mich irgendwann nicht mehr als seinen Bruder ansehen, sondern eher als…“
„Seinen Dad“, ergänzte ich und lächelte. „Das würde ich mir wünschen, Dean. Dass er sich bei uns zuhause fühlt und wir ihm ein wenig die Eltern ersetzen können, die er auf so tragische Weise verloren hat. Und außerdem… wenn du damals mit Rebecca zusammen geblieben wärst, dann wäre Matt heute wahrscheinlich sowieso dein Sohn.“
Er blickte mich erstaunt an.
„So siehst du das?“
„Aber warum denn nicht?“
„Aber dann gäbe es dich nicht in meinem Leben!“
„Ach Dean!“ Ich nahm sein Gesicht zwischen meine Hände und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Es ist, wie es ist, und es ist gut so! Lass uns einfach das Beste aus all dem machen!“
Er zog mich ganz fest in seine Arme und sah mir in die Augen.
„Du bist wundervoll, Doc!“
„Weiß ich doch.“
Sehnsüchtig verschloss er meinen Mund mit einem glühend heißen Kuss, der mich abermals fast um den Verstand brachte. Schwindelig vor Glück hielt ich mich an ihm fest, ließ die Schmetterlinge tanzen und fühlte mich wie im siebten Himmel.
Irgendwann löste er sich aufseufzend von mir und wiederholte die magischen Worte von vorhin, die mein Herz noch höher schlagen ließen, als es das ohnehin schon tat:
„Heirate mich, Jess!“
Atemlos, aber mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen öffnete ich die Augen und kehrte langsam in die Wirklichkeit zurück.
„Aber sicher. Nichts lieber als das. Stellt sich nur die Frage, wann du mich heiraten willst: Bevor ich ein Walfisch werde, oder erst danach?“
„Walfisch?“, fragte er irritiert.
Ich verdrehte die Augen und deutete auf meinen Bauch. Endlich verstand er und lachte.
„Völlig egal. Hauptsache, du läufst nicht wieder davon! Nie wieder!“
„Weißt du noch, Dean…“ erwiderte ich nachdenklich und verlor mich dabei erneut in seinem Blick. „Ich habe dir erzählt, dass ich bisher in meinem Leben immer wieder ein Stück weiter westwärts gewandert bin.“
Er nickte ernsthaft.
„Ich erinnere mich. Und ich weiß auch noch genau, was ich dir daraufhin geantwortet habe: Du sollst endlich erwachsen werden und ein Zuhause für dich finden.“
„Ich glaube, ich habe es gefunden, und ich könnte mir gut vorstellen, dass meine Reise genau hier zu Ende ist.“
Er sah mich an und grinste auf diese ganz spezielle Art, die mich an ihm vom ersten Augenblick unseres Zusammentreffens gleichzeitig fasziniert und empört hatte: erfrischend frech, hochgradig provozierend und unheimlich sexy.
„Dafür werde ich sorgen, Doc! Verlass dich darauf!“