35. Hiobsbotschaft
Den gesamten Rückflug über versuchte ich mir auszumalen, wie Dean wohl auf meine Neuigkeit reagieren würde. Die verschiedensten Szenarien entstanden in meinem Kopf und reichten von „freudig überrascht und überglücklich“, über „na ja, was soll`s, dann müssen wir eben das Beste daraus machen“, bis hin zu „Sorry Jess, aber eine Familie ist so ziemlich das Letzte, was ich will“, und bescherten mir eine wahrhaft teuflische innere Achterbahnfahrt der Gefühle.
Anfangs versuchte Caitlin mich noch abzulenken, doch irgendwann forderte das anstrengende Seminar, die ausgedehnte Sightseeing-Tour und die letzte Nacht, die ziemlich kurz gewesen war, ihren Tribut und sie nickte friedlich neben mir ein.
Mir selbst hätte ein wenig Schlaf sicher auch nicht geschadet, doch ich war viel zu aufgeregt um Ruhe zu finden. Nervös rutschte ich in meinem Sitz hin und her und war heilfroh, als unsere Maschine nach einer gefühlten Ewigkeit endlich zur Landung auf dem LAX-Airport ansetzte.
Gemeinsam passierten Caitlin und ich die Passkontrolle. Nachdem wir ihren Koffer geholt hatten, begaben wir uns in die Flughafenhalle, wo bereits eine Menge Leute warteten, um ankommende Freunde und Verwandte zu begrüßen.
Jetzt war es also soweit. Gleich würde ich Dean gegenüberstehen. Es schien mir, als hätten wir uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, dabei hatten wir uns doch erst vor zwei Tagen hier verabschiedet. Ich hatte ihm am Telefon verraten, dass ich bei meiner Rückkehr eine Überraschung für ihn hätte. Würde er am Ende glauben, Caitlin sei diese Überraschung? Oder ahnte er bereits, dass es dabei um mehr, um viel mehr ging, als darum, meine beste Freundin kennenzulernen?
Nun, gleich würde ich es wissen.
Neugierig reckte ich den Hals.
Zuerst sah ich Ty. Was ich sofort an ihm vermisste, war sein gewohnt schelmisches Grinsen. Sein Gesicht wirkte ernst, fast wie versteinert, als er herüberblickte und die Hand hob, um zu zeigen, dass er mich zwischen den vielen ankommenden Fluggästen entdeckt hatte.
Neben ihm stand Shemar, die Augen wie gewohnt hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Doch auch er strahlte nicht die gewohnte Lässigkeit aus, die sonst immer von ihm ausging. Er winkte verkrampft, und als ich ihm zuwinkte, schien es fast so, als würde er nur unter größter Anstrengung den Arm heben, um meinen Gruß zu erwidern.
Und dann, direkt hinter meinen beiden Lieblingspolizisten, entdeckte ich Butch, und mein Herz rutschte mir endgültig in die Hose. Unser Koordinator sah furchtbar aus. Gramgebeugt, als läge eine Zentnerlast auf seinen Schultern, stand er da und starrte mir aus rotgeränderten Augen entgegen.
Was war hier los?
Wo war Dean?
„Hey, sieh mal, Jess, dort drüben steht Grandpa!“, holte mich Caitlin aus meinen Gedanken und winkte ihrem Großvater fröhlich lachend zu.
Automatisch blieb ich stehen und griff verzweifelt nach ihrer Hand.
Irritiert sah sie mich an.
„Was ist mit dir?“
„Irgendetwas Schlimmes ist geschehen, Caiti“, flüsterte ich heiser. „Ich kann es spüren.“
Ungeachtet der vielen Menschen, die alle dem Ausgang zuströmten und sich nun mühsam an uns vorbeidrängten, wie an einem widerrechtlich aufgebauten Hindernis, stellte sie ihren Koffer ab, packte mich an den Schultern und sah mich eindringlich an.
„Jessica, jetzt mach dich bitte nicht verrückt! Ich weiß, du machst dir Sorgen, aber egal, wie Cooper auf deine Neuigkeiten reagiert, du bist nicht allein. Also atme tief durch und dann…“
„Caiti!“ Ich starrte sie an und schüttelte den Kopf, während meine Knie zu zittern begannen. „Du verstehst nicht… Er ist nicht hier… Aber die anderen sind da, und sie sehen aus, als ob…“
„Okay.“ Entschlossen legte Caitlin den Arm um meine Taille, packte mit der anderen Hand ihren Koffer und zwang mich mit sanftem Druck voran. „Wir gehen jetzt hinüber zu deinen Freunden und werden uns in aller Ruhe anhören, was sie zu sagen haben. Na komm, los geht’s!“
Ihr Großvater hatte uns ebenfalls entdeckt und bahnte sich zuerst einen Weg durch die Menge. Stürmisch nahm er seine Enkelin in die Arme.
„Caiti, mein Mädchen, wie schön, dass du endlich mal wieder hier bist! Ja, sieh mal einer an, wen hast du denn da mitgebracht?“ Bevor ich wusste, wie mir geschah, fand ich mich in einer ebenso stürmischen Umarmung wieder, und ich ließ es geschehen. „Willkommen in LA, Jessi!“
„Danke Mister Jennings“, erwiderte ich mit einem mühsamen Lächeln und schielte mit einem Auge hinüber zu Ty, Shemar und Butch, die noch immer wie angewurzelt auf ein und derselben Stelle verweilten und abwartend zu uns herüberblickten.
„Was heißt hier, Mister Jennings? So hat mich seit Ewigkeiten niemand mehr genannt! Hast du etwa meinen Namen vergessen, meine Kleine?“, empörte sich Caitlins Großvater, der mit seinen inzwischen über siebzig Jahren immer noch erstaunlich gesund und fit wirkte, mit einem schelmischen Grinsen.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte ich schnell. „Hank… nicht wahr?“
„Das will ich meinen.“ Grinsend nahm er seiner Enkelin den Koffer ab und sah sich suchend um. „Wo ist dein Gepäck, Jessi?“
„Das ist bereits hier, in LA“, erklärte ich.
„Eine lange Geschichte, Grandpa“, ergänzte Caitlin, als sie den erstaunten Blick ihres Großvaters sah. Lachend hängte sie sich bei ihm ein. „Ich erzähle sie dir später. Lass uns erst einmal zu Jessis Freunden hinübergehen. Sie warten mindestens schon so lange wie du.“
„Hallo Jess.“ Ty zog mich in eine Umarmung, als hätte er mich hundert Jahre nicht gesehen. Als er mich losließ, glaubte ich einen verdächtigen Schimmer in seinen braunen Tom-Cruise-Augen zu sehen. Doch mir blieb keine Zeit, um darüber nachzudenken, denn auch Shemar und Butch wollten mich begrüßen. Ihre Umarmung fiel nicht minder heftig aus.
„He Jungs“, versuchte ich mit belegter Stimme mühsam zu scherzen. „Was ist denn los mit euch? Habt ihr am Ende geglaubt, ich komme nicht wieder? So leicht werdet ihr mich nicht los.“ Ich atmete tief durch, als ich sah, wie die drei ein mehr oder weniger gezwungenes Lächeln aufsetzten. „Darf ich euch meine Freundin Caitlin Jennings vorstellen? Und der nette Herr an ihrer Seite ist ihr Grandpa, Hank Jennings.“ Die Männer begrüßten zuerst Caitlin, dann ihren Großvater mit Handschlag, was mir etwas Zeit verschaffte, tief durchzuatmen, bevor ich mir wagte, die alles entscheidende Frage zu stellen: „Also… Wieso holt ihr mich ab? Wo ist Cooper?“
„Ja… ähm…“, begann Butch umständlich und ich sah, wie er nervös von einem Bein aufs andere trat. „Die Sache ist die…“
„Er hat es nicht geschafft, dich abzuholen“, fiel Shemar ihm mit einer Entschlossenheit ins Wort, die mich unwillkürlich aufhorchen ließ. „Er hat einen neuen Auftrag und trifft dich… zu Hause.“
„Ah ja“, nickte ich und musterte einem nach dem anderen prüfend. „Und stattdessen schickt er euch drei, eine ganze Abordnung. Auch nicht schlecht! Fahren wir etwa gleich ins „Bubbas“, oder was bedeutet zu Hause?“
„Bel Air“, erwiderte Ty und räusperte sich mit einem entschuldigenden Blick auf Caitlin und ihren Großvater, die daneben standen und die kleine Szene interessiert verfolgten. „Wir müssen uns jetzt leider verabschieden." Freundlich nickte er den beiden zu. „Caitlin… Mister Jennings.“
„Moment mal!“ Energisch hob meine Freundin die Hand und musterte die drei Männer argwöhnisch. „Ist wirklich alles in Ordnung?“
„Aber ja, natürlich“, beeilte sich Butch zu sagen. „Coop hat uns extra hergeschickt, um Jess abzuholen. In seinem Job ist es leider so, dass schnell mal etwas dazwischenkommt.“ Er wandte sich an mich und grinste schief. „Er macht es sicher wieder gut.“
„Na, das will ich dem Herrn aber auch geraten haben“, nickte Caitlin und wandte sich zu mir um. „Alles wieder okay?“
„Oh ja, natürlich“, nickte ich eilig und zwang mich zu einem Lächeln, obwohl in meinem Inneren noch immer Aufruhr herrschte. Aber ich wusste, wie sehr sie sich auf das Wiedersehen mit ihren Großeltern gefreut hatte und wollte sie auf keinen Fall weiter beunruhigen. Vielleicht hatte sie ja Recht und ich machte mir wirklich einfach nur zu viele Gedanken.
Caiti zögerte noch immer, doch ich zerstreute ihre Bedenken, indem ich sie rasch in eine herzliche Umarmung zog.
„Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich war eben nur ein wenig enttäuscht, dass Dean nicht hier ist, um mich abzuholen. Aber bei dieser Vertretung hier bin ich in besten Händen. Die Drei bringen mich sicher nach Hause“, flüsterte ich ihr zu, und nach einem letzten forschenden Blick gab sie schließlich klein bei.
„Pass auf dich auf, Jess! Wir telefonieren nachher, ja? Und spätestens heute Abend sehen wir uns oben auf der Farm. Zusammen mit deinem geheimnisvollen Lover, wohlbemerkt. Ist doch in Ordnung, Grandpa?“
„Aber sicher, ich bestehe darauf!“, lachte der sympathische, weißhaarige Mann und klopfte mir wohlwollend auf die Schulter. „Es gibt auf jeden Fall etwas Leckeres zum Abendessen.“
„Danke Mister… Hank. Grüß deine Grandma, Caiti.“
Ich sah den beiden nach, wie sie gemeinsam in Richtung Ausgang gingen, und mein Brustkorb schien sich für einen Augenblick schmerzhaft zusammenzuziehen. Als ich mich schließlich erneut meinen Freunden zuwandte, hatte das unheilvolle, beklommene Gefühl in mir gänzlich die Oberhand gewonnen.
„Also Jungs… was ist hier los?“
„Die Sache ist die…“, begann Butch zögernd, doch Shemar nahm meinen Arm und führte mich mit sanftem Nachdruck gen Ausgang.
„Wir reden im Wagen.“
„Soll das heißen, es ist besser, ich sitze, wenn ich endlich eine Antwort auf meine Frage bekomme?“
Anstatt etwas zu erwidern räusperte er sich nur umständlich, ließ jedoch meinen Arm nicht los. Meinen kleinen schwarzen Trolli in der Hand, lief Ty neben uns her. Butch trottete schweigend hinterdrein.
Das Dienstfahrzeug der Station, ein grauer Jeep mit der Aufschrift „LAPD- Police dogs unit“ stand direkt vor dem Eingang, ein Park-Privileg, das sich nur die LAPD ungestraft leisten konnte.
Shemar öffnete mir die hintere Tür, und während ich einstieg, verstaute Ty eilig den Trolli im Kofferraum und nahm dann neben mir Platz. Butch kletterte ächzend auf den Beifahrersitz.
„Schmerzt dein Knie wieder?“, fragte ich besorgt und er nickte heftig. „Immer öfter. Es wird nicht besser.“
Shemar schob sich hinters Lenkrad, startete den Motor und manövrierte den Jeep zügig auf die kurvenreiche Hochstraße, die aus dem dicht befahrenen Flughafen-Gelände Richtung Highway One führte.
„Also, ich will nicht länger drum herum reden, Jess“, begann Ty nach einer gefühlten Ewigkeit vorsichtig. „Die Sache ist die… Coop ist seit gestern Nacht verschwunden.“
„Waaas?“ Ich fuhr hoch und starrte ihn an, als hätte er mir gerade den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang prophezeit. „Das ist unmöglich! Wir haben doch gestern noch miteinander telefoniert!“
Da sich Ty neben mir zunächst auf meinen Einwand hin in Schweigen hüllte, versuchte ich auf das eben Gehörte erst einmal selbst eine Antwort zu finden.
„Sicher wird er wieder einmal Undercover unterwegs sein. Die Aufträge kommen doch meist überraschend.“
„Er ist nicht im Einsatz“, grummelte Butch auf dem Beifahrersitz.
Irritiert blickte ich Ty an, doch der saß immer noch schweigend da, die Lippen hart aufeinandergepresst.
„Aber… aber… aber… ihr habt mir doch selber erzählt, d…dass er nicht über seine Einsätze spricht!“, wagte ich vor Aufregung stotternd einen erneuten Versuch, seine Aussage zu verharmlosen. „Wie könnt ihr denn dann wissen, dass es diesmal anders ist? Er bekommt einen Auftrag, verschwindet für ein paar Tage, und keiner weiß, wo genau er sich gerade aufhält, weil er es einfach niemandem sagen darf…“
„Jess“, versuchte Shemar meinen Redeschwall zu unterbrechen, doch ich plapperte einfach weiter, weil mir die irrationale Angst vor der Wahrheit bereits im Nacken saß. „Ihr wisst doch wie so etwas läuft, keiner darf etwas wissen, außer dem Chief, der ist ja über solche Aktionen immer als erster informiert, und so ist es ganz sicher auch dieses Mal…“
„Na klar, Jess, vielleicht ist es ja so, wie du sagst“, pflichtete mir Tyler nach seinem anfänglichen Schweigen plötzlich eilig bei und legte beruhigend seine Hand auf meinen Arm. „Genauso wird es…“
„Schluss damit!“, rief Shemar ungehalten dazwischen. „Halt die Klappe, Ty, hörst du? Hör auf mit dem Scheiß, verdammt!“ Entschlossen setzte er den Blinker und fuhr auf den rechten Seitenstreifen. Dort stoppte er den Jeep und schaltete den Motor ab. Sofort breitete sich eine unheilvolle Stille im Wageninneren aus.
Ich wagte kaum noch zu atmen, als Shemar sich zu mir umdrehte und seine Sonnenbrille abnahm. Seine dunklen Augen machten mir plötzlich Angst.
„Hör zu, Jess, es ist kein Auftrag, jedenfalls keiner von uns. Ramon teilte uns mit, dass Coop einen Anruf bekommen hätte, gestern Abend.“
„Und… von wem?“
„Allem Anschein nach von Rebecca Cooper. „Rührt euch nicht weg, ich bin gleich da!“, hörte Ramon ihn sagen, dann ist er sofort mit dem Helikopter los.“
Ich starrte Shemar an und ahnte instinktiv, dass das noch nicht alles war.
„Und weiter?“
„Heute Morgen wurden Trümmerteile vor der Küste von Malibu gefunden. Trümmerteile von Coops Helikopter.“
Unfähig, mich zu rühren, saß ich da und ließ keinen Blick von seinem angespannten Gesicht. Er wischte sich über die Augen und nickte mit zusammengepressten Lippen.
„Ich kann dir die Wahrheit leider nicht ersparen, Jess. Vor vier Stunden wurde von der Küstenwache eine Leiche aus dem Meer geborgen.“
Mein Oberkörper schnellte nach vorn, und meine Nägel gruben sich in die Sitzlehne vor mir.
„Oh Gott… bitte… nein…“
„Es war die Leiche von Rebecca.“
Ich saß da und versuchte den Sinn dieser schrecklichen Information zu verarbeiten.
Im ersten Augenblick durchflutete mich grenzenlose Erleichterung darüber, dass es nicht Dean gewesen war, den sie gefunden hatten. Dann fielen mir schlagartig die erwähnten Trümmerteile ein, zeitgleich mit der Erkenntnis, dass Rebecca mit Sicherheit den Helikopter nicht selbst geflogen hatte, sondern…
Ein Entsetzensschrei durchschnitt die Stille im Wagen, Sekunden bevor ich begriff, dass es mein eigener gewesen war.
„Nein… Nicht…!“
Fassungslos saß ich da, die Hände zu Fäusten geballt auf den Mund gepresst, um nicht unkontrolliert loszuschreien. Meine Augen wanderten zwischen Shemars und Butchs Gesicht hin und her, doch bei keinem von beiden entdeckte ich auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer, an den ich mich in diesem furchtbaren Augenblick hätte klammern können.
„Jessica…“ Ty beugte sich vor und zog mich wortlos in seine Arme. Dem ersten Impuls folgend wollte mich dagegen wehren, doch in dem Moment, als ich das eben Gehörte begriff, hatte mich anscheinend alle Kraft verlassen. Wimmernd sank ich an seine Schulter, während er mir unbeholfen übers Haar strich. „Du bist nicht allein, Jess, wir sind für dich da“, hörte ich ihn wie aus weiter Ferne sagen.
In meinem Kopf kreisten die Gedanken wie ein Schwarm wilder Vögel.
Dean sollte tot sein… abgestürzt über dem Meer… an seiner Seite Rebecca… am Ende sogar ihr kleiner Sohn… wie hieß er nochmal… Matt?... oder Matthew?... Sie alle drei sollten tot sein… für immer… für ewig… unwiderruflich tot… Dean würde nie erfahren, dass ich sein Kind in mir trug… Ich würde nie erfahren, ob er darüber glücklich gewesen wäre… niemals… Niemals!!!
Aber warum hatte ich es nicht gespürt? Man sagte doch immer, Menschen mit einer engen Beziehung hätten ein Gespür dafür, wenn dem anderen etwas geschehen war! Warum spürte ich es dann nicht? Wieder und wieder horchte ich zitternd in mich hinein, doch da war nur Angst, grenzenlose, alles andere verdrängende, lähmende Angst…
Entschlossen befreite ich mich aus Tys schützenden Armen und richtete mich kerzengerade auf.
„Lass uns hinfahren, Shemar. Jetzt sofort! Ich glaube erst, dass er tot ist, wenn ich es mit eigenen Augen gesehen habe!“
„Jess“, versuchte er mich sofort zu beschwichtigen. „Ich halte das für keine besonders gute…“
„Fahr!“, fuhr ich ihn ungewollt heftig an. In diesem Augenblick konnte ich einfach nicht anders. „Komm schon, gib Gas! Na los!“
Shemar wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit seinem Beifahrer und ich bemerkte aus dem Augenwinkel heraus, wie Butch mit dem Kopf nickte. Daraufhin drehte er sich um, startete den Motor und fuhr los, zurück auf den Highway One in nördliche Richtung.
In Richtung Malibu...
Ich hatte noch nie in meinem Leben gebetet. Ehrlich gesagt kannte ich gar kein Gebet, nicht ein einziges. Und doch saß ich jetzt in diesem verdammten Auto und flehte Gott bei überhöhtem Tempo in Gedanken und nur für mich allein hörbar an, mir das hier nicht anzutun, sondern alles zum Guten zu wenden.
Was verlangte ich da eigentlich? Was sollte sich zum Guten wenden?
Rebecca war tot.
Zugegeben, das war furchtbar, und doch… egoistisch oder nicht, ich dachte die ganze Zeit pausenlos nur an Dean, und dass ich ihn um alles in der Welt wiederhaben wollte, egal, wie der liebe Gott das auch bewerkstelligen würde. Ich wollte ihn wiederhaben, lebend und unversehrt. Ihn - und wenn möglich auch diesen kleinen, unschuldigen Jungen, der für all das, was geschehen war, absolut nichts konnte.
„Fahr schneller, Shemar!“, hörte ich mich sagen. „Los doch!“
„Ich fahre schon viel zu schnell, Jess“, erwiderte er. „Selbst, wenn ich fliegen würde…“ Er stockte und räusperte sich verlegen. „Vergiss es. Ich beeile mich.“
Ich lehnte mich zurück und blickte mit tränenleeren Augen aus dem Fenster. Nein, ich würde jetzt nicht weinen. Das konnte ich immer noch tun, wenn ich Gewissheit hatte über das wahre Ausmaß dessen, was wirklich geschehen war. Meine Kiefer schmerzten, so sehr presste ich die Zähne aufeinander, um das qualvolle Schluchzen zu unterdrücken, das unaufhörlich meine Kehle emporstieg.
Ich starrte auf die vorbeifliegende Landschaft, und für einen Augenblick schien es mir, als hätte ich einen Schäferhund gesehen, der durchs Gelände oberhalb des Highways lief. Ich fuhr hoch und blickte zurück, doch da war nichts. Anscheinend hatte ich mich getäuscht und plötzlich fiel mir Jad ein.
Jad… war er dabei gewesen, als Dean sich gestern Abend auf den Weg machte? Hatte er mit im Helikopter gesessen, als es passierte?
Ich hörte in Gedanken dieses für ihn ganz typische Fiepen, das immer die passende Antwort auf irgendetwas gewesen war.
„Hat Ramon etwas davon gesagt, ob Jad bei Dean war?“, fragte ich atemlos.
„Keine Ahnung“, erwiderte Ty achselzuckend. „Aber so unzertrennlich, wie die beiden sind, wäre es gut möglich.“
Keuchend rang ich nach Luft und öffnete das Fenster ein Stück, um besser atmen zu können.
„Alles in Ordnung, Jess? Ist dir zu heiß?“, fragte Shemar besorgt, doch ich schüttelte den Kopf. Nichts, gar nichts war in Ordnung.
„Ich brauche nur etwas frische Luft.“
Das unmittelbar neben dem Highway One angebrachte, unübersehbare blaugrüne Begrüßungsschild mit der weißen Aufschrift „MALIBU – 27 MILES OF SCENIC BEAUTY“ versprach tatsächlich 27 Meilen lang landschaftlich unvergleichliche Schönheit. Für mich klang das wie der blanke Hohn. Hier war Deans Heli verunglückt, hier war jemand gestorben. Was hatte das alles mit landschaftlicher Schönheit zu tun?
Ich wusste, ich befand mich an einem der unbestritten schönsten Plätze der Welt, doch in meinen Augen war es momentan nur ein Ort, der gnadenlos über mein weiteres Schicksal entscheiden würde…