39. Eigentherapie
An diesem Abend telefonierte ich lange mit Caitlin. Eigentlich waren Dean und ich bei meiner besten Freundin und deren Großeltern in den Santa Monica Mountains zum Abendessen eingeladen gewesen, aber nach all der Aufregung hatten wir das Treffen abgesagt. Matt brauchte Dean dringender, und ich wollte die beiden nicht allein lassen, deswegen verabredeten Cait und ich uns kurzerhand für den nächsten Tag zum Lunch in der Stadt.
Sie versprach mir am Telefon, mich danach zu meiner Ärztin zu begleiten, mit der ich am Nachmittag meinen ersten Ultraschall-Termin vereinbart hatte. Während der zwei Tage in New York hatte ich noch insgeheim gehofft, vielleicht zusammen mit Dean hingehen zu können, doch in Anbetracht der schwierigen Situation hielt ich es momentan für unmöglich, ihm von dem Baby zu erzählen. Also stand mein süßes Geheimnis noch immer wie eine große, unsichtbare Wand zwischen uns. Ich hatte zwar insgeheime Illusionen, aber nach wie vor keinen Schimmer, wie Dean letztendlich auf meine Neuigkeiten reagieren würde.
Ich genoss seine Nähe und seine Zärtlichkeit in vollen Zügen, wenn er sich nachts in mein Zimmer schlich und bis zum Morgen blieb. Und obwohl ich genau wusste, dass es falsch und feige war, nichts zu sagen, brachte ich einfach nicht den Mut auf, ihm endlich reinen Wein einzuschenken, weil ich befürchtete, diese wundervolle, neu gewonnene Zweisamkeit zwischen uns damit zu zerstören. Also schob ich das Unvermeidliche weiter vor mir her und kam dadurch innerlich nicht zur Ruhe.
Tief besorgt um mein Wohlergehen redete mir Caitlin diesbezüglich noch einmal ernsthaft ins Gewissen, denn sie spürte meine innere Zerrissenheit und nahm mir, bevor sie schließlich zurück nach Deutschland flog, das Versprechen ab, endlich reinen Tisch mit Dean zu machen.
Leider hatte sie noch immer keine Gelegenheit gehabt, ihn persönlich kennenzulernen. Doch ich wusste, wenn er und ich es wirklich schaffen sollten, zusammenzubleiben, dann würde es bis zu einem gemeinsamen Treffen gewiss nicht mehr lange dauern. Und ich ahnte auch schon, dass sich David und Dean sicher gut verstehen würden, denn die beiden waren sich unbestritten charakterlich sehr ähnlich.
Trotz allem blieb es zunächst bei diesem Wunschdenken meinerseits, denn noch immer trennte mich davon ein ganz entscheidendes Detail: die Wahrheit.
Matthew suchte Deans Nähe, wo immer er konnte. Allerdings sprach der Junge kein einziges Wort mehr, nachdem sein älterer Bruder versucht hatte, ihm so behutsam wie möglich zu erklären, dass seine Mama nicht mehr wiederkommen würde.
Wie bringt man einem Vierjährigen, der mit dem Begriff „Tod“ noch gar nichts anzufangen weiß, möglichst schonend bei, dass seine Mutter und sein Vater ihn für immer verlassen hatten?
Ich hätte Dean während dieses Gespräches von Herzen gerne beigestanden, aber ich konnte ihm nicht helfen, denn der Kleine war ausschließlich auf ihn fixiert. Und auf Jad, der auf seine ganz spezielle Art versuchte, Matt von seinem Kummer abzulenken. Der treue Hund blieb die ganze Zeit über an der Seite des Jungen und schlief sogar nachts in dessen Zimmer.
Ich begann mir insgeheim Vorwürfe zu machen, dass ich Caitlin nicht zu diesem wichtigen Gespräch hinzugebeten hatte. Schließlich war sie Kinderärztin und hatte viel mehr Erfahrung darin, wie eine kleine Kinderpsyche auf seelischen Schmerz reagierte. Aber für Matt wäre sie im Grunde auch nur eine weitere Fremde gewesen. Und wer konnte vorab schon sagen, was in solch einer schwierigen Situation richtig oder falsch war.
So vergingen ein paar Tage.
Celia kümmerte sich rührend um Matt. Sie verwöhnte ihn, wo immer sie konnte und versuchte ihn zu jeder sich bietenden Gelegenheit zum Reden zu bringen, doch leider ohne den erwünschten Erfolg. Der Junge war wirklich brav. Er weinte nicht, trotzte nicht, aber er öffnete sich bis zu einem gewissen Punkt nur Dean und Jad. Beim Spielen und Toben mit dem Hund hörte man ihn ab und zu sogar lachen. Ansonsten jedoch blieb er apathisch und stumm.
Ramon, Celia und ich bemühten uns sehr um ihn, aber wir spürten trotzdem, dass wir für Matt nur Randfiguren in seinem Tagesablauf waren, die er zwar akzeptierte, aber nicht bewusst brauchte. Seine absolute Bezugsperson war nach wie vor Dean. Er wich seinem Halbbruder kaum von der Seite. Für den Jungen schien Dean in dieser schwierigen Zeit bereits den Vater zu verkörpern, den er in Maxwell Cooper nie gehabt hatte.
In diesen Tagen entdeckte ich eine ganz neue Seite an Dean Cooper.
Er ging auf eine unkonventionelle und doch absolut rührende Art und Weise mit Matt um, die ich ihm niemals zugetraut hätte. Wenn ich ihn dabei beobachtete, wie er mit dem Kleinen spielte, wenn ich das Lächeln sah, das dabei seine Gesichtszüge zum Leuchten brachte, dann ging mir geradezu das Herz auf. Plötzlich vermochte ich mir sehr gut vorzustellen, dass er für die Vaterrolle mehr als nur geeignet war.
Ob er jedoch irgendwann bereit war, mit seinem eigenen Nachwuchs so glücklich durch den Garten zu toben, das musste ich noch herausfinden.
Um Matt nicht allein zu lassen, ließ Dean den Nachlass seines Vaters von seinen Anwälten regeln, die eigens dafür nach Johannisburg reisten. Maxwell hatte testamentarisch verfügt, dass sein Vermögen uneingeschränkt an seinen zweiten Sohn Matthew gehen sollte, sobald dieser volljährig sein würde. Solange das nicht der Fall war, sollte das Geld auf einen Fond eingezahlt und von seinem erstgeborenen Sohn Dean verwaltet werden. Seine Ehefrau Rebecca hatte der Millionär in seinem Testament mit keiner Silbe bedacht, was niemanden wirklich wunderte, denn Maxwell war dafür bekannt, dass ihm keine seiner Frauen wirklich etwas bedeutet hatte.
Verwunderlich war nur, dass der Alte Dean als Treuhänder für Matt eingesetzt hatte. Anscheinend war für ihn, egal, was in der Vergangenheit passiert war, letztendlich Blut dicker als Wasser. Dean selbst jedoch schien das völlig egal. Für ihn war nur wichtig, dass sein kleiner Stiefbruder später einmal finanziell gut abgesichert sein würde.
Er war in den letzten Tagen meistens in der Villa geblieben und hatte seine Firmengeschäfte weitestgehend online am PC erledigt. Doch irgendwann musste er sich auch wieder vor Ort um seine Firma kümmern, also begann er vormittags ab und zu für ein paar Stunden nach LA zu fahren. Der Junge nahm seine Abwesenheit stillschweigend hin, zog sich jedoch während dieser Zeit oftmals mit Jad in den Garten oder in sein Zimmer zurück. Meinen Vorschlag, zusammen etwas Interessantes zu unternehmen, lehnte er mit einem Kopfschütteln ab, was ich ihm natürlich nicht übelnahm. Er war noch nicht soweit, sich auf jemanden einzulassen. Die Zeit, die er dafür brauchte, musste ich ihm einfach geben.
Ich selbst hatte mir nach all der Aufregung noch ein paar Tage Urlaub gegönnt, um Dean mit Matt zu helfen, so gut ich konnte. Aber mir war nur allzu bewusst, dass ich irgendwann meine Angelegenheiten die Praxis betreffend klären musste, denn ich würde zwar noch eine Weile arbeiten können, aber ich wusste auch, dass mich die beiden Ärzte der Nachbarpraxis nicht dauerhaft vertreten konnten, wenn ich mich später im Mutterschutz befand.
An einem dieser Vormittage, an denen Dean in die Firma gefahren war, rief mich Paloma an und bat mich um Hilfe. Jordan weilte auf einem Tierärzte-Kongress in Portland, und Adam hatte sich eine fieberhafte Erkältung eingefangen, die ihn vorübergehend ans Bett fesselte. Ohne den bereits überfälligen Check-up wiederum durften die Polizeihunde nicht in den Einsatz. Also beschloss ich kurzerhand, Adam ungeachtet meines Zustandes an diesem Tag zu vertreten, und fuhr zusammen mit Matt und Jad zur Station.
Es war ein schönes Gefühl, wieder in der Praxis zu sein. Als ich die Behandlungsräume betrat, empfand ich das fast wie eine Heimkehr in eine inzwischen bereits vertraute Umgebung. Die Arbeit lenkte mich ab, und ich bemerkte erfreut, wie interessiert Matt jeden meiner Handgriffe verfolgte.
Später nahm Butch ihn mit hinunter zum Übungsplatz, wo er hinter der Absperrung beim täglichen Training der Polizeihundestaffel zusehen durfte.
„Das wird schon“, meinte Paloma zuversichtlich, sobald wir allein waren. „Der Kleine ist nicht aus Watte, der kriegt sich wieder ein.“
„Was ihm passiert ist, das ist nicht nur ein blauer Fleck, der nach ein paar Tagen verschwunden ist“, gab ich skeptisch zu bedenken. „Es scheint, als würde Matt zurzeit nur funktionieren.“
„Was sagt denn deine Freundin Caitlin als Kinderärztin dazu?
„Cait meinte auch, das sei ein vorübergehender Schutzmechanismus seiner kleinen Seele, die all die schrecklichen Ereignisse erst verarbeiten müsste.“
Paloma grinste.
„Na also, genau das versuchte ich dir eben zu sagen.“
„Fragt sich nur, ob er es wirklich allein verarbeiten kann.“
Paloma blickte irritiert auf.
„Ihr habt doch nicht etwa vor, den Kleinen zu einem Seelenklempner zu bringen?“
„Nein, auf keinen Fall. Wir warten erst einmal ab.“
„Wird er bei euch bleiben?“
Ich seufzte.
„Ach Paloma, wenn ich das wüsste! Ich weiß ja noch nicht einmal, ob es ein „euch“ für uns geben wird. Sicher hoffe ich, dass Matt bleiben darf. Der Kleine hat ja sonst niemanden mehr.“
„Und wäre das für dich okay?“
„Aber natürlich. Dean ist ein völlig anderer Mensch, seitdem Matt bei uns ist. Er liebt seinen kleinen Stiefbruder, das spürt man ganz deutlich. Wenn man die beiden zusammen sieht, könnte man glauben, Dean ist Matts Dad.“
„Apropos Dad“, griff Paloma umgehend meine letzten Worte auf. „Hast du ihm endlich erzählt, dass er Vater wird?“
Ich hob die Schultern und wich ihrem Blick aus, eine Geste, die in meinen Augen fast schon schuldbewusst wirkte.
„Nein.“
„Nein?“ Die Hände in die Hüften gestemmt stand Paloma vor mir und maß mich mit vorwurfsvollem Blick.
„Es hat sich einfach noch nicht ergeben“, verteidigte ich mich kleinlaut.
„Nicht ergeben?“ Ungläubig zog meine Assistentin ihre schön geschwungenen Augenbrauen zusammen. „Na hör mal, Schätzchen, ihr hockt Tag und Nacht zusammen in seiner Villa! Was treibt ihr beide denn die ganze Zeit? Seid ihr so beschäftigt, dass ihr nicht zum Reden kommt?“
„Seitdem Matt da ist, dreht sich alles um ihn und darum, wie er den Tod seiner Eltern überwindet. Da finde ich es etwas unpassend, wenn…“
Paloma knallte das Stethoskop auf den Behandlungstisch und blitzte mich empört an.
„Was ist denn unpassend daran, dass das Leben weitergeht? Glaubst du wirklich, es tut Matt gut, wenn ihr ihn alle in Watte packt, auf Zehenspitzen durchs Haus schleicht und atemlos darauf wartet, dass er irgendwann vielleicht wieder mit dem Sprechen anfängt?“
„Sei nicht unfair! Es ist nicht leicht für alle Beteiligten, denn der Junge ist ausschließlich auf Dean fixiert. Für Matt ist sein großer Bruder jetzt seine Familie. Er klammert sich geradezu verzweifelt an ihn. Ein Wunder, dass er heute mit mir mitgefahren ist, ohne zu weinen.“
„Also ich hatte nicht den Eindruck, dass er ungern hier ist. Er war doch sehr interessiert an deiner Arbeit.“
„Aber vielleicht wird er mich hassen, wenn ich den einzigen Menschen vereinnahme, dem er vertraut, indem ich ihm sage, dass…“
„Aber du vereinnahmst Coop doch nicht.“
„Matt könnte das Gefühl haben, ich nehme ihm Dean weg.“
„Jess, was ist denn nur los mit dir? Hör auf, alles bis zum Anschlag zu analysieren. Sei doch einfach du selbst, schenk Coop endlich reinen Wein ein und hör, was er zu sagen hat! Es geht hier um nichts Geringeres als um eure Zukunft, und nicht etwa darum, ob Celia am Wochenende für euch kocht oder nicht! Jetzt komm endlich in die Gänge und reiß dich zusammen!“
Ich starrte sie an, und während ihre Worte in mir nachklangen, hatte ich plötzlich das vage Gefühl, ein glasklares Déjà-vu von mir und Caitlin zu erleben. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass ich mich in dieser Rückblende eindeutig in der Rolle meiner besten Freundin befand, die jede Entscheidung immer übervorsichtig abwog, bevor sie den Mut fand, sie endlich zu treffen, während Paloma sich genauso anhörte wie ich damals vor vielen Jahren: spontan, geradlinig und optimistisch. Hatte ich mich inzwischen wirklich so verändert? Wo war die alte Jess geblieben, die mutige Draufgängerin, die gern mal eine starke Lippe riskierte, sich ihre ehrliche Meinung von niemandem verbieten ließ und sich jedem Problem stellte, anstatt es endlos vor sich herzuschieben?
Ängstlich, unentschlossen, übervorsichtig?
Verdammt!
Nein, so war ich doch gar nicht! Und so wollte ich auch unter gar keinen Umständen sein!
„Du hast recht, Paloma“, nickte ich entschlossen. „Es wird Zeit, sich wieder einzukriegen. Ich sage es ihm.“
„Und wann?“
„Heute Abend.“
„Braves Mädchen!“ Zufrieden reichte sie mir das Stethoskop. „Ich hole dann mal den nächsten Patienten.“
„Paloma?“
„Was ist?“
Spontan trat ich auf sie zu und umarmte sie herzlich.
„Danke.“
„Wofür denn?“
„Für deine Ehrlichkeit. Und dafür, dass du eine echte Freundin bist.“
Sie grinste etwas verlegen.
„Ebenfalls. Freundschaft beruht immer auf Gegenseitigkeit, Schätzchen. Aber ich glaube, das brauche ich dir nicht zu erzählen.“
In diesem Augenblick knackte es in der Leitung des Sprechfunkgerätes, das während unserer Sprechstunden immer eingeschalten war. Kurz darauf hörten wir die aufgeregte Stimme eines Officers aus dem Außendienst.
„Butch, bitte melden! Ist die Praxis besetzt?“
Paloma nahm das Sprechgerät in die Hand und drückte auf den Knopf.
„Ja natürlich. Wer spricht?“
„Officer Garner und Curtis mit einem Notfall! Wer hat bei euch zur Zeit Dienst?“
„Dr. Hausmann.“
Ein paar Sekunden war es still in der Leitung, dann hörten wir, wie die Polizisten am anderen Ende leise miteinander sprachen.
„Wer zum Geier ist Dr. Hausmann?“
„Die neue Tierärztin.“
„Ich weiß nicht, die ist noch viel zu jung und unerfahren. Vielleicht sollten wir besser…“
„Hey Jungs, ich rede von Jess Hausmann, die beste Tierärztin seit Hank! Sie hat Coops Hund operiert, als er sich eine Kugel eingefangen hatte. Alles klar? Nun mach schon, wir haben nicht ewig Zeit, also kriegt euch ein!“, mahnte Paloma in forschem Ton. „Also, was ist los?“
„Schon gut! Wir kommen gerade von einem Einsatz in Venice. Während einer Drogenrazzia wurde eine Autobombe gezündet. Unser Hund hat etwas abbekommen.“
Mit zwei Schritten stand ich neben Paloma und nahm ihr das Sprechfunkgerät aus der Hand.
„Wo ist er jetzt?“
„Liegt bei uns hinten im Einsatzwagen und hat üble Schmerzen.“
„Was hat er für Verletzungen?“
„Er blutet aus einer Wunde im Nacken. Und in der Flanke steckt ein Splitter.“
„Sonst noch etwas?“
„Nein. Er hat einen Schutz getragen.“
Als Schutz bekamen vor allem die Sprengstoffhunde eine Art „Weste“ um den Leib geschnallt. Das kugelsichere Material sollte im Ernstfall vor allem die lebenswichtigen Organe des Tieres schützen.
„Wie lange braucht ihr bis zur Station?“
„Knapp zehn Minuten.“
„Gut. Ich bereite hier alles für eine Not-OP vor. Nehmt einstweilen eine große Kompresse aus dem Sani-Kasten und drückt sie fest auf die blutende Wunde. Den Splitter in der Flanke dürft ihr allerdings unter keinen Umständen anrühren“, wies ich den Officer über Funk an und bedeutete Paloma, die aktuellen Aufzeichnungen über unsere Hundestaffel auf den PC zu rufen. Ich brauchte so schnell wie möglich Gewicht, Größe und Werte des verletzten Hundes, um die Dosierung für eine Narkose festzulegen. „Um welchen Hund handelt es sich?“
„Um Curt.“
Mein Herz schien für den Bruchteil einer Sekunde auszusetzen.
„Dynamit-Curt?“
„Ja genau.“
Curt war der Sprengstoff-Hund, mit dessen Hilfe ich damals nach dem Überfall auf die Station unseren Koordinator Butch bewusstlos draußen im Wachhäuschen gefunden hatte. Er war bestens ausgebildet, ein treuer, verlässlicher und sehr liebenswerter Gefährte.
„Beeilt euch, Jungs“, bat ich eindringlich, schaltete den Sprechfunk ab und machte mich mit Palomas Hilfe an die Arbeit. Ich würde alles tun, um Curt zu helfen.
Kurze Zeit später lag der Polizeihund auf dem OP-Tisch. Er war Profi genug, um nicht vor Schmerzen zu jaulen, doch seine verdrehten Augen zeigten, wie sehr er litt. Ich redete beruhigend auf ihn ein, während ich ihm ein schmerzlinderndes Mittel spritzte, um ihm die darauffolgende, unvermeidliche Untersuchung erträglicher zu machen.
Die beiden Officer Curtis und Garner standen betreten daneben.
„Diese verdammten Schweine!“, fluchte Curtis zähneknirschend. „Keiner von uns hat damit gerechnet, dass die den Wagen hochjagen würden, genau in dem Moment, als wir das Haus verließen. Mir klingen immer noch die Ohren!“
„Kriegen Sie ihn wieder hin, Doc?“, fragte Officer Garner. Ich hörte die Angst in seiner Stimme und wusste genau, wie er sich jetzt fühlte.
„Sicher tut sie das“, vernahm ich Palomas Stimme, bevor ich etwas erwidern konnte. „Aber dazu braucht sie unbedingt Ruhe. Also wartet bitte unten, Jungs! Wir halten euch auf dem Laufenden.“
Ich nickte den beiden bestätigend zu, worauf die Männer etwas zögernd der Aufforderung folgten und nach einem letzten, flehentlichen Blick auf Curt schweigend den Raum verließen. Ich hörte die Tür zuklappen und konzentrierte mich auf die Untersuchung des Schäferhundes, der sich nun auf Grund des Schmerzmittels etwas entspannte.
„Die Wunde im Nacken ist eine reine Fleischwunde. Da scheint nichts drin zu sein, deshalb blutet sie relativ stark. Wir spülen und nähen sie“, teilte ich Paloma die ersten Ergebnisse meiner Untersuchung mit. „Mehr Sorgen macht mir dieser Splitter, der in seiner Flanke steckt. Ich weiß weder, wie tief der eingedrungen ist, noch, ob er innerlich vielleicht ein Organ oder Gefäß verletzt hat.“
„Okay.“ Meine Assistentin verfolgte aufmerksam jede meiner Bewegungen. „Dann legen wir ihn also in Narkose?“
Ich nickte und warf einen Blick auf den PC, auf dem Curts aktuelle Werte angezeigt wurden.
„Er bekommt 5 ml Polamivet, 3 ml Xylazin, und dann geben wir ihm Lachgas“, wies ich Paloma an und streichelte Curts Kopf. „Du wirst wunderbar schlafen, mein Guter. Und wenn du aufwachst, bist du wieder wie neu.“
Hinter mir hörte ich erneut die Tür klappen, dann näherten sich eilige Schritte.
„Jess… ich hab`s gerade erst erfahren… Was zum Henker…“ Aufgeregt schnaufend trat Butch an den Behandlungstisch. „Das gibt`s doch nicht… Curt, mein Alter! Was haben dir diese Verbrecher bloß angetan?“
„Ganz ruhig, Butch“, beschwichtigte ich ihn, ohne aufzusehen. „Es sieht schlimmer aus, als es ist. Wir kriegen das schon hin. Curt ist ein zäher Bursche. Der steckt das weg.“
Sekunden später wurde mir siedend heiß, denn mir fiel mit Schrecken ein, dass Butch eigentlich mit Matt zusammen gewesen war und auf ihn aufpassen sollte.
Wo war der Junge?
Bevor ich den Koordinator danach fragen konnte, legte sich plötzlich eine kleine Kinderhand auf meinen Arm. Große Kulleraugen, randvoll gefüllt mit dicken Tränen, sahen verzweifelt zu mir hoch.
„Muss der große Hund jetzt sterben, so wie meine Mom?“
Ich brauchte einen Augenblick, um die Tragweite dieser Worte zu begreifen.
Das Gute daran war, dass Matt seine Blockade durch den neuerlichen Schock überwunden und endlich wieder gesprochen hatte. Ohne Therapeuten, ohne besondere Anstrengungen, einfach aus der Angst um das Leben des Hundes, weil er das Geschehen hier anscheinend mit dem assoziierte, was ihm selbst widerfahren war. Allerdings hatte Dean ihm erklärt, dass seine Mama gestorben war, weil sie sich schwer verletzt hatte, als der Hubschrauber abstürzte. Nun fürchtete der Junge wahrscheinlich, dass jeder, der verletzt war, unweigerlich sterben würde. Wobei ich noch nicht ganz sicher war, ob er mit seinen vier Jahren wirklich schon begriff, was es bedeutete, wenn jemand starb. Vermutlich definierte er den Begriff „sterben“ mit „niemals wiederkommen“, was dem Ganzen ohnehin ziemlich nahe kam.
„Oh nein, Kleiner, der stirbt nicht. Nicht, wenn Jess ihn behandelt“, erwiderte Butch fürsorglich, während ich noch nach den richtigen Worten suchte. „Die ist nämlich ein richtiger Doktor für Tiere und sorgt dafür, dass es unseren Polizeihunden gut geht.“
Matt sah mich erwartungsvoll an. Lächelnd beugte ich mich zu ihm herunter, um auf Augenhöhe mit ihm zu reden.
„Hast du dir schon einmal einen Splitter eingezogen?“
Matt überlegte kurz und nickte dann heftig.
„Ja, hier!“, sagte er und hob den Daumen der rechten Hand. „Das hat weh getan!“
„Und was hast du gemacht?“
„Ich hab` geweint. Aber Mom hat den blöden Splitter rausgezogen.“
„Siehst du, und dasselbe mache ich jetzt mit Curts Splitter. Nur ist er etwas größer als der, der damals in deinem Daumen steckte. Deshalb bekommt Curt eine Spritze, damit er tief und fest schläft und nichts davon merkt. Und wenn der Splitter raus ist, dann wacht er wieder auf und hat keine Schmerzen mehr.“
Große Kinderaugen musterten mich unverwandt.
„Ehrlich?“
„Ganz ehrlich. Bald ist Curt wieder gesund. Und wenn Butch es erlaubt, dann kannst du in ein paar Tagen mit ihm und Jad zusammen zum Strand gehen.“
„Darf ich, Onkel Butch?“
Der gute Butch, der sonst immer so herrlich fluchen konnte, hatte vor lauter Rührung feuchte Augen bekommen. Er nickte und hob den Daumen.
„Aber klar doch!“
„Wo ist Jad?“, fragte der Junge.
„Gute Frage! Wo ist Jad?“, wiederholte ich mit Nachdruck, und mein Blick, der noch immer auf Butchs Gesicht haftete, gestaltete sich zum offenen Fragezeichen.
„Der wartet unten und passt auf, dass Curtis und Garner die Kaffeemaschine nicht kaputt machen“, erklärte Butch mit einem schiefen Grinsen. Dann streckte er Matt einladend seine Hand entgegen. „Aber trotzdem sollten wir mal nach ihm sehen, während Jess unseren Curt wieder gesundmacht. Kommst du mit?“
Matt sah mich fragend an, als wollte er sicher sein, dass ich auch wirklich damit einverstanden war. Sein besorgtes Gesichtchen rührte mich bis ins Innerste.
„Geh mit Butch und spiel noch ein wenig mit Jad. Wenn ich hier fertig bin, kannst du nach Curt sehen. Er wird zwar eine Weile schlafen, aber du darfst ihn nachher streicheln. Dann träumt er schön.“
„Okay“, nickte der Junge artig und schickte sich an, Butch nach draußen zu folgen.
Ich wollte gerade aufstehen, als Matt sich plötzlich noch einmal umdrehte, auf mich zugelaufen kam und seine Ärmchen um meinen Hals schlang.
„Ich hab dich lieb, Jess!“, flüsterte er mit seiner zarten Kinderstimme, die sich nach dem langen Schweigen fast noch ein wenig kratzig anhörte. Für mich hatte sie jedoch nie schöner geklungen. Ergriffen erwiderte ich seine Umarmung.
„Ich hab dich auch lieb, Matt!“
Euphorisch drehte ich mich nach Paloma um, die sichtlich ungeduldig mit Mundschutz und Handschuhen am OP-Tisch stand und bereits die erste Spritze für Curt aufgezogen hatte.
„Paloma, er hat gesprochen!“
Sie nickte.
„Ich hab`s gehört.“
„Er hat gesagt, er hat mich lieb!“
„Ja, das hat er gesagt. Und ich denke, er hat`s auch so gemeint. Also Frau Dr. Hausmann, wir werden jetzt diesem armen Hund hier ganz schnell seine Schmerzen nehmen und ihn von den lästigen Splittern befreien, und danach kannst du endlich damit beginnen, dein Privatleben wieder zu ordnen.“ Sie zog die Augenbrauen hoch und fügte mit einem bedeutungsvollen Zwinkern hinzu: „Ich will nämlich unbedingt die alte Jess zurück!“
„Dein Wunsch in allen Ehren, Paloma, aber ich fürchte, das wird nicht ganz einfach sein“, ertönte eine Stimme von der Tür her, die mich erschrocken herumfahren ließ.
Dean, in Bluejeans, weißem Hemd und dunklem Jackett, lehnte lässig am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt und musterte mich mit einem Blick, den ich beim besten Willen nicht zu deuten wusste.
Wie lange stand er da schon?
„Hey“, rief ich gespielt enthusiastisch und spulte in Gedanken noch einmal das Gespräch mit Paloma in meinem Kopf zurück. Glücklicherweise konnte ich mich nicht daran erinnern, dass sie etwas Verräterisches preisgegeben hatte.
„Du bist schon zurück aus dem Büro?“
„Und was ist mit dir? Sagtest du nicht, dass du dir ein paar Tage frei genommen hast?“, erwiderte er, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich spürte sofort, wie eine gewisse Unruhe von mir Besitz ergriff, die ich nicht erklären konnte.
„Wir haben einen Notfall.“
„Ich weiß. Butch sagte, Dynamit-Curt hat beim Einsatz etwas abbekommen. Kriegt ihr ihn wieder hin?“
Ich atmete erleichtert auf. Sicherlich machte sich Dean Sorgen um Curt, der ein erstklassisch ausgebildeter Polizeihund war, und den alle hier sehr gern mochten.
„Aber ja. Glücklicherweise ist es nichts Lebensgefährliches. Er kommt wieder auf die Beine.“
Dean verzog keine Miene. Seine dunklen Augen schienen mich förmlich zu durchbohren.
„Hast du Matt gesehen?“, fragte ich eilig, um meine erneut wachsende Nervosität zu überspielen. „Er ist bei Butch, und du wirst nicht glauben, was eben passiert ist! Wir haben wichtige Neuigkeiten für dich!“
Dean rührte sich nicht von der Stelle.
„Ach ja? Ich bin nicht sicher, ob ich heute noch weitere Neuigkeiten hören möchte.“
Die Spannung war überdeutlich spürbar.
„Was meinst du?“, fragte ich unsicher.
„Ich komme gerade vom Gesundheits-Check. Und du wirst nicht glauben, was ich dort eben zufällig erfahren habe.“ Sein Tonfall verstärkte das ungute Gefühl in mir um ein Vielfaches, während er langsam nähertrat und mich noch immer mit diesem Blick ansah, der mir gar nicht gefiel. „Wann zum Teufel hattest du eigentlich vor, mir endlich zu sagen, was mit dir los ist?“