26. Zwischen Herz und Verstand
Ich wandte mich ab, trat zum Flurfenster und starrte hinaus, denn ich brauchte einen Augenblick, um das eben Gehörte für mich zu verarbeiten. Allmählich wurde mir klar, worin Deans tatsächliches Problem bestand: Es war nicht die Auseinandersetzung mit seinem Chef, und auch nicht die darauffolgende zeitweilige Suspendierung, die ihm zu schaffen machte, sondern einzig und allein Jads Verhalten. Sein Hund hatte wegen mir einen direkten Befehl ignoriert. Das war nicht einfach nur ein unbedeutendes Delikt. Hier ging es um mehr.
Dean befürchtete, Jad nicht mehr vertrauen zu können.
Aus seiner Sicht heraus konnte ich ihn sogar irgendwie verstehen, doch ich selbst sah die Sache aus einem gänzlich anderen Blickwinkel. Trotzdem wägte ich meine folgenden Worte erst einmal sorgsam ab, denn ich wusste, dass es nicht leicht sein würde, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, wenn er sich erst einmal eine Meinung gebildet hatte. Dennoch wollte ich es unbedingt versuchen.
Also drehte ich mich nach kurzer Überlegung erneut zu ihm um, fest entschlossen, für Jad zu kämpfen und Dean meine Sichtweise nahezubringen.
Er lehnte noch immer an der gegenüberliegenden Wand und brütete düster vor sich hin. Ich ging zu ihm und legte ihm beschwichtigend meine Hand auf den Arm.
„Du darfst Jad nicht die Schuld geben an dem, was passiert ist. Er hat instinktiv gehandelt.“
„Unsinn!“, fuhr er mich an. „Er ist ein Cop. In seiner Ausbildung gibt es genaue Richtlinien, und er ist von klein auf danach erzogen worden. Er muss gehorchen!“
Scheinbar unbeeindruckt von seinem harschen Tonfall blieb ich vor ihm stehen, denn ich hatte solch eine Reaktion erwartet.
„Du unterstellst ihm, dass er ungehorsam war, weil er angeblich deinen Befehl missachtet hat?“
„Das ist keine Unterstellung, sondern eine Tatsache, Jess! Er hat ihn missachtet.“
„Aber begreifst du denn nicht, dass er so handeln musste? Er ist nicht schuld, dass die Sache aus dem Ruder gelaufen ist.“
„Und wer war deiner Meinung nach daran schuld?“
„Wir beide, du und ich.“
Irritiert zog Dean die Augenbrauen zusammen, als hätte er den Sinn meiner Worte nicht richtig verstanden.
„Was soll der Unsinn? Wir beide haben nichts falsch gemacht.“
Ich nickte überzeugt.
„Doch, das haben wir. Indem wir Jad einer Ausnahmesituation ausgesetzt haben, der er nicht gewachsen war.“
Unwirsch fuhr er sich mit den Fingern durch sein Haar.
„Wovon redest du, verdammt?“
„Davon, dass wir beide in die Sache involviert waren. Und zwar genau zur gleichen Zeit, du auf der einen und ich auf der anderen Seite.“
Dean sah mich immer noch an, als würde ich chinesisch sprechen.
„Okay“, nickte ich, nahm auf einem der Stühle gegenüber Platz und bedeutete ihm, mir zu folgen. Immer noch sichtlich verärgert, aber auch irgendwie irritiert durch meine Worte, kam er meiner Aufforderung zögernd nach, blieb jedoch einen Meter vor mir stehen.
„Falls du mich jetzt mit irgendwelchem Psychokram beschwatzen willst, um Jad herauszuboxen, dann vergiss es“, knurrte er abweisend. „Er ist ein Polizeihund, und er hat zu gehorchen!“
„Er ist dein Hund, und er liebt dich, das weißt du doch. Und er würde alles für dich tun, sogar für dich sterben!“
„Das dachte ich bis zu der Sekunde, als er vorhin fast für dich gestorben wäre!“
„Er wollte mich beschützen! Einfach nur deshalb, weil er mich inzwischen fast genauso liebt wie dich! Frag mich bitte nicht, warum das so ist. Vielleicht, weil ich ihm den Glassplitter aus der Pfote geholt habe. Vielleicht, weil er ab und zu bei mir in der Station war und auf mich aufgepasst hat, als du nicht da warst. Vielleicht haben wir während unserer langen Strandspaziergänge beim Stöckchen werfen einen besonderen Draht zueinander entwickelt, keine Ahnung! Vielleicht aber auch, weil er gemerkt hat, dass wir beide…“ Ich bemerkte seinen Blick und brach ab, denn ich wollte nichts zu unserer Beziehung sagen, was ich hinterher vielleicht bereuen würde. „Wie auch immer, Jad liebt uns beide, Dean! Wir sind seine Lieblingsmenschen, du und ich! Und einer dieser Lieblingsmenschen wurde heute bedroht. Das hat bei ihm alles, was er gelernt hat, außer Kraft gesetzt. Er ist einzig und allein seinem Instinkt gefolgt.“
Dean sah mich noch immer mit diesem eigenartigen Blick an, den ich beim besten Willen nicht deuten konnte. Entweder er zweifelte an meinem Verstand, oder meine Worte hatten ihn nachdenklich gemacht.
„Du meinst also, wenn eine andere dort gestanden hätte, mit Cargos Waffe am Kopf, dann wäre das nicht passiert? Dann hätte Jad den Befehl nicht ignoriert?“
„Ganz sicher nicht“, bestätigte ich voller Überzeugung. „Egal, ob im Dienst oder privat, du reagierst doch auch emotionaler, wenn du jemanden beschützen willst, der dir etwas bedeutet! Oder etwa nicht? Warum sollte das bei ihm anders sein?“
Wir befanden uns mitten in einem Krankenhaus, und trotzdem war es plötzlich unerträglich still. Eine Stille, die mir regelrecht in den Ohren dröhnte.
Sag etwas… los, sag endlich irgendetwas…
Er rührte sich noch immer nicht von der Stelle, starrte mich nur aus diesen unergründlich dunklen Augen unverwandt an.
„Glaub mir, Dean, er ist immer noch derselbe treue Partner für dich, der er vorher war, davon bin ich überzeugt“, hakte ich schnell nach, denn irgendwie spürte ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. „Wir dürfen ihn nur niemals wieder in eine derart zwiespältige Situation bringen. Und das werden wir auch nicht, denn normalerweise bin ich bei euren Einsätzen nicht dabei.“
Warum sah er mich so komisch an? Und warum, zum Teufel, sagte er nicht endlich etwas?
„Dean?“
„Komm her!“
Jetzt war ich es, die irritiert war.
„Was?“
„Komm her!“
Vorsichtig erhob ich mich, doch bevor ich wusste, wie mir geschah, packte er mich und zog mich ungestüm in seine Arme.
„Hey, was“, entfuhr es mir erschrocken, als ich auch schon seine Lippen auf meinem Mund spürte. Er küsste mich so wild und besitzergreifend, dass mir die Luft wegblieb.
Trotz meines Gemütszustandes und des Nervenkrieges, den ich hinter mir hatte, reagierte ich erstaunlicherweise sofort auf ihn. Meine Knie wurden weich, mein Herzschlag verdoppelte in Sekundenbruchteilen seine Geschwindigkeit und jagte mein Blut derart schnell durch meine Venen, dass es in meinen Ohren rauschte und mir schwindlig zu werden drohte. Mein Unterleib pulsierte in schon fast schmerzhafter Weise, und meine Arme schlangen wie von selbst um seinen Hals, während sich meine Finger in seinem dichten Haar vergruben. Leidenschaftlich und unendlich erleichtert erwiderte ich seinen Kuss, den ich als Einverständnis dafür deutete, dass er das, was ich ihm eben versucht hatte zu sagen, auch wirklich verstanden hatte.
Als er mich irgendwann wieder freigab, rang ich lachend nach Luft.
„Hey, was war das denn, Mister Cooper? Sind dir die Argumente ausgegangen? War das ein Versuch, mich endlich zum Schweigen zu bringen?“
„Jad ist ein wahrer Glückspilz“, murmelte Dean und strich mir zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn. Der düstere Ausdruck war aus seinem Gesicht verschwunden. Endlich waren sie wieder da, die geliebten Fältchen in den Augenwinkeln, als er mich mit einem Lächeln ansah. „Du hast ihm eben zum zweiten Mal das Fell gerettet, Doc. Ist dir das klar?“
Ich schüttelte ich den Kopf und grinste.
„Du hättest ihn doch nicht wirklich fallen lassen! Dafür liebst du die Spürnase viel zu sehr. Oder?“
Das Lächeln verschwand, und sein Gesicht wurde nachdenklich.
„Ich hätte ihn nicht verstoßen, wenn es das ist, was du meinst. Jad ist mehr als nur ein Hund, er ist ein Freund, ein Partner auf Lebenszeit. Aber ich weiß nicht, ob ich noch mit ihm gearbeitet hätte. Da ist und bleibt eine Sache des Vertrauens. Aber du hast es mit deiner Herzchen-Psychologie immerhin geschafft, dass ich das Ganze zumindest nochmal überdenke.“
Ich verzog empört das Gesicht.
„Also jetzt hör mal gut zu, Dean Cooper…“
Ergeben grinsend hob er die Hände.
„Okay okay, euer Ehren, ich hab`s kapiert! Du hast ja Recht, vielleicht habe ich wirklich etwas überreagiert. Jad hat mich noch nie enttäuscht, und das darf er auch nicht. Denn wie ich schon mehrmals betont habe: Bei unseren Einsätzen hängt dein Leben nicht selten von der Reaktion des Partners ab. Jeglicher Vertrauensbruch kann tödlich sein.“
Jetzt war ich es, die grinsend die Hände hob.
„Okay okay, Herr Kommissar, ich hab`s auch kapiert. Und nun geh zu ihm. Er braucht dich.“
„Kommst du nicht mit?“
„Nein, ich sehne mich nach all dem Stress und literweise Angstschweiß nach einer heißen Dusche und frischen Sachen. Außerdem muss ich noch einige Dinge besorgen, die ich für Jad brauche, wenn wir ihn später mit zu dir nehmen.“ Ich bedachte Dean mit einem prüfenden Blick. „Ich hoffe, jetzt, wo die Gefahr gebannt und Cargo tot ist, darf ich mich wieder frei bewegen?“
Nach kurzer Überlegung nickte er, kramte den Autoschlüssel aus seiner Jackentasche und reichte ihn mir. „Der Jeep steht unten gleich neben dem Eingang. Ich habe ihn vorhin an der Station abgeholt, wo Paloma ihn geparkt hatte.“
Lächelnd nahm ich den Schlüssel entgegen.
„Schön, dass du mir zur Abwechslung mal vertraust!“
„Ich habe dir immer vertraut“, erwiderte er ernsthaft und zwinkerte mir dann zu. „Pass auf dich auf. Dein Verflossener ist immer noch flüchtig.“
„Mit dem werde ich schon fertig.“
„Sei trotzdem vorsichtig, Jess.“
„Versprochen“, nickte ich und küsste ihn zum Abschied auf die Wange. „Ich hole dich nachher wieder ab, zusammen mit deinem Partner.“
Unendlich froh und erleichtert, ja fast schon ein wenig erstaunt darüber, dass Dean relativ schnell eingelenkt hatte, verließ ich die Klinik. Vielleicht war es wirklich nur eine Panikreaktion seinerseits gewesen, eine Art „Tunnelblick“, basierend auf dem enormen Nervenkitzel der letzten Stunden, zusätzlich angeheizt durch die sicherlich alles andere als erfreuliche Strafpredigt seines Chefs mit anschließender Suspendierung. Nach so einem Tag war es eigentlich kein Wunder, wenn die Nerven blank lagen, selbst für einen Mann wie Cooper. Zum Glück war alles relativ gut ausgegangen. Vor allem für Jad. Er würde sich schnell erholen, dafür würde ich schon sorgen. Er sollte die bestmögliche Pflege bekommen, das hatte er mehr als verdient.
Während ich noch über all das nachdachte, startete ich den Jeep und fuhr die belebte Straße entlang in Richtung des Freeway, der direkt nach Bel Air führte. Der Tag neigte sich langsam dem Ende zu, und der sich glutrot färbende Abendhimmel kündigte pünktlich zur Rush Hour einen seiner spektakulären kalifornischen Sonnenuntergänge an.
Ich fühlte mich beschwingt, glücklich und so frei wie schon lange nicht mehr.
Trotzdem versuchte ich mein Glücksgefühle noch eine Weile zu zügeln und bemühte mich stattdessen, umsichtig zu fahren, denn für heute hatte ich wahrlich genug Aufregung gehabt.
Der dunkelblaue SUV fiel mir das erste Mal auf, als ich mich kurz vor der Auffahrt zum Freeway befand. Ich bemerkte ihn im gleißenden Licht der Abendsonne hinter mir und erinnerte mich unwillkürlich an den Tag, als Jim überraschend in der Station aufgetaucht war, und mich kurz danach auf meinem Weg nach Santa Monica ein ebensolches Fahrzeug verfolgt hatte. Damals war ich zu Ty geflüchtet und hatte meinen Verfolger, von dem ich annahm, dass es Jim war, mit seiner Hilfe ausgetrickst und abgehängt. Danach hatte ich gehofft, ihn nie wiederzusehen, doch inzwischen war ich eines Besseren belehrt worden. Ein spielsüchtiger Kerl, verzweifelt und von seinen Gläubigern in die Enge getrieben, gab nicht so einfach auf.
Natürlich war mir klar, dass es hierzulande tausende solcher dunkelblauer Wagen gab, dennoch wanderte mein Blick immer wieder in den Rückspiegel, und jedes Mal sah ich das Fahrzeug erneut dicht hinter mir in meinem Windschatten.
Ich wusste, dass Jim dem Kartell irgendwie entkommen und untergetaucht war. Immerhin hatten dieser Spielerboss Cargo und seine Leute mit allen Mitteln nach ihm gesucht. Er konnte jedoch inzwischen überall sein, in Las Vegas oder LA, es war sogar möglich, dass er sich bereits auf dem Weg zurück nach Irland befand.
Oder er war hier, einige Meter hinter mir…
Der Gedanke beunruhigte mich und bescherte mir eine Gänsehaut. Ich wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben und wünschte mir von ganzem Herzen, dass er endlich für immer und ewig aus meinem Leben verschwinden möge. Doch leider sagte mir mein Bauchgefühl etwas Anderes.
Ich ordnete mich zügig in den fließenden Verkehr des mehrspurigen San Diego Freeway ein, während meine Augen erneut zum Rückspiegel wanderten. Der SUV war noch immer da, klebte hartnäckig an mir, stets darauf bedacht, einen gebührenden Abstand zu halten, so dass ich keine Chance hatte, den Fahrer des Wagens zu erkennen. Meine gute Stimmung war längst jenem beklommenen Gefühl gewichen, das mich in der letzten Zeit viel zu oft heimgesucht hatte. Wann würde dieser verdammte Albtraum endlich enden?
Während ich mich, wohl oder übel der zähfließenden Geschwindigkeit des Feierabendverkehrs angepasst, auf einer der Mittelspuren des Freeway bewegte, versuchte ich, meinen Verdacht auf mein durch die Ereignisse der vergangenen Stunden geschwächtes Nervenkostüm zu schieben und schimpfte mich insgeheim überdreht und paranoid. Dennoch entschied ich mich kurz darauf sicherheitshalber für einen Test, indem ich mehrmals zügig die Spur wechselte, was mir jedoch lediglich ein unmissverständlich wütendes Hupen mehrerer Autofahrer einbrachte. Meinen vermeintlichen Verfolger schien das nicht zu beeindrucken, denn nach ein paar Sekunden befand er sich immer wieder hinter mir und blieb hartnäckig an mir dran. Schließlich wechselte ich kurz entschlossen nach rechts und nahm in letzter Sekunde eine Ausfahrt in Richtung Santa Monica. Der SUV schaffte es nicht mehr, hinterher zu ziehen und rauschte an der Ausfahrt vorbei.
Erleichtert atmete ich auf. Ich hatte ihn abgehängt.
Meinen ursprünglichen Plan, zuerst zur Villa zu fahren, um mich frischzumachen, musste ich wegen der so abrupt veränderten Streckenführung nun allerdings aufgeben. Also entschloss ich mich, das Beste aus den gegebenen Umständen zu machen und zuerst meine Einkäufe für Jad zu erledigen.
Zielstrebig fuhr ich den Santa Monica Boulevard in Richtung Zentrum und parkte den Jeep etwas außerhalb vor einem großen Einkaufspark. Hier würde ich alles bekommen, was ich brauchte, um unseren vierbeinigen Freund eine angemessene Betreuung zu seiner Genesung zukommen zu lassen. Danach hatte ich immer noch genügend Zeit, um meine Einkäufe nach Bel Air zu bringen und mich zu duschen und umzuziehen, bevor ich zur Klinik zurückfahren würde, um meine beiden Lieblingsmänner abzuholen.
Ich brauchte nicht lange, bis ich alles Nötige beisammen hatte. Inzwischen war es fast dunkel.
Als ich, beladen mit mehreren Taschen aus dem Supermarkt kam und über den Parkplatz lief, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen.
Da machte sich doch wirklich jemand am Kofferraum von Coopers Jeep zu schaffen!
Wütend rannte ich los, ließ die Taschen neben dem Wagen einfach fallen und hastete nach hinten, um den Autodieb zu stellen.
„Hey, was tun Sie denn da, verdammt nochmal?“
Der Mann, der vergeblich versuchte, die Zentralverriegelung des Jeeps zu knacken, hob erschrocken den Kopf unter dem tief ins Gesicht gezogenen Basecap.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, und konnte kaum glauben, wen ich da im fahlen Licht der Parkplatzbeleuchtung vor mir hatte…