14. Im Fadenkreuz
Draußen war es inzwischen fast dunkel.
Kaum hatten wir das Gebäude verlassen, als Jad auch schon mit freudigem Gebell losstürmte und das Objekt seiner Begierde in Spitzengeschwindigkeit mehrmals umkreiste.
Im Licht der Scheinwerfer, die den riesigen Parkplatz beleuchteten, sah ich ihn nur wenige Meter vom Eingang entfernt stehen: Coopers nachtblauen Helikopter.
Mein Herz rutschte mir beinahe in die Hose. Ich war noch nie im Leben mit so einem Ding geflogen und hatte einen Heidenrespekt davor, mich von einer an einem Propeller hängenden Glaskugel durch die Luft schaukeln zu lassen. Unwillkürlich wurde ich langsamer und blieb schließlich unschlüssig stehen, während Cooper bereits die Türen öffnete und Jad wie selbstverständlich mit einem Satz in den Helikopter sprang, um im hinteren Teil des Passagierraums seinen Platz einzunehmen.
„Er liebt das Fliegen!“, rief mir Cooper zu und deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die Tür. „Na komm schon! Worauf wartest du?“ Einen Augenblick später zog ein breites Grinsen zog über sein Gesicht. „Verstehe! Du hast Angst!“
„Blödsinn“, widersprach ich hastig und setzte mich sofort wieder in Bewegung. Diese Genugtuung würde ich ihm nicht geben! Eilig versuchte ich mein Zögern zu erklären. „Ich bin nur noch nie mit so einem Teil geflogen, und nach der ganzen Aufregung heute weiß ich nicht, wie mein Magen darauf reagieren wird.“
Cooper grinste noch breiter.
„Keine Sorge, Doc! Falls er beschließt, sich während des Fluges zu entleeren, habe ich entsprechende Tüten dabei! Auch ganz große! Also… können wir jetzt?“
Ein sehr böses Wort auf den Lippen, das ich mit all der mir zur Verfügung stehenden Selbstdisziplin hinunterwürgte, ergriff ich notgedrungen seine Hand, die er mir entgegenstreckte, und kletterte auf den Sitz des Copiloten. Kaum hatte ich mich niedergelassen, beugte er sich vertraulich über mich und angelte nach dem Gurt, den er mir sehr langsam und äußerst gewissenhaft anlegte.
Verdammt, ich wollte nicht, dass er mir so nah kam. Das war nicht gut, gar nicht gut!
Zu allem Überfluss blickte er auch noch hoch zu mir, so dass sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war.
„Der Gurt ist absolut sicher. Aber falls dir das nicht reicht, in der Tür ist auch noch eine Kindersicherung. Wenn du also möchtest…“
„Wie wäre es, wenn du einfach den Mund hältst und losfliegst?“, entgegnete ich gereizt und presste den Kopf gegen die Rückenlehne, um aus der Gefahrenzone zu gelangen, was allerdings ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen war.
„Wer kann so viel Charme widerstehen“, raunte er völlig unbeeindruckt und warf mir einen Blick zu, der ausreichte, um mein ohnehin schon durcheinandergeratenes Innenleben noch ein wenig mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dann sprang er vom Einstieg, schlug die Tür zu und nahm Sekunden später neben mir im Cockpit Platz.
„Ich führe nur noch einen kurzen Pre-Flight-Check durch“, erklärte er mir, während er sich an den Instrumenten vor sich zu schaffen machte.
„Was ist das, ein Pre-Flight-Check?“, fragte ich misstrauisch.
„Eine vorgeschriebene Sichtkontrolle auf den technischen Zustand der Maschine“, klärte er mich auf, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. „Zum Beispiel, ob der Ölstand in Ordnung ist, alle Lampen funktionieren, ausreichend Treibstoff vorhanden ist und alle Klappen geschlossen sind.“
Ich lehnte mich zurück und atmete tief durch.
„Okay, lass dir ruhig Zeit.“
Cooper lachte und reichte mir ein paar dick gepolsterte, schalldichte Kopfhörer, die mit einem Mikrofon verbunden waren. „Über das Mikro können wir uns während des Fluges unterhalten“, erklärte er und langte nach seinem eigenen Headset. „Sag mir mal etwas Nettes!“, forderte er mich Sekunden später über sein Mikrofon auf.
„Nicht ohne meinen Anwalt.“
„Tut mir leid, Schätzchen, aber ich steh' nicht auf Dreier!“
„Du mich auch, Cooper!“
„Wie war das bitte?“, klang eine mir fremde Stimme an mein Ohr. Erschrocken hielt ich die Luft an. Coop, nicht im Mindesten verlegen, grinste breit.
„Ah, die Kollegen von der Küstenwache sind auch schon zugeschaltet!“
Ich rutschte beschämt etwas tiefer in meinen Sitz und beschloss, meinem Piloten gleich nach der Landung den Hals umzudrehen.
„Sorry, aber meine heutige Flugbegleitung ist total verrückt nach mir“, hörte ich Cooper zu allem Überfluss sagen, während er mir seinen berühmt-berüchtigten Lachfältchen-Killer-Blick zuwarf, der mich in meinem gegenwärtigen Vorhaben noch bestärkte.
„Glückspilz!“, erwiderte die fremde Stimme deutlich amüsiert.
Völlig unbeeindruckt von meinem unübersehbar empörten Gesichtsausdruck zwinkerte Coop mir zu und erkundigte sich dann über Sprechfunk in der Zentrale der Küstenüberwachung nach der aktuellen Wetterlage. Die Kollegen dort gaben einen kurzen Lagebericht sowie ihr „Okay“ für den Start.
„Roger“, bestätigte Cooper und warf einen kurzen Blick über die Schulter.
„Bist du bereit, Partner?“, fragte er in Richtung der hinteren Sitzbank, während er den Motor startete und der riesige Rotor über uns zu kreisen begann.
„Wuff“, gab Jad seine Rückmeldung, was wohl so viel bedeutete wie „Klar, kann losgehen!“
Meine Wut auf Cooper verflog mit dem Lärm des startbereiten Helikopters.
„Wo fliegen wir denn eigentlich hin?“, erkundigte ich mich in banger Erwartung auf das, was nun folgen würde.
„Wir machen erst einmal einen kleinen Rundflug, damit du auf andere Gedanken kommst.“
„Und dann?“
„Dann sehen wir weiter.“
In diesem Augenblick hob der Helikopter sanft vom Boden ab.
Im ersten Moment krallte ich meine Finger panisch in den Sitz, denn Armlehnen zum Festklammern waren leider nicht vorhanden. Vor mir, neben mir, über mir – überall nichts als durchsichtiges Plexiglas! Einfach grauenhaft! In Erwartung einer bevorstehenden Magendrehung kniff ich die Augen zusammen, doch dann merkte ich zu meinem Erstaunen, mit welcher Ruhe und Sicherheit Cooper den riesigen Vogel beherrschte. Ich spürte erleichtert, dass ich mich recht schnell entspannte und all meine Ängste irgendwo unten auf dem Parkplatz zurückließ, während ich vorsichtig blinzelnd die Augen wieder öffnete.
„Na also“, kommentierte Cooper nach einem kurzen Seitenblick meinen anscheinend recht gut sichtbaren Sinneswandel. „Ist fast wie Riesenrad fahren.“
Da ich bei ihm nie ganz sicher war, ob er mich mit seinen Kommentaren nur auf die Schippe nehmen wollte, ignorierte ich ihn und schaute stattdessen mutig durch die Fensterfront des Helikopters, der schnell an Höhe gewann und bereits Sekunden nach dem Start direkt über der Küste entlang schwebte. Neugierig geworden reckte ich den Hals. Die pausenlos an den Strand rollenden Wellen funkelten geheimnisvoll im Lichtkegel der Scheinwerfer.
Kurz darauf drehte Cooper den Helikopter sanft nach rechts, worauf sich der Vogel leicht schräg in die Kurve legte. Eigenartigerweise spürte ich keine Panik mehr, sondern fand es einfach nur toll.
Der ewige Traum der Menschheit vom Fliegen – ich durfte ihn hier und jetzt auf eine etwas andere Art erleben als in einer riesigen Passagiermaschine. Nicht unangenehmer, aber weitaus intensiver.
Cooper flog ins Landesinnere, und ein schier endloses, flimmerndes Lichtermeer schien sich plötzlich unter uns aufzutun. Unzählige Lichter, die eine Millionenstadt in ihrem unvergleichlichen Glanz erstrahlen ließen, als sei sie bis zum Horizont von einem flirrenden Gespinst aus hauchfeinem Gold überzogen.
Ein Hochgefühl erfasste mich und ließ mich alles um mich herum vergessen.
„Das ist… fantastisch!“, flüsterte ich überwältigt.
„Keine Angst mehr?“, klang mir Coopers Stimme im Ohr und erinnerte mich daran, dass wir über die Mikrofone miteinander verbunden waren.
„Nein, keine Angst mehr“, bestätigte ich lächelnd, ohne den Blick von der Aussicht vor mir zu lösen. „Es ist unglaublich schön!“
„LA ist bis zu seiner nördlichen Grenze flach wie ein Pancake, deshalb kann man so weit sehen“, erklärte er, während er konzentriert nach vorn blickte. „Die einzigen nennenswerten Erhebungen sind die Hollywood Hills und die Wolkenkratzer von Down Town.“
In der nächsten halben Stunde überflogen wir die „Stadt der Engel“ mit all ihren bekannten und weniger bekannten Sehenswürdigkeiten.
Im Tiefflug erblickte ich das absolut gigantische, beeindruckend in sich verschlungene System von verschiedenen Schnellstraßen, auf denen sich unzählige Fahrzeuge bewegten, die mich von hier oben aus an Ameisen erinnerten, die geschäftig hin- und hereilten.
„LA hat die größte Fahrzeugdichte der Welt“, verriet mir Cooper. „Ein trauriger Rekord, wenn du mich fragst, denn dafür haben wir hier die größte Smogbelastung der Vereinigten Staaten zu ertragen. Manchmal liegt die Stadt wie unter einer Dunstglocke.“
Während ich noch über seine Worte nachdachte, erinnerte ich mich an meinen ersten Blick aus dem Bus, als ich hier angekommen war. Downtown war in der Ferne fast nicht zu erkennen gewesen, und ich hatte dieses Phänomen damals einfach für Nebel gehalten.
„Sicherlich nicht besonders gesundheitsfördernd“, kommentierte ich seine Worte, und er nickte bestätigend.
„Viele Menschen hier leiden bereits unter Atembeschwerden. Da es im Verhältnis zu anderen Großstädten relativ wenig öffentliche Verkehrsmittel gibt, sind die meisten Einwohner auf das eigene Auto angewiesen. Morgens und abends im Berufsverkehr ist die Belastung am höchsten. Und weil LA weiträumig von Gebirgsketten umgeben ist, sammelt sich der Smog über der Stadt wie in einem Kessel. Da kann auch der frische Wind vom Pazifik nicht viel ausrichten.“ Er sah mein betroffenes Gesicht und lächelte etwas wehmütig. „Tja, wie du siehst, hat auch der wunderschöne Sonnenstaat Kalifornien seine Probleme. Wie überall auf der Welt. Kein Ort ist heute noch makellos. Aber wir haben Glück, denn heute Abend ist die Luft klar, und du kannst von hier oben alles genau sehen.“
Währenddessen flogen wir direkt auf die Hochhäuser von Down Town zu. Das hell erleuchtete, gigantische Panorama, welches ich schon unzählige Male auf Postkarten, Werbeplakaten und Reisekatalogen bewundert hatte, lag mir quasi zu Füßen. Cooper flog so dicht über die Dächer der Wolkenkratzer, dass ich glaubte, sie berühren zu können. Er zeigte mir die Bank von Amerika, das kleeblattförmige Bonaventure Hotel, wies auf den in grellbunten Farben beleuchteten Stadtteil Chinatown unten zwischen den Häuserschluchten und drehte eine Runde über der beeindruckenden Walt Disney Concert Hall, die, von riesigen Scheinwerfern angestrahlt, von allen Seiten wie vergoldet glänzte und in ihrer einzigartigen Architektur einfach gigantisch aussah.
Weiter ging der Flug über Old Town, den Ventura Boulevard, das Dodgers Stadium, das Staples Center und noch vieles mehr. Zu meiner Überraschung erwies sich Cooper als sehr kompetenter Fremdenführer, der die Stadt außergewöhnlich gut zu kennen schien und über ein ausgezeichnetes Wissen verfügte. Präzise beantwortete er all meine Fragen.
„Woher weißt du das alles?“, erkundigte ich mich irgendwann beeindruckt. „Machst du in deiner Freizeit öfter solche Rundflüge?“
„Nein, ich fliege meistens allein oder zusammen mit Jad. Aber ich bin hier aufgewachsen und kenne die Stadt wie meine Westentasche.“ Er schaute zu mir herüber und grinste. „Von oben und von unten.“
„Mit unten meinst du wohl die Straßenecken, an denen ihr beide gern herumlungert, wenn ihr Undercover-Cop spielt!“
„Schlaues Mädchen!“
Er drehte eine Extra-Runde um das hell beleuchtete Rathaus von Los Angeles, eines der markantesten Bauwerke der Innenstadt. „Gibt es etwas, das du besonders gern sehen würdest?“ fragte er beiläufig.
„Hollywood“, erwiderte ich ohne zu zögern und erntete einen erstaunten Blick.
„Im Ernst?“
„Ich war in meiner frühen Jugend ein wahrer Filmfreak“, erklärte ich verträumt. „Das Kino war mein zweites Zuhause!“
„Du erstaunst mich immer wieder, Doc!“
Er vollführte eine weitere gekonnte Wendung, und wenig später schwebten wir über die Hollywood Hills, hautnah vorbei an dem wohl berühmtesten Schriftzug der Welt. Andächtig ließ ich die riesigen Letter an mir vorüberziehen. Kurz darauf erreichten wir den weltberühmten Rodeo Drive, das riesige Gelände der Universal Studios und natürlich Beverly Hills, wo die Reichen und Schönen dieser Welt in ihren Prachtvillen wohnten. Cooper flog so tief, dass ich sogar die Sterne auf dem hell beleuchteten Sunset Boulevard und das weltberühmte Chinese Theater erkennen konnte. Tief beeindruckt blickte ich nach unten, um nichts zu verpassen.
„Ein Freund von mir fliegt spezielle Hollywood-Touren über die Villen der Stars. Er kennt sie alle“, hörte ich Coopers Stimme über meinen Kopfhörer. „Wenn du möchtest, arrangiere ich einen Flug für dich.“
„Sorry, aber das kann ich momentan nicht bezahlen“, warf ich bedauernd ein.
„Ich sagte doch, er ist ein Freund“, betonte mein Pilot und zauberte mir ein weiteres Lächeln aufs Gesicht.
„Okay. Das wäre toll, Coop!“
Später flogen wir die gesamte Küstenregion von Los Angeles entlang, von Newport über Huntington und Long Beach hinüber nach Manhattan Beach und weiter nach Marina del Rey, Venice und Santa Monica bis hin zum Getty Center, von dessen Aussichtsplattform aus man einen wunderbaren Blick auf das Lichtermeer von LA, auf die Hochhäuser von Down Town und den Ozean genießen konnte. Andächtig sog ich die einzigartigen Bilder, die sich mir boten, wie ein Schwamm in mein Gedächtnis, um nichts davon jemals wieder zu vergessen.
Cooper umkreiste das blendend weiße Museum-Center einmal, und ich erblickte oben auf einer kreisrunden Dachfläche das aufgezeichnete Kreuz, das einen Hubschrauber-Landeplatz anzeigte. Punktgenau positionierte Cooper den Helikopter über dem Landeplatz und ging dann langsam nach unten, um wenig später scheinbar mühelos exakt auf dem Kreuz zu landen.
Er schaltete den Motor ab und schob das Headset nach hinten, so dass es locker um seinen Hals lag.
„Aufwachen, Jad!“, rief er. „Wir machen eine kurze Pause!“
„Sind wir wegen der fantastischen Aussicht hier?“, erkundigte ich mich beiläufig.
„Die können wir nebenbei genießen“, erwiderte Cooper und klinkte seinen Gurt aus. „In erster Linie habe ich Hunger. Du hast sicher auch noch nichts gegessen!“
„Du willst hier zu Abend essen?“, fragte ich nicht sehr begeistert und sah verstohlen an mir herunter. In den einzigen Klamotten, die ich momentan noch besaß, fühlte ich mich zwar nicht unwohl, allerdings wagte ich zu bezweifeln, ob die Blue Jeans, das hellblaue Shirt und die schwarze Kapuzen-Shirtjacke das richtige Outfit für ein mit Sicherheit sehr nobles Restaurant in diesem Etablissement waren.
Cooper sprang aus dem Helikopter, kam zu mir herüber und öffnete mir die Tür.
„Behalte das Headset an, damit erkennt man dich als Hubschrauberpilot. Die sind immer willkommen und werden von allen geradezu angehimmelt“, grinste er, als hätte er meine Gedanken erraten.
„Ach so, deshalb willst du unbedingt hier essen“, gab ich zurück. „Sag doch gleich, dass du das für dein Ego brauchst!“
Er streckte mir zunächst kommentarlos seine Hände entgegen, um mir herauszuhelfen, doch sobald er sie ergriffen hatte, zog er mich kräftig zu sich heran, so dass ich ungebremst gegen seine Brust prallte.
„Hoppla“, meinte er, während mich seine Arme fest umschlossen und sein Gesicht erneut nur Zentimeter von meinen entfernt war. Zum ersten Mal bemerkte ich die winzig kleinen goldenen Pünktchen in seinen dunklen Augen, die mich sofort faszinierten.
Wie hypnotisiert starrten wir einander an.
„Keine Sorge, Doc, mein Ego ist vollkommen in Ordnung“, sagte er gefährlich leise, ohne den Blick abzuwenden. „Was ist mit deinem?“
„Bestens“, ächzte ich, unfähig mich zu bewegen. „Bis jetzt zumindest!“
Seine Hände lagen fest um meine Taille. Nach ein paar Sekunden löste er eine davon langsam und strich dann mit dem Daumen zärtlich über meine Unterlippe. „Es sieht so verdammt aufreizend aus, wenn du darauf herumkaust. Das würde ich bei Gelegenheit auch gern mal tun.“
Seine Geste erinnerte mich schlagartig an gestern Nacht, und sofort schoss eine heiße Woge der Lust durch meinen Körper. Bevor ich jedoch irgendwie reagieren konnte, gab er mich überraschend wieder frei. „Aber nicht jetzt, denn mir knurrt der Magen. In diesem Zustand kann ich nicht klar denken. Was ist mit dir?“
Völlig perplex öffnete ich den Mund, um etwas zu erwidern, doch dann klappte ich ihn ohne ein Wort wieder zu. Er hatte es tatsächlich geschafft, mich sprachlos zu machen. Einen Augenblick lang stand ich nur verwirrt da, bevor ich nach meinem Headset griff, das sich unglücklicherweise beim Zurückschieben in meinen Haaren verfing.
„Warte…“ Cooper trat hinter mich und entwirrte die Haarsträhnen mit ein paar kurzen Handgriffen. Mein Nacken begann angenehm zu kribbeln, als mich seine Fingerspitzen sanft berührten. Ich fragte mich allmählich ernsthaft, ob ich noch bei Sinnen war, denn ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie es wäre, mich jetzt einfach an ihn anzulehnen, die Augen zu schließen und den Augenblick zu genießen. Wie würde er reagieren?
Bevor ich jedoch der zweifelhaften Versuchung erlag, es auszuprobieren, stupste mich jemand mit Nachdruck ans Schienbein. Vor mir stand Jad und blickte erwartungsvoll zu mir hoch. Im Maul trug er ebenfalls ein Headset. Die knisternde Situation löste sich schlagartig auf, denn ich hätte mich über seinen Anblick vor Lachen ausschütten können, während ich mich zu ihm hinunterbückte und ihm das Set um den Hals legte.
„Schau mal an, hier will anscheinend noch jemand angehimmelt werden!“
„Na dann los, Partner“, grinste Cooper, schloss den Helikopter ab und wies auf die Tür zur Treppe, die ins Innere des Gebäudes führte. „Wollt ihr drin oder draußen sitzen?“
„Draußen!“, rief ich, und Jad, das Headset wie ein echter Flieger-Hund um den Hals, bellte zustimmend.
Ein paar Minuten später saßen wir auf einer weißen, palmengeschmückten Terrasse an einem Tisch mit einer atemberaubenden Aussicht auf das Lichtermeer von LA. Wie erwartet war das Ambiente hier vom feinsten. Um uns herum thronten Leute in Abendgarderobe, aber das störte mich nicht wirklich, nachdem uns einer der Kellner trotz unseres nicht ganz standesgemäßen Outfits überaus zuvorkommend begrüßt und zu einem der besten Tische geleitet hatte. Entweder stimmte Coopers Aussage, die Piloten betreffend, oder er war hier Stammgast, was ich mir allerdings nicht so recht vorstellen konnte, wenn ich mir allein schon die Preise auf der Getränkekarte ansah. Bevor ich ihn jedoch danach fragen konnte, kam der Kellner mit einer Schale Wasser für Jad herbeigeeilt. Der hatte es sich bereits unter dem Tisch bequem gemacht und trank sogleich gierig schlappernd aus dem silbernen Napf.
Dienstbeflissen reichte uns der Kellner die Speisekarten und erkundigte sich freundlich nach unseren Getränkewünschen. Ich schielte zu Jad und wiederstand nur mit Mühe der Versuchung, mir ebenfalls eine Schale mit Wasser bringen zu lassen. Kurz entschlossen bestellte ich einen Pfefferminztee. Cooper orderte ein alkoholfreies Bier.
Auf seine Aufforderung hin schlug ich die Speisekarte auf und verschanzte mich kurze Zeit später regelrecht dahinter, damit mein Begleiter mein entsetztes Gesicht nicht sah. Wenn ich mir morgen von meinem begrenzten Budget eine neue Grund-Garderobe samt Kosmetik und Zubehör kaufen wollte, dann würde ich hier nicht einmal einen einfachen Salat bezahlen können, ohne hinterher in der Restaurant-Küche das Geschirr spülen zu müssen!
Während ich noch überlegte, wie ich Cooper am besten beibringen sollte, das mir der Laden hier schlichtweg zu teuer war, legte sich plötzlich ein Finger auf den oberen Rand meiner Speisekarte und drückte diese sanft nach unten.
„Erde an Doc“, schmunzelte mein Gegenüber sichtlich belustigt. „Ich glaube, ich hatte vergessen zu erwähnen, dass du eingeladen bist!“
„Nein!“, protestierte ich etwas zu laut, so dass sich an den Nebentischen einige Gäste erstaunt nach uns umwandten. Diskret beugte ich mich etwas nach vorn über den Tisch. „Das geht nicht, das kann ich auf gar keinen Fall annehmen“, flüsterte ich verlegen. „Ich möchte nicht, dass du wegen mir einen Kredit aufnehmen musst!“
Er lachte, und einmal mehr stellte ich fest, wie unwahrscheinlich attraktiv ich die dünnen Lachfältchen fand, die sich in seinen Augenwinkeln bildeten. Um ehrlich zu sein fand ich den ganzen Kerl attraktiv. Aber das würde ich nicht einmal unter massiver Folter zugeben, denn Streicheleinheiten für sein ohnehin viel zu großes Ego bekam er garantiert schon mehr als genug von anderen Frauen. Er konnte von mir aus plötzlich vor Charme übersprudeln, in die vermutlich endlos lange Warteschlange seiner weiblichen Fans würde ich mich ganz sicher nicht einreihen.
„So großen Hunger hast du? Unglaublich!“, holte mich Cooper aus meinen Gedanken und spielte damit einerseits auf meine letzte Bemerkung und zum anderen auf meinen Magen an, der soeben ungeniert laut vor sich hin gegrummelt hatte. Schmunzelnd wies er auf die Karte. „Isst du gern Hühnchen?“
„Oh ja!“, entfuhr es mir, bevor ich mich bremsen konnte.
„Gut, dann vertrau mir, ich bestell uns etwas, das dir garantiert schmecken wird!“
Ich musterte ihn skeptisch, als er dem Kellner winkte, der daraufhin sofort Kurs auf unseren Tisch nahm, erwiderte jedoch nichts und hob nur scheinbar gleichmütig die Schultern.
„Okay, wenn du dich unbedingt in den Ruin stürzen willst!“
Während wir auf das Essen warteten, schaute ich hinaus auf das endlos scheinende Lichtermeer der Millionenstadt und dachte angesichts der unzähligen Lichter plötzlich daran, wie Caitlin und ich vor vielen Jahren zu Hause das „Fest der tausend Lichter“ erlebt hatten. Meine beste Freundin war damals als amtierende „Lichterprinzessin“ quasi die Schirmherrin über dieses schöne Fest gewesen, welches unsere Heimatstadt nach schwedischem Vorbild erstmals ganz groß feierte. Durch ihr Amt hatte sie David kennengelernt, mit dem sie mittlerweile bereits seit fünf Jahren glücklich verheiratet war. Er war damals ihr Bodyguard, und es dauerte nicht lange, da blieb er auch privat für immer an ihrer Seite.
Ich ertappte mich bei dem Wunsch, die beiden wären mit den Kindern jetzt bei Caitlins Großeltern zu Besuch. Ich würde sie anrufen, und im Handumdrehen wären sie hier. Oh ja, ich hatte verdammt große Sehnsucht, aber nicht nach meiner fernen Heimatstadt, sondern nach einem vertrauten Menschen, einer Freundin wie meine Caiti. Alles wäre nur halb so schlimm, wenn sie da wäre…
Ich spürte, wie sich meine Augen mit Tränen füllten. Schnell schluckte ich sie hinunter, doch der verräterische Glanz in meinen Augen verriet mich, als Cooper mich ansah.
„Alles okay mit dir?“, fragte er leise und ich glaubte eine deutliche Spur von Besorgnis in seiner Stimme zu hören.
Mit einem etwas wehmütigen Lächeln auf den Lippen nickte ich eilig.
„Ich habe nur an früher gedacht. Als ich mit meiner Freundin Caitlin um die Häuser gezogen bin.“
„Erzähl mir davon.“
„Ich will dich nicht langweilen.“
„Bis das Essen kommt, dauert es noch eine Weile“, gab er zu bedenken. „Also können wir uns genauso gut gepflegt unterhalten.“
„Das wäre zumindest mal etwas Neues“, zog ich ihn auf und er lachte.
„Ob du es glaubst oder nicht, ich kann mich auch benehmen. Und ich bin ein guter Zuhörer.“
Jetzt war ich es, die lachte.
„Klar, und in Kalifornien fällt zu Weihnachten der erste Schnee.“
Unsere Getränke wurden serviert. Cooper hob sein Glas und prostete mir zu.
„Auf dich, Doc. Möge deine Pechsträhne hier und jetzt enden.“
Darauf trank ich gerne, denn ich hatte es ziemlich satt, jeden Tag irgendwelche neuen Tiefschläge einstecken zu müssen.
„Also“, knüpfte mein Begleiter an das vorherige Thema an. „Wie war das mit dir und deiner Freundin?“
„Sie wurde vor Jahren zur Lichterprinzessin unserer Stadt gewählt. Ich war überall bei ihren Auftritten mit dabei. Zum Stadtfest nahm sie mich mit in den VIP-Bereich hinter der Bühne, wo wir Cassandra Lance, dem Star des Abends, begegneten. Die Dame stürmte damals gerade die internationalen Hitparaden. Was war das für ein tolles Fest! Wir haben getanzt und waren so glücklich! Bis zu dem heimtückischen Überfall, bei dem Caitlins damaliger Freund und Bodyguard schwer verletzt wurde…
„Ihr Bodyguard?“
„Einer, der immer in ihrer Nähe ist und sie beschützt.“
„Jess, ich weiß, was ein Bodyguard ist. Aber wozu braucht eine - wie war das gleich - Lichterprinzessin denn Personenschutz?“
„Es gab zu dieser Zeit ernstzunehmende Drohungen gegen die Stadt, und alle, die ein öffentliches Amt innehatten, waren in Gefahr. Und an jenem Abend hat der Mann seine Drohung wahrgemacht. Er hat sogar versucht, Caitlin zu entführen, aber die Polizei konnte das in letzter Minute verhindern.“
„Und was ist aus deiner Freundin und dem Bodyguard geworden? Sind sie noch zusammen?“
„Sie sind inzwischen glücklich verheiratet und haben zwei bezaubernde Kinder.“
„Klingt wie ein modernes Märchen.“
„Ja, die beiden haben es geschafft, ihr Märchen wahr zu machen. Und ich habe ihnen dabei geholfen. Nicht zuletzt deswegen bin ich auch die Patentante ihrer Kinder“, erwiderte ich nicht ohne Stolz. „Caiti und ich, wir sind bereits seit dem Vorschulalter beste Freundinnen, und gerade jetzt tut es mir unendlich leid, dass sie so furchtbar weit von mir entfernt ist. Dabei ist sie eigentlich sehr oft hier bei ihren Verwandten.“
„Ist sie Amerikanerin?“
„Zur Hälfte. Ihre Mum stammt aus Santa Monica. Sie hat als Reiseleiterin gearbeitet, und Caitis Dad hat sie während einer Rundreise kennengelernt.“
„Noch ein modernes Märchen! Wow…“
„Ich war vor etwa fünf Jahren schon einmal hier, als David und Caitlin in Santa Barbara geheiratet haben. Ihre Großeltern wohnen ganz in der Nähe. Bei ihnen hätte ich mich gern für eine Weile vor dem Rest der Welt verkrochen, als ich aus Irland abgehauen bin. Aber die beiden befinden sich zurzeit auf einer längeren Reise. Also musste ich meine Pläne notgedrungen ändern, und was mir auf der vergeblichen Suche nach einem freien Hotelzimmer passiert ist, weißt du ja.“
„Wieso? Was ist dir passiert?“, erkundigte er sich mit dem unschuldigsten Lächeln der Welt.
„Stell dir vor, ich bin über so einen Penner gestürzt, der da mitten auf dem Fußweg herumlungerte“, ging ich auf sein Spielchen ein.
„Hey… Ich habe nicht herumgelungert, sondern war im Dienst. Und du hattest die Augen in deinem Buch, anstatt auf der Straße!“
Wir sahen einander an und mussten plötzlich beide lachen.
„Du warst ziemlich unhöflich, Coop. Und arrogant. Ich hätte dir am liebsten den Hals umgedreht!“
„Was hast du denn erwartet, wenn da plötzlich so ein heißer Feger um die Ecke schießt und mir in die Beine tritt?“
„Wie war das?“
„Na ja, du bist förmlich in mein Leben hineingestürzt!“
„In dein Leben? Wohl eher über deine Beine!“
„Wie geht es deinem Knie überhaupt?“
„Ist wieder verheilt, danke der Nachfrage.“
„Trotz deiner eigenen Schmerzen hast du damals meinen Hund verarztet. Das hat mich ziemlich beeindruckt.“
„Du konntest deine Bewunderung gut verbergen.“
„Gehört zu meinem Job, Lady“, zog er mich augenzwinkernd auf. „Mittlerweile arbeiten wir quasi für dasselbe Team. Und heute sitzen wir hier zusammen.“ Er sah mich an und nickte dann voller Überzeugung. „Ja, ich würde schon sagen, dass du an jenem Tag mitten in mein Leben gestürzt bist. Und nicht nur in meines.“
„Wie meinst du das?“
Er wies unter den Tisch, wo Jad sich zu meinen Füßen zusammengerollte hatte und schlief. „Er scheint dich wirklich sehr zu mögen.“
„Ich mag ihn auch.“
„Und was läuft da zwischen dir und Tyler?“, wechselte Coop abrupt das Thema.
„Tyler? Er hat mir geholfen, als ich nicht weiterwusste. Er ist ein Freund.“
„Nichts weiter?“
„Worauf willst du hinaus?“
„Der Junge ist doch total verschossen in dich! Da sieht ein Blinder!“
„Oh nein!“, wehrte ich entschieden ab. „Nein, das haben wir beide schon längst geklärt. Ich will keine neue Beziehung, zumindest vorerst nicht. Mein Bedarf an Liebeskummer ist für die nächste Zeit gedeckt.“
„Nicht jede Beziehung endet im Liebeskummer.“
„Nicht jede Beziehung endet als modernes Märchen!“
„Du solltest dich nicht verschließen, nur weil dieser irische Kerl dich enttäuscht hat.“
„Moment mal!“ Irritiert kniff ich die Augen zusammen. „Was bitte versuchst du mir gerade zu sagen?“
Er sah mich bedeutungsvoll an.
„Als wir uns gestern Abend geküsst haben…“
„Du meinst, als du über mich hergefallen bist“, stellte ich die Sache aus meiner Sicht richtig. „Das war übrigens absolut unfair!“
„Unfair? Du hast mich doch angegriffen und hättest mich mit diesem Monstrum von einer Taschenlampe um ein Haar erschlagen! Aber wie auch immer, ich hatte das vage Gefühl, du bist sexuell etwas unterfordert.“
Ich glaubte mich verhört zu haben.
„Waaas?“
„Baby, wer so küsst wie du… das war... Wow!“
Ich fühlte mich durchschaut und spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.
„Du bist ein Arsch, Cooper!“
„Ja, das sagtest du schon. Dein Arsch ist übrigens auch der Wahnsinn!“
„Dann träum schön weiter, denn viel mehr bekommst du nicht von mir zu sehen!“
„Fürs Erste nicht schlecht. Der Rest ergibt sich.“
„Darauf kannst du lange warten!“
Zum Glück kam in diesem Augenblick der Kellner mit unserem Essen. Was auch immer Cooper bestellt hatte, sah fantastisch aus und mein hungriger Magen zog sich in freudiger Erwartung schmerzhaft zusammen.
„Lass es dir schmecken, Doc“, grinste Cooper und besaß doch wirklich die Frechheit, mir erneut vertraulich zuzuzwinkern.
Wütend schnappte ich mir die Gabel und hieb auf das zarte Hähnchenfleisch ein.
„Jess…“
„Was?“
„Es ist schon tot, du musst es nicht nochmal erstechen!“
„Schau gefälligst auf deinen eigenen Teller!“
In dieser Sekunde bewegte sich das Tischtuch neben mir und Jad streckte neugierig seinen Kopf darunter hervor. Der Duft des Essens war ihm wohl in seine feine Hundenase gestiegen. Er hatte seinen leeren Wassernapf in der Schnauze und sah mich so bittend an, dass ich augenblicklich meinen Groll auf Cooper vergaß.
„Du armer Kerl, du bist bestimmt genauso hungrig wie wir!“
„Er bekommt nachher zu Hause seine Mahlzeit“, erklärte sein Besitzer und fügte mit Nachdruck hinzu: „Und das weiß er auch. Nicht wahr, Partner?“
Ich nahm Jad die Schale ab und packte so unauffällig wie nur möglich ein großes Stück von meinem Hühnchen hinein.
„Ganz richtig, er ist dein Partner, in guten und in schlechten Zeiten! Also lass ihn gefälligst etwas fressen, wenn er Hunger hat. Wir essen schließlich auch!“, erklärte ich kategorisch und ließ den gefüllten Napf blitzschnell unter dem Tisch verschwinden.
Doch ich hatte nicht mit Jads guter Erziehung gerechnet. Sein Kopf erschien Augenblicke später auf der anderen Seite des Tisches. Erwartungsvoll blickte er seinen Herrn an und mir wurde plötzlich klar, dass er ihn auf seine ganz spezielle Art um Erlaubnis bat.
„Nimm“, knurrte Cooper, worauf Jad sofort wieder untertauchte und sich über das Hühnchen hermachte. Ich für meinen Teil erntete einen strafenden Blick. „Versuch nie wieder, meine Autorität bei Jad zu untergraben, denn wenn du das schaffst, ist das der Anfang vom Ende einer wunderbaren Partnerschaft.“
Betreten nickte ich, denn ich wusste genau, was er meinte. Es war ein Fehler von mir gewesen, Jads Bitten nachzugeben, ohne Cooper vorher nach den bestehenden Regeln zu fragen. Und unsere kleine Krabbelei sollte auch nicht auf Kosten des Hundes ausgetragen werden.
„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“
„Schon gut“, lenkte er ein und wies auf meinen Teller. „Aber bitte iss den Rest selber, du bist eh viel zu dünn!“
Zu dünn? Beleidigt schluckte ich meinen Protest hinunter, denn ich wollte nicht schon wieder mit ihm streiten. Stillschweigend widmete ich mich erneut meiner Mahlzeit.
´Sexuell unterfordert… zu dünn… was kam wohl als nächstes? Wenn das so weiterging, würde ich wegen diesem unverschämten Kerl wirklich noch Komplexe bekommen!´
Während ich meinen Teller leerte, fiel mir ein, dass Cooper zu Jad gesagt hatte, er bekäme zu Hause etwas zu fressen. Wo war dieses zu Hause? Bisher hatte er noch kein Wort darüber verloren, wo genau der Abend für uns beide enden würde. Gab es bei ihm überhaupt ein Gästezimmer für mich, in dem ich übernachten konnte, oder setzte er voraus, dass ich diese Nacht nicht nur bei ihm, sondern auch mit ihm verbrachte?
Als wir später im Fahrstuhl hinauf zum Helikopter-Flugdeck fuhren, und Coopers Hand wie selbstverständlich auf meinem Rücken lag, überlegte ich noch immer angestrengt, wie der heutige Abend nach seinen Vorstellungen wohl zu Ende gehen würde. Hatte er mich mitgenommen, weil er sich Sorgen um mein Wohlergehen machte, oder hatte er aus reinem Egoismus gehandelt? Nach unserem kleinen Rendezvous gestern Nacht gab es für mich kaum noch Zweifel: Er wollte mich ins Bett kriegen, und das hier war für ihn die beste Gelegenheit dazu.
Die Jess von früher hätte wahrscheinlich keinen Augenblick gezögert und wäre einem Mann wie Coop bedingungslos gefolgt, aber die Jess von heute mit etwas mehr an teuer bezahlter Lebenserfahrung sah das etwas anders.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte ich, als wir den Lift verließen.
Erstaunt schaute er mich an, doch bevor er antworten konnte, klingelte plötzlich mein Handy.
Der Blick aufs Display zeigte mir eine fremde Nummer und ich hielt unwillkürlich den Atem an, in der vagen Hoffnung, es könnte Jim sein, der mich von irgendwoher anrief.
Mit einem kurzen Handzeichen gab ich Cooper zu verstehen, dass er warten sollte.
„Hallo?“
„Na Süße, hast du dich über unseren kleinen Besuch heute gefreut?“, schnarrte eine mir unbekannte Stimme und in meinem Kopf schrillten sofort alle Alarmglocken.
Meine Finger, die das Handy hielten, verkrampften sich automatisch, und in meinem Inneren mischten sich Angst und grenzenlose Wut zu einem äußerst explosiven Gemisch.
„Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“, fragte ich erzwungen ruhig und versuchte, Coopers forschendem Blick auszuweichen. Doch er hatte anscheinend schon verstanden und bedeutete mir, auf Lautsprecher zu schalten. Mechanisch drückte ich den entsprechenden Knopf, so dass er mithören konnte.
„Was wir wollen? Stell dich nicht dümmer als du bist, du kleines Miststück! Hast du geglaubt, wenn du das Geld außer Landes bringst, seid ihr uns los? Wie dämlich muss man denn eigentlich sein?“
„Was für Geld? Wovon zum Teufel reden Sie?“
„Von dem netten Sümmchen, das dein Verlobter uns mittlerweile schuldet, Süße. Wir haben ihn deswegen ein wenig… nun ja, sagen wir mal… befragt…“ Ein unangenehmes, leises Lachen ertönte, das mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. „Nachdem wir ihm einigermaßen gut zugeredet haben, hat er uns verraten, dass du ihn verlassen hast und mit dem ganzen Zaster in die Staaten abgedüst bist. Ts ts ts… so etwas tut man nicht ungestraft!“
Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Langsam begriff ich, was hier gespielt wurde. Ich hatte richtig vermutet. Diese ganze Misere hatte ich einzig und allein Jim zu verdanken! Dieser verdammte Mistkerl hatte mir seine Gläubiger auf den Hals gehetzt, um seine eigene Haut zu retten! Die Erkenntnis darüber brannte wie Feuer in meiner Brust. Ich glaubte platzen zu müssen und spürte, wie die Wut in meinem Inneren langsam aber sicher die Oberhand gewann.
„Ihr gewissenlose Verbrecherbande zerstört meine Sachen aufgrund einer Aussage, die ihr aus ihm herausgeprügelt habt?“
„Wir haben seine Aussage lediglich überprüft“, erwiderte die sonore Stimme am anderen Ende der Leitung seelenruhig.
„Überprüft, ja? Indem ihr in meiner Unterwäsche herumgewühlt habt?“, schnauft ich zutiefst empört und ignorierte Coopers warnenden Blick. „Ist euch dabei einer abgegangen, als ihr all meine Sachen zerrissen und zertreten habt?“
„Das nicht gerade, aber ich gebe zu, wir hatten Spaß. Leider konnten wir nicht finden, wonach wir gesucht haben. Also noch einmal: Wo ist unser Geld?“
Ich versuchte tief durchzuatmen, als ich spürte, wie Cooper seine Hand beruhigend auf meinen Arm legte.
„Bleib ruhig“, formten seine Lippen. Ich nickte kaum merklich. Er hatte Recht, ich musste versuchen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Mit diesen Kerlen war nicht zu spaßen.
„Hören Sie, Mister“, ging ich etwas diplomatischer an die Sache. „Ich habe die verdammte Kohle nicht, und er hat sie auch nicht, denn dieses Geld hat nie existiert, weil er ein Spieler ist und alles verzockt hat. Aber was rede ich, im Grunde müssten Sie das alles doch selber wissen, wenn Sie so gut informiert sind! Also, bevor Sie und Ihre Freunde sich das nächste Mal an fremdem Eigentum vergreifen, fragen Sie gefälligst vorher!“
„Nur keine Sorge, Schätzchen, wir werden dich fragen! Persönlich!“, erwiderte die gesichtslose Stimme mit einem unüberhörbar drohenden Unterton. „Und wenn wir von dir nicht die richtigen Antworten bekommen, dann werden wir mit dir genau dasselbe machen, was wir mit deinen Sachen gemacht haben. Und zwar so lange, bis wir die richtigen Antworten bekommen, verlass dich darauf!“
Ein kurzes Knacken, und die Leitung war tot…