12. Offene Rechnungen
Fassungslos starrte ich auf den Anblick, der sich mir bot, als ich in das Zimmer trat, das ich mir in den vergangenen Tagen zu meinem kleinen Zuhause auf Zeit gemacht hatte.
Der Raum war nicht wiederzuerkennen. Wer auch immer für dieses Chaos verantwortlich war, hatte wahrlich ganze Arbeit geleistet.
Die Vorhänge waren heruntergerissen worden und lagen zerfetzt auf dem Fußboden. Der kleine schmucke Glastisch war in tausend Stücke zerschlagen, die Bettdecke und sogar die Matratze waren aus dem Bett gezerrt und achtlos in eine Ecke geschleudert worden. Und das bequeme lindgrüne Sofa, das mir so gut gefallen hatte, sah aus, als hätte es jemand brutal mit dem Messer aufgeschlitzt, genauso wie mein Kopfkissen, dessen Inhalt aus weichen Daunen sich über das gesamte Zimmer verteilte.
Und dann meine persönlichen Sachen…
Ich war mit nur einem Koffer hier angekommen, und darin befand sich alles, was ich in der wenigen Zeit vor meiner Abreise für wichtig genug befunden hatte, um es in mein neues Leben mitzunehmen: Klamotten, Unterlagen, ein paar Fotos und der Laptop.
Inzwischen hatte ich mir einige Sachen dazugekauft, meine Garderobe aufgefrischt und versucht, diesem Zimmer durch ein paar sorgsam ausgewählte Accessoires eine persönliche Note zu verleihen. Nun lag all das, woran mein Herz hing, zerfetzt, zerschlagen und völlig durcheinandergewühlt auf dem Boden.
Wie versteinert vor Wut und Empörung stand ich da und vermochte mich zunächst nicht zu rühren. Es dauerte eine Weile, bis ich mich endlich überwand und zögernd den ersten Schritt ins Innere des Zimmers wagte. Dass die oder der Verursacher dieser brutalen Zerstörung noch anwesend sein könnten, daran verschwendete ich in diesem Augenblick keinen Gedanken. Mit Sicherheit wäre ich momentan jedem, der sich außer mir noch in diesem Raum befand, mit einem wütenden Aufschrei an die Gurgel gesprungen.
Nun stand ich wie betäubt mitten im Zentrum dieser brachialen Gewaltanwendung.
Was auch immer der oder die Einbrecher gehofft hatten, bei mir zu finden, sie hatten sich wahrlich nicht mit einer einfachen Suche begnügt. Das hier war ganz eindeutig mutwillige Zerstörung gewesen.
Mein Lieblingsshirt, das noch aus Zeiten meiner Mitgliedschaft beim Reitverein meiner Heimatstadt stammte, und mit dem unendlich viele schöne Erinnerungen verbunden waren, lag in Fetzen gerissen gleich hinter der Tür. Pullover, Jacken, Hosen und Shirts waren aus dem Schrank gezerrt, teilweise zerfetzt und wahllos im Zimmer verteilt worden. Das Holz der Schranktür war zerborsten, als hätte jemand mit aller Kraft dagegengetreten.
Nicht einmal vor meiner Unterwäsche hatten die Einbrecher haltgemacht. Zerrissene Slips lagen überall verstreut, und die Shorts, die ich letzte Nacht getragen hatte, hingen in Fetzen am Bettpfosten.
Über dem umgekippten Stuhl mit den gewaltsam zerbrochenen Beinen, entdeckte ich einen Teil meiner neuen Jeans, die ich mir erst vor ein paar Tagen gemeinsam mit Paloma während eines Stadtbummels in Santa Monica gekauft hatte. Es sah aus, als wäre sie in der Mitte durchgerissen worden.
Und dann erblickte ich meinen Laptop, und mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er lag aufgeklappt auf dem Fußboden. Jemand hatte offensichtlich mit einem kräftigen Tritt das Display zerstört. Vielleicht aus Wut, weil der Computer mit einem Passwort gesichert war, das ein Fremder niemals herausbekommen würde? All meine Fotos, meine Daten, die gesamten schriftlichen Aufzeichnungen, die ich während meines Studiums gemacht hatte, alles Wichtige war auf diesem Laptop abgespeichert. Das alles waren meine Erinnerungen, und sie waren für Fremde sicher völlig uninteressant!
Ich schauderte.
Welcher normal denkende Mensch tat so etwas Sinnloses? Wer war hier gewaltsam eingebrochen und hatte ohne Rücksicht auf Verluste all meine Sachen brutal zerstört und verwüstet?
Verdammt, ich hatte doch niemandem etwas getan!
Mein Blick fiel auf das Poster, das ich vor knapp einem Jahr in Irland hatte drucken lassen. Das Foto dazu hatte eine Mitstudentin irgendwann in vergangenen Tagen auf einem Ausflug in den Südwesten Irlands von mir gemacht. Es zeigte mich vor den beeindruckenden Klippen und dem Leuchtturm von Mizen Head an der Atlantikküste. Ich liebte dieses Bild, denn es war eines der wenigen Fotos von mir, auf dem ich richtig glücklich aussah. Mit Klebeband hatte ich es an der Wand über dem Sofa befestigt.
Das Poster war zur Hälfte heruntergerissen worden. Den Teil, der mein Gesicht zeigte, konnte ich nirgends entdecken, und plötzlich keimte Panik in meinem Inneren auf. Der oder die Einbrecher wussten, wie ich aussah, kannten mein Gesicht! Suchten sie etwa nach mir persönlich? Aber aus welchem Grund? Das hier sah nicht nach einem normalen Einbruch, sondern eher nach Wut und Rache aus.
Dass Jim für diese Tat verantwortlich sein könnte, glaubte ich nicht. Er mochte zwar ein Mistkerl sein, aber zu solch sinnloser Zerstörung war er trotz allem nicht fähig. Warum auch? Okay, er war hier, und er wollte mich zurück, aber eine Aktion wie diese würde uns mit Sicherheit einander nicht wieder näherbringen. Er kannte mich gut genug, um das zu wissen. Trotzdem wurde ich das vage Gefühl nicht los, dass das, was hier geschehen war, in irgend einer Weise mit ihm zu tun haben musste.
Während ich noch grübelte, blickte ich mich weiter im Zimmer um.
Die angrenzende Tür, die zu dem kleinen Bad mit Dusche führte, stand sperrangelweit auf und offenbarte ebenfalls ein Bild der Verwüstung. Zerstörte Toiletten- und Kosmetikartikel lagen auf dem Fußboden. Der Spiegel über dem Waschbecken war mit Lippenstift und Zahncreme beschmiert, der Fön lag zerschmettert zwischen zerknüllten Badetüchern auf dem Boden.
Noch immer völlig fassungslos presste ich meine Fingerspitzen an die pochenden Schläfen und versuchte mit aller Kraft dem Drang zu widerstehen, mich wimmernd in irgendeiner Ecke der Station zu verkriechen, um das Chaos, das vorher ein paar Quadratmeter vertraute Privatsphäre für mich gewesen war, nicht mehr sehen zu müssen. Aber ich wusste, das wäre der falsche Weg. Immerhin befand ich mich hier inmitten eines Gebäudes des LAPD, also war es am Naheliegendsten, die örtliche Polizei über den Einbruch zu informieren.
Aus irgendeinem widersinnigen Grund konnte ich den Gedanken nicht ertragen, noch mehr fremde Hände in dem, was bis heute Mittag meine persönlichen Sachen gewesen waren, herumwühlen zu sehen.
Zögernd griff ich nach meinem Handy, das ich glücklicherweise den ganzen Tag über in der hinteren Hosentasche meiner abgeschnittenen Jeans bei mir getragen hatte, und wählte mit zitternden Fingern Tylers Privatnummer.
Zu meiner unendlichen Erleichterung nahm er bereits nach dem zweiten Rufzeichen ab.
„Na, Vogel der Nacht, hast du Sehnsucht nach mir?“, klang mir seine fröhliche Stimme ins Ohr, und ich atmete befreit auf, denn er gab mir für einen Moment das Gefühl, nicht mehr allein auf der Welt zu sein.
„Ty, bitte… du musst unbedingt sofort herkommen…“ Vergeblich versuchte ich, meiner Stimme einen festen Klang zu geben, konnte jedoch ein Schluchzen nicht unterdrücken. „Ich brauche deine Hilfe!“
„Jess, was ist denn los?“, fragte er sofort besorgt. „Geht es dir gut?“
„Ja… nein… es ist nur… ich war mit Paloma unterwegs, und als ich vorhin zurückkam… Ty, jemand war hier und hat mein Zimmer verwüstet… es sieht aus, als wäre ein Bombe darin explodiert…“
„Was sagst du da? Jemand hat in der Station eingebrochen? Ja aber, die ist doch gesichert wie Fort Knox! Hat Butch die Hunde nicht rausgelassen? Wie konnten Fremde an denen vorbeikommen?“
Die Hunde!!!
Mir war, als würde eine eiskalte Faust nach meinem Herzen greifen. Es waren zwar nur wenige Hunde, die das Wochenende hier in ihren Zwingern verbringen mussten, und für gewöhnlich ließ Butch sie an den Wochenenden auch auf dem eingezäunten Gelände frei herumlaufen und sperrte sie erst bei seinem letzten Rundgang am Abend wieder ein. Mich hätten sie nicht behelligt, denn sie kannten mich inzwischen, und der Klang von Coops Jeep war ihnen ebenfalls gut vertraut.
Mit dem Handy in der Hand drehte ich mich um und rannte, so schnell ich konnte, die Treppe hinunter in den Hof. Ich wusste, ich würde es nicht ertragen, wenn diese Verbrecher den Hunden etwas angetan hatten.
Die Zwinger waren alle verschlossen. Die vier Polizeihunde, die heute hier waren, schienen meine Aufregung sofort zu spüren, denn sie begrüßten mich mit einem aufgeregten Bellen. Mit einem erleichterten Aufstöhnen erreichte ich den Zwinger von Dynamit-Curt, wie die Kollegen den großen, schwarzbraunen Schäferhund oft scherzhaft nannten. Sofort verstummte der vierbeinige Sprengstoff-Experte, blickte mich erwartungsvoll an und stupste vertrauensvoll mit seiner Schnauze gegen meine Hand, mit der ich die Gitterstäbe umklammerte.
„Es geht ihnen gut, Ty!“, rief ich ins Telefon. „Sie sind alle noch in ihrem Zwinger!“
„Dann war Butch gar nicht da?“, fragte Tyler am anderen Ende der Leitung ungläubig.
„Anscheinend nicht. Als ich weggefahren bin, war er jedenfalls noch nicht zu sehen.“
„Okay.“ Im Hintergrund unseres Telefonates vernahm ich, wie eine Autotür zuklappte und Ty den Motor seines Wagens startete. „Bitte schließ die Türen ab und warte auf mich. Geh nicht in dein Zimmer, und fass vor allem nichts an. Ich bin in ein paar Minuten da. Meine Kollegen und die Spurensicherung rufe ich von unterwegs an. Die brauchen nicht lange.“
„Tyler…“
„Ja, ich weiß, das ist alles andere als angenehm, aber sie müssen so schnell wie möglich alle Spuren sichern. Danach kannst du deine Sachen sortieren.“
´Da gibt es nichts mehr zu sortieren´, dachte ich resigniert, doch ich wollte ihn nicht noch mehr beunruhigen. Aufseufzend hockte ich vor Curts Zwinger und umklammerte wie haltsuchend das Handy.
„Ja, ich weiß. Danke Ty.“
„Kopf hoch, Jess. Ich bin gleich bei dir!“
Mir fiel auf, wie unruhig Curt schon die ganze Zeit auf und ab lief, zwischendurch mit der Pfote an der Gattertür scharrte und mich immer wieder winselnd ansah, als wolle er mir etwas Wichtiges sagen. Als ich mich erhob, begann er zu bellen, und die anderen drei Hunde stimmten sofort wieder mit ein.
„Na Curt, was ist denn los? Hast du mitbekommen, was passiert ist? Hast du diese verdammten Mistkerle gehört, die mein Zimmer verwüstet haben?“
Er bellte, als würde er mir auf meine Frage antworten und stieß auffordernd mit der Schnauze gegen die Gitterstäbe.
Ich zögerte. Bisher hatte ich noch nie einen der Hunde allein auf dem Gelände geführt, außer Jad natürlich, aber das war etwas Anderes. Trotzdem ließ mir Curts ungewöhnliches Verhalten keine Ruhe. Also entriegelte ich kurzentschlossen den Zwinger, schob mich an ihm vorbei ins Innere und langte nach der Leine, die an der Seite hing. Willig ließ er sich anleinen.
Als wir den Zwinger verließen, zog er sofort an. In rasantem Tempo überquerte er den Hof. Ich hatte Mühe mitzuhalten und ließ die Leine so lang wie möglich. Curt lief seitlich um die Station herum über den Parkplatz in Richtung Schranke.
„Nicht so schnell! Wo willst du denn hin?“, keuchte ich und spürte wieder die schmerzhaften Muskelverspannungen in meinen Beinen. Aber das war mir egal, Curt hatte gezielt Witterung aufgenommen, also hatte er entweder etwas gehört, oder seine feine Nase führte ihn zu einem bestimmten Platz. Aber durfte ich allein und ohne Genehmigung mit einem ausgebildeten Polizeihund das Gelände verlassen? Mit Sicherheit nicht. Vielleicht hätte ich doch besser auf Ty und seine Kollegen warten sollen?
Curt nahm mir die Entscheidung ab. Am Wachhäuschen der Schranke blieb er stehen und sah mich mit einem auffordernden „Wuff“ erwartungsvoll an. Dann begann er mit der Pfote an der Tür zu scharren.
Mein Herz klopfte bis zum Hals.
„Also gut, Curt. Ich werde jetzt nachsehen, aber du bleibst hier sitzen, verstanden? Sitz!“
Der Hund gehorchte und starrte auf die Tür. Ich schlich seitlich zum Fenster und spähte vorsichtig ins Innere der Wache. Meine Augen mussten sich erst einen Augenblick lang an das Halbdunkel des Raumes gewöhnen.
Dann sah ich ihn liegen…
Ich konnte einen erschrockenen Aufschrei nicht unterdrücken.
„Butch, oh mein Gott!“
Curt bellte wie zur Bestätigung, befolgte jedoch weiterhin seinen Befehl und blieb sitzen, während ich die Tür aufriss und hineinstürmte.
Ein beißender Geruch von Chloroform schlug mir entgegen.
Butch lag zusammengekrümmt auf dem Fußboden und rührte sich nicht. Ich ließ mich neben ihm auf die Knie fallen und fühlte zunächst seinen Puls. Erleichtert spürte ich das schwache, aber stetige Pochen seiner Halsschlagader.
„Butch, komm schon, wach auf!“, rief ich und versuchte trotz aller Aufregung, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken, während ich ihm mit der flachen Hand leicht auf die bleichen Wangen schlug. „Genug geschlafen, alter Mann, mach die Augen auf!“
Da er nicht reagierte, drehte ich ihn mit einigem Kraftaufwand auf den Rücken und kontrollierte nacheinander noch einmal seine Vitalfunktionen. Puls und Atmung waren zwar schwach, aber deutlich vorhanden, die Pupillen nicht erweitert. Äußere Verletzungen waren, außer einer Beule, die ich seitlich an seinem Kopf ertastete, auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Dafür entdeckte ich, als ich mich kurz umsah, direkt unter dem Tisch am Fenster die mögliche Ursache des typischen Geruchs: ein mit Chloroform getränktes Tuch. Jemand hatte Butch allem Anschein nach hier aufgelauert und betäubt, und ich konnte mir gut vorstellen, wer das gewesen war.
Ich nahm das Tuch vorsichtig mit zwei Fingern, öffnete das Fenster und warf es hinaus. Der Spurensicherung würde das sicher nicht gefallen, aber das war mir in diesem Augenblick egal. Butch war zu schwer, als dass ich ihn allein aus dem Raum befördern konnte, und hier in diesem Mief würde er so bald nicht wieder aufwachen.
Auf dem Tisch entdeckte ich eine Flasche mit Wasser. Schnell öffnete ich sie und benetzte ihm damit Wangen und Stirn.
Curt hatte anscheinend etwas gehört und meldete sich mit einem erneuten „Wuff“, so dass ich aufhorchte. Kurz darauf stoppte ein Wagen vor der Schranke, und ich atmete erleichtert auf.
Tyler war da.
„Hol ihn!“, befahl ich dem Hund, der sofort reagierte. Ein paar Sekunden später kniete Tyler neben mir.
„Was ist mit ihm?“
„Jemand hat ihn mit Chloroform betäubt. Er wird sicher bald wieder zu sich kommen. Allerdings muss er dringend an die frische Luft! Wir sollten ihn so schnell wie möglich hier rausbringen!“
„Warte“, Tyler eilte zu seinem Auto und orderte über Funk einen Krankenwagen. Mit einer Decke kam er zurück. Wir breiteten sie auf dem Boden neben Butch aus und rollten ihn vorsichtig darauf. Mit vereinten Kräften zogen wir ihn aus dem Wachhäuschen.
Aus der Ferne vernahmen wir Polizeisirenen.
Butchs Wangen hatten inzwischen etwas Farbe bekommen. Vorsichtshalber überprüfte ich noch einmal seine Vitalfunktionen, als er plötzlich hustete und seine Augenlider zu flattern begannen.
„Butch, aufwachen!“, rief ich sofort und kniff ihn leicht in die Wangen. „Los, komm schon, genug geschlafen! Mach die Augen auf!“
Und tatsächlich blinzelte er Sekunden später. Tyler rollte die Jacke, die im Wachhäuschen über der Stuhllehne hing, zusammen und schob sie ihm unter den Kopf.
„Na also!“ Erleichtert sah ich, wie Butchs Blick klarer wurde.
„Verdammt, wo bin ich?“, flüsterte er heiser.
„In der Station, Butch“, erwiderte ich und kontrollierte seinen Puls am Handgelenk.
„Was machst du denn da? Was ist mit mir? Warum liege ich im Dreck?“, fragte er völlig irritiert. Ich erklärte es ihm, und er fluchte wieder. „Diese verdammten Schweine!“
„Dann waren es mehrere?“, hakte Tyler sogleich nach.
Butch nickte.
„Sie waren zu zweit. Standen vor der Schranke herum, als ich angefahren kam. Hab mich schon gewundert, was die hier wollen. Als ich ausgestiegen bin, hat mich der eine nach dem Weg zum Flugplatz gefragt, und bevor ich sagen konnte, dass sie hier völlig verkehrt sind, drückte mir der andere irgendwas aufs Gesicht, und alles wurde schwarz.“
„Chloroform“, erklärte ich. „Sie haben dich betäubt.“
„Zum Teufel nochmal! Bei einem ehrlichen Kampf hätten die Kerle keine Chance gehabt!“ Aufstöhnend griff er sich an den Kopf. „Verdammt, mir brummt der Schädel wie verrückt!“
Tyler klopfte seinem Kollegen gutmütig auf die Schulter.
„Das wird wieder, Butch, wer fluchen kann, wie du, den bringt so schnell nichts um!“
„Du hast dir eine Beule am Kopf geholt, sicherlich vom Hinfallen“, fügte ich hinzu und strich ihm beruhigend mit der Hand über den Arm. „Der Notarzt wird dir gleich etwas gegen die Schmerzen geben.“
„Der Notarzt? Was soll ich denn mit dem?“, erboste sich Butch, und sofort bekamen seine Wangen wieder ordentlich Farbe, ein gutes Zeichen dafür, dass sich der Kreislauf und die Durchblutung stabilisierten. „Mir geht es gut, verdammt!“
„Klar, er wird dich nur zur Sicherheit durchchecken, damit wirklich alles okay ist“, versuchte ich ihn zu beruhigen, doch er schnaufte erbost.
„Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie…“
In diesem Augenblick stoppten drei Einsatzwagen mit heulenden Sirenen vor der Schranke, die Tyler daraufhin öffnete.
Er erklärte dem Einsatzleiter die Lage, während ich Curt befahl, neben Butch zu warten. Geduldig setzte der vierbeinige Officer sich nieder, und Butch beruhigte sich angesichts des treuen Hundes sofort und klopft ihm den Hals. „Hast mich gefunden, Dynamit-Curt? Bist eben ein Profi, mein Alter!“
Ein Kollege der Spurensicherung betrat mit einem kleinen Koffer das Wachhäuschen und machte sich sofort ans Werk, um alle vorhandenen Spuren zu sichern. Ich erklärte ihm die Sache mit dem Tuch, und der ältere Mann nickte. „Keine Sorge, Sie haben alles richtiggemacht, Miss. Ich sehe es mir gleich an.“
Kurz darauf fuhr der Rettungswagen aufs Gelände. Butch protestierte lautstark dagegen, ins Krankenhaus gebracht zu werden, doch der Notarzt ließ sich angesichts der Beule am Kopf nicht erweichen. Der Patient durfte noch rasch eine Personenbeschreibung der beiden Täter abgeben, dann wurde er abtransportiert. Betreten blickte ich dem Wagen hinterher, als er das Gelände verließ. Diesmal ohne Notsignal, was ich erleichtert als gutes Zeichen für Butch wertete.
Mit Curt an der Leine folgte ich den Polizisten und der Spurensicherung zum Hauptgebäude. Mit lobenden Worten und einem Extra-Leckerli entließ ich den treuen Polizeihund in seinen Zwinger und stieg anschließend mit einem klammen Gefühl im Magen die Treppe hinauf.
Oben herrschte bereits ein geschäftiges Treiben. Vergeblich versuchte ich auszublenden, dass es mein Zimmer war, in dem nach Spuren und Fingerabdrücken gesucht wurde, und dass es sich um meine Sachen handelte, die fotografiert, untersucht und genau begutachtet wurden.
Ich wollte das alles nicht mehr sehen, ich wollte nur weg.
Tyler brauchte mich nur anzuschauen, um zu wissen, wie schlecht ich mich fühlte. Er nahm mich zur Seite und erklärte mir, dass ich gerne woanders warten könne, mich allerdings für Fragen zur Verfügung halten solle.
„Mach dir einen Kaffee, ruf deine Freundin in Deutschland an, tu irgendetwas, das dich ablenkt.“
Wider Willen musste ich lachen.
„In Deutschland ist es fünf Uhr morgens!“
Er grinste.
„Okay, dann ruf Paloma an oder lies ein Buch!“
„Schon gut, Ty, ich habe verstanden. Wenn jemand nach mir sucht, ich bin gleich nebenan in der Praxis. Dort habe ich zum Glück noch ein paar Sachen im Schrank, so dass ich nicht das ganze Wochenende in dieser abgeschnittenen Jeans und dem verschwitzten Top herumlaufen muss.“
„Ist wirklich alles hinüber?“, fragte er kopfschüttelnd und deutete in Richtung meines Zimmers. Traurig zog ich die Schultern hoch und nickte.
„Ich fürchte, ja. Und selbst wenn noch etwas heil sein sollte, dann könnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass diese Verbrecher es angefasst haben.“
„Kann ich verstehen.“ Mitleidig streichelte er meine Schulter. „Ruh dich ein wenig aus, bevor meine Kollegen kommen und dir ihre Fragen stellen. Ich halte hier die Stellung!“
Am Ende des langen Ganges lagen Dr. Allisters Praxisräume. Ich betrat mein veterinärmedizinisches Vertretungsterrain, verschloss die Tür hinter mir und lehnte mich aufstöhnend dagegen. Mein Kopf schmerzte von den Schrecken der letzten Stunde. Der einzige Trost für mich war, dass den Hunden nichts passiert war, und dass sich Butch bereits auf dem Weg der Besserung befand. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ihm oder den Fellnasen etwas Schlimmeres geschehen wäre.
Allmählich fragte ich mich ernsthaft, womit ich all das verdient hatte.
Was war nur los?
Es schien fast so, als hätte sich alles gegen mich verschworen. Kaum war ich nach meiner überstürzten Flucht aus Irland etwas zur Ruhe gekommen, da holte mich meine Vergangenheit auch schon wieder ein, und zwar in Person meines Ex-Freundes, der mir allen Ernstes weismachen wollte, dass alles nur ein fataler Irrtum gewesen sei. Und bereits einen Tag danach wurde mein Zimmer von Unbekannten aufgebrochen und grundlos verwüstet.
Grundlos?
Nein, daran konnte ich nicht glauben. Irgendeinen Grund musste es geben, warum es diese Kerle ausgerechnet auf meine Sachen abgesehen hatten. Sie waren in die Station eingebrochen, hatten sich für nichts Anderes interessiert als für mein Zimmer, waren zielgerichtet nach oben marschiert und hatten alles systematisch kaputtgeschlagen und zerstört, als ob sie nach etwas Bestimmtem suchten und mit der Zerstörung ein Exempel statuieren wollten.
Aber warum?
Ich konnte mir den Kopf zermartern, wie ich wollte, es half nichts, ich fand keine Antwort. Also versuchte ich, Tys Rat zu befolgen und mich etwas abzulenken. Ich duschte und zog die Sachen an, die ich vorsorglich zum Wechseln im Schrank deponiert hatte. In den Blue Jeans, dem hellblauen Shirt und der schwarzen Shirtjacke fühlte ich mich gleich etwas besser.
Ich trat zum Fenster und starrte gedankenverloren hinaus.
Der Pazifik lag ruhig vor mir, und am Horizont, genau dort, wo Meer und Himmel einander zu berühren schienen, ging die Sonne unter und färbte alles um sich herum in die schönsten Farben. Einem riesigen Feuerball gleich tauchte sie langsam in die im abendlichen Licht glitzernden Wellen weit draußen ein und beendete damit diesen Tag, der so ruhig begonnen und mir dann alles genommen hatte, was ich an persönlichen Erinnerungen hierher mitgebracht hatte. Ich schluckte und spürte wieder die aufsteigenden Tränen.
Nein!
Entschlossen atmete ich tief durch und würgte den dicken Kloss, der in meinem Hals zu stecken schien, tapfer hinunter. Ich würde nicht heulen! Seitdem ich hier angekommen war, hatte ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten schon genug geheult. Schluss damit!
Ich war immer eine Kämpferin gewesen, und ich würde das durchstehen und ganz neu anfangen. Noch hatte ich ein paar Dollar auf dem Konto, noch war nichts verloren.
Morgen, gleich nach Dienstschluss, würde ich hinüber nach Santa Monica fahren und einkaufen gehen. Alles, was diese Verbrecher zerstört hatten, war irgendwo ersetzbar. Außer den Erinnerungen, aber die trug ich sowieso tief im Herzen!
Ich schenkte mir einen Tee ein, kauerte mich in den Besuchersessel neben dem Schreibtisch und rief Paloma an. Während ich ihr alles, was passiert war, erzählte, spürte ich, wie sich die Spannung in meinem Inneren langsam löste. Der heiße Tee, den ich zwischendurch in kleinen Schlucken trank, tat sein Übriges, und ich wurde von einer wohltuenden Müdigkeit übermannt. Mit Palomas Stimme am Ohr wäre ich fast eingeschlafen, als sie plötzlich sagte:
„Ich weiß nicht, Jess, aber als wir vor deinem Ex auf dem Pier weggelaufen sind, da rief er dir irgendwas hinterher, und ich hatte das Gefühl, als wollte er dir etwas Dringendes sagen.“
„Was meinst du?“, fragte ich und war plötzlich wieder hellwach.
„Er sagte so sinngemäß: Jessica warte, du weißt nicht… Was weißt du nicht?“
„Keine Ahnung“, erwiderte ich wahrheitsgemäß, denn ich hatte momentan wirklich keinen Schimmer, was in Jims krankem Kopf vor sich ging. Es war, als hätte ich ihn nie richtig gekannt… Und dann diese lächerliche Sonnenbrille vorhin auf dem Pier! Ich wusste, Jim hasste die Dinger, ich hatte ihn während unserer gemeinsamen Zeit nie eine tragen sehen. Während ich noch darüber nachdachte, blätterte ich nebenbei spielerisch in den Seiten des dicken Bestellbuches, in das Dr. Allister seit Jahren alle Termine eintrug. „Sicher wollte Jimbo mir nur wieder weismachen, dass alles ein fataler Irrtum war. Das kann er sich getrost schenken. Er soll einfach verschwinden, mehr verlange ich gar nicht von ihm.“
„Ja, vielleicht hast du Recht“, lenkte Paloma ein. „Auf jeden Fall begleite ich dich morgen auf deiner Shopping-Tour. Ich bin sicher, wir werden eine Menge Geld ausgeben und viel Spaß haben!“
Wir verabschiedeten uns und ich legte auf. Die Sonne war inzwischen untergegangen und die Dämmerung brach schnell herein. Ich beschloss, das Licht einzuschalten, doch als ich aufstand, rutschte mir das Buch aus den Händen und fiel zu Boden.
Ich bückte mich, um es wieder aufzuheben, als ich den zusammengefalteten Zettel sah, der zwischen den Seiten steckte.
Neugierig entfaltete ich das Blatt und erkannte Dr. Allisters Schrift.
„Offene Rechnungen“ stand ganz oben, darunter die Namen der Kundschaft, das jeweilige Datum der Behandlungen und der noch ausstehende Betrag.
Paloma hatte mir erzählt, dass Dr. Allister zwar manchmal ziemlich griesgrämig war, aber immer verständnisvoll reagierte, wenn einer seiner langjährigen Patienten ab und an seine Rechnung nicht sofort bezahlen konnte. Dann schrieb er einen… Schuldschein?
Ich starrte wie hypnotisiert auf das Blatt Papier und hatte plötzlich das Gefühl, als würde der Boden unter mir schwanken. Mir wurde siedend heiß und gleich darauf lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn, und ich begann zu ahnen, was Jim mir bei unserer letzten Begegnung anscheinend hatte sagen wollen.
Und das gefiel mir ganz und gar nicht…