25. Bitteres Nachspiel
Müde und total erschöpft verließ ich den OP-Bereich der Culver West Health Klinik, in die man uns vor ein paar Stunden mit dem schwer verletzten Jad gebracht hatte. Ich hatte alles getan, was in meiner Macht stand, um Jads Leben zu retten, und ich war nicht allein gewesen, sondern hatte unerwartete Hilfe dabei erhalten. Dr. Harper, der diensthabende Chirurg, der uns bei unserer Ankunft am Eingang erwartete und erst in diesem Augenblick erfuhr, um was für einen Patienten es sich bei dem angeschossenen Officer handelte, hatte sich einen Teufel um die Vorschriften geschert und mich stattdessen tatkräftig unterstützt. Oder war es letztlich andersherum gewesen? Hatte ich als „nur“ Veterinärmedizinerin doch eher ihm geholfen?
Ganz egal, wir hatten beide unser Bestes gegeben, und es hatte sich gelohnt. Jad hatte den Eingriff gut überstanden und würde überleben.
Mit fest einbandagiertem Leib lag er, momentan noch an einen Überwachungsmonitor angeschlossen, in einer Art "Gitterbett", das eine der diensthabenden Schwestern vorsichtig nach nebenan in einen extra für ihn vorbereiteten Aufwachraum schob. Er würde, solange die Narkose nachwirkte, noch eine Weile tief und fest schlafen. Ich beobachtete, wie ihn die junge Schwester mit einer Wärmedecke zudeckte, während eine andere seine Vitalfunktionen am Monitor kontrollierte und ihm dann liebevoll über den Kopf streichelte.
In der Klinik hatte es sich anscheinend rasend schnell herumgesprochen, dass in OP 2 kein alltäglicher Patient operiert worden war, und es schien, als würde sich unser Held schon jetzt größter Beliebtheit beim diensthabenden Personal erfreuen.
Ich bedankte mich bei meinem älteren Kollegen, der mit Sicherheit viel mehr Berufserfahrung aufzuweisen hatte als ich. Immerhin arbeitete er jeden Tag auf dem weitreichenden Gebiet der Humanmedizin, während ich ausschließlich Tiere behandelte. Trotzdem unterschied sich unsere Arbeit mitunter gar nicht so sehr voneinander. Wir gaben beide täglich unser Bestes, um Leben zu retten und zu erhalten. So wie heute.
Harper und ich waren ein gutes Team gewesen, hatten Hand in Hand gearbeitet, um die Kugel schnell und präzise aus Jads Brust zu entfernen und ihn damit zu retten. Ich war überglücklich, dass uns das gelungen war, und dass Jad überleben würde. Nur das allein zählte.
Ich nahm die OP-Haube ab, zog Handschuhe und Kittel aus und wusch anschließend vorschriftsmäßig meine Hände, bevor ich den OP-Bereich verließ und hinauseilte, um Dean die gute Nachricht zu überbringen.
Wie erwartet saß er draußen auf dem Gang, hatte den Kopf in seine Hände gestützt und starrte apathisch die Wand an. Als er hörte, wie sich die Automatiktüren öffneten, blickte er sofort hoch. Er wirkte müde und abgespannt, und ich war sicher, dass er sich seit unserer Ankunft garantiert keinen Zentimeter von hier wegbewegt hatte.
Als er mich erkannte, sprang er auf und blickte mir erwartungsvoll entgegen. Ich sah die Angst in seinen Augen, als er in meinem Gesicht nach der alles entscheidenden Antwort suchte.
„Es ist alles gut, Dean“, beeilte ich mich zu sagen, sobald ich ihn erreicht hatte. „Jad hat den Eingriff überstanden und wird wieder gesund!“
„Ist das wahr?“ Er atmete hörbar auf, schloss mich in die Arme und vergrub für einen Augenblick sein Gesicht in meinem Haar. „Danke Jess!“
„Du musst dich nicht bedanken, ich war das nicht allein. Dr. Harper hat mir geholfen, und Jad hat ein starkes Herz. Er ist ein Kämpfer! Jetzt schläft er erst einmal. Wir können später zu ihm gehen, bevor er aufwacht.“
„Wann wird das sein?“
„In ein paar Stunden. Dr. Harper stellt uns bis dahin ein Bereitschaftszimmer zur Verfügung. Du kannst dich also noch etwas aufs Ohr legen.“
Dean ließ die Arme sinken und trat einen Schritt zurück. Sein Gesicht war plötzlich wie versteinert, seine Augen wirkten glanzlos und müde.
„Ich kann nicht bleiben. Der Chief erwartet meinen Bericht. Ich muss zurück ins Police Departement.“
Im ersten Moment schob ich seinen abgespannten Gesichtsausdruck auf das Geschehen der letzten Stunden, sowie die lange zermürbende Zeit bangen Wartens, und nickte ihm aufmunternd zu. „Komm schon, Dean, der Chief kann warten. Wenn du nicht endlich etwas Schlaf bekommst, wird dein Partner dich am Ende noch überleben.“
„Ich muss los“, erwiderte er knapp und wich meinem Blick aus. Hastig griff er nach seiner Jacke. „Du bist ja bei ihm, wenn er erwacht. Wir sehen uns später.“ Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief er eilig den Gang hinunter Richtung Ausgang.
Ich stand da wie vom Donner gerührt. Einem ersten Impuls folgend wollte ich ihm nachlaufen, ihn dazu bewegen, stehenzubleiben und mit mir zu reden, doch mein Instinkt sagte mir, dass dies sinnlos gewesen wäre. Ich kannte ihn zwar noch nicht sehr lange, aber immerhin vermochte ich ihn bereits gut genug einzuschätzen, um zu wissen, was dieser Gesichtsausdruck bei ihm bedeutete. Er hatte dichtgemacht, so, wie der Cooper, den ich zu Anfang kennengelernt hatte. Von einer Sekunde auf die andere hatte er alles um sich herum ausgegrenzt, mich eingeschlossen.
Fassungslos starrte ich ihm nach und begriff die Welt nicht mehr.
Ich hatte die Angst um Jads Leben ganz deutlich in seinen Augen gesehen, doch in dem Augenblick, als er erfuhr, dass alles gut war, hatte er sich verändert.
Was war geschehen? Wieso schloss er mich plötzlich wieder aus seinen Gefühlen aus?
Gewaltsam kämpfte ich die Enttäuschung nieder und ging zurück zu Jad, in der vagen Hoffnung, Dean würde es sich vielleicht noch einmal überlegen und nach der Unterredung mit seinem Chef wieder herkommen. Trotzdem konnte ich jetzt einfach nicht allein sein. Ich holte mir eine Decke aus dem Bereitschaftszimmer und rollte mich erschöpft auf der Liege zusammen, die neben Jads Krankenlager stand. In diesem Moment brauchte ich seine Nähe so dringend, wie er meine brauchte. Das gleichmäßige Piepen des Überwachungsmonitors, an den er angeschlossen war, wirkte genauso beruhigend auf mich, wie das Wissen um die Tatsache, dass er neben mir atmete und mit jedem neuen Atemzug und jeder Sekunde, die verging, langsam wieder zurück ins Leben fand.
Es dauerte keine fünf Minuten, und ich war tief und traumlos eingeschlafen.
Von einem leisen, vertrauten Fiepen wurde ich irgendwann geweckt. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wo ich mich befand. Ein halb verdunkelter Raum, ein Überwachungsmonitor, von dem ein gleichmäßiges Piepen an mein Ohr drang.
Die Klinik… der schwer verletzte Jad… die Operation…
Noch während ich mir die Geschehnisse der letzten Stunden zurück ins Gedächtnis rief, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich nicht allein in diesem Raum war.
Jemand beobachtete mich…
Irritiert hob ich den Kopf und blickte in zwei braune Augen, die mich durch die Gitterstäbe der Liege nebenan aufmerksam ansahen.
Schlagartig war ich hellwach.
„Jad!“
Ich sprang auf und trat an sein Krankenlager. Sofort versuchte er den Kopf zu heben.
„Ist schon gut, bleib ganz ruhig liegen.“ Sanft graulte ich ihn zwischen den Ohren. „Du bist in Sicherheit, mein Freund. Du wirst wieder gesund.“
Erneut fiepte er, als hätte er jedes Wort verstanden. Ich strich behutsam über seinen Kopf, und er hechelte leise.
„Du hast sicher Durst.“ Schnell nahm ich eine der Medikamentenschalen, die auf dem Bord standen, holte etwas Wasser vom Waschbecken und benetzte vorsichtig seine Schnauze. Dankbar schlappte er mit der Zunge die kostbaren Tropfen und stupste danach liebevoll meine Hand an.
„Mein Held!“, sagte ich gerührt und lächelte. Wieder versuchte er den Kopf zu heben, doch er sah mich nicht an, sondern ließ seine Augen durch den Raum wandern, und mir wurde sofort schmerzlich bewusst, nach wem er suchte.
„Er wird bald da sein. Er musste nochmal weg, aber er kommt gleich zurück“, beschwichtigte ich ihn, als würde ich mit meinesgleichen reden. Ich war sicher, dass er den Sinn meiner Worte verstand, als er entkräftet den Kopf wieder sinken ließ. Zugleich aber war mir auch schmerzlich bewusst, dass Dean in diesem Augenblick hätte hier sein müssen. Warum ließ er seinen Partner gerade jetzt im Stich? Was zum Teufel war nur in ihn gefahren?
„Schlaf noch ein wenig, Jad. Du warst so tapfer, du hast es dir verdient“, flüsterte ich ihm liebevoll zu. Er leckte über meine Hand und schloss erschöpft die Augen. Sekunden später zeugte sein gleichmäßiger Atem davon, dass er wieder eingeschlafen war.
Auf Zehenspitzen verließ ich kurz darauf das Zimmer und rief Dean an.
Er nahm sofort ab.
„Wo bist du, verdammt?“, herrschte ich ihn an. „Dein Partner ist gerade erwacht und braucht dich!“
Erst war es still am anderen Ende, und ich befürchtete schon, er hätte wieder aufgelegt, doch dann hörte ich ihn leise fragen:
„Wie geht es ihm?“
„Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er ist vor ein paar Minuten zu sich gekommen.“
„Das ist schön! Ich bin wirklich froh darüber.“
„Dann komm schnell her!“
„Ähm… Ich glaube, ich muss jetzt nicht unbedingt da sein. Du bist doch bei ihm.“
Ich konnte es kaum fassen. Allmählich spürte ich, wie die Wut über sein eigenartiges Verhalten in mir hochstieg.
„Hey“, sagte ich und versuchte vergeblich, meiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben. „Dein Partner, der auf deinen Befehl hin sein Leben riskiert hat, er hat mit aller Kraft versucht, den Kopf zu heben, denn er hat nach dir gesucht. Nach dir, Cooper! Ich habe ihm versprochen, dass du so schnell wie möglich zu ihm kommst. Also… verdammt nochmal, beweg gefälligst deinen Arsch hierher!“
Eine halbe Stunde später betrat Dean Jads Krankenzimmer. Er warf mir einen Blick zu, der alles Mögliche bedeuten konnte und ging dann sofort hinüber zu Jad, der auf seinem Krankenlager still vor sich hin döste.
„Hallo mein Alter“, flüsterte er vertraulich, beugte sich hinunter und graulte seinen Hund behutsam zwischen den Ohren. Jad reagierte sofort. Er hob den Kopf ein Stück an und fiepte zur Begrüßung.
„Nun schau mich bloß nicht so vorwurfsvoll an! Es tut mir leid, dass ich nicht eher da war. Ich hätte hier sein sollen, als du aufgewacht bist“, entschuldigte sich Dean mit verhaltener Stimme, zog einen der Stühle heran und ließ sich darauf nieder. „Du weißt doch, wie der Chief ist, wenn er seinen Bericht will, duldet er keinen Aufschub! Und Jess hat mir wegen der Verspätung auch schon ordentlich die Meinung gesagt.“
Jad fiepte wieder, als wolle er damit anzeigen, dass alles in Ordnung sei. Jetzt, wo seine beiden Lieblingsmenschen an seinem Krankenbett saßen, schloss er zufrieden die Augen und döste entspannt weiter.
Dean strich sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar, lehnte sich zurück und warf mir einen weiteren undurchdringlichen Blick zu.
„Was sagt der Doc?“, fragte er einsilbig.
„Ich bin der Doc, schon vergessen?“, gab ich patzig zurück, denn sein Verhalten ärgerte mich maßlos. Trotzdem versuchte ich mich zu beherrschen, denn ich wusste, dass seine Nerven nach den Geschehnissen der letzten Stunden genauso angeschlagen waren wie meine. „Was willst du denn wissen?“
„Wird er wieder gesund?“
Ich nickte überzeugt.
„Die OP ist gut verlaufen. Jad ist stark und wird sich schnell erholen. Ja, ich denke, nach zwei bis drei Wochen und einigen anschließenden Trainingseinheiten ist er wieder absolut fit.“
„Wann kann er nach Hause?“
„In ein paar Stunden, wenn sein Kreislauf stabil bleibt. Ich kann ihn dann in der Villa weiter versorgen.“
Dean nickte kaum merklich und starrte, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst, auf einen imaginären Punkt irgendwo im Raum. Ich sah, wie seine Wangenmuskulatur zuckte, als würde er soeben einen inneren Kampf mit sich selbst ausfechten.
„Dean?“, fragte ich leise. „Was ist denn los? Rede mit mir… Bitte!“
Mit einem Blick auf Jad stand er auf und ging zur Tür, während er mir mit einer Kopfbewegung bedeutete, ihm zu folgen.
Jads Atem ging gleichmäßig, anscheinend war er so beruhigt darüber, uns beide bei sich zu wissen, dass er noch einmal fest eingeschlafen war.
Auf Zehenspitzen folgte ich Dean hinaus auf den Gang.
Draußen atmete ich tief durch, trat dicht an ihn heran und legte meine Hand versöhnlich auf seinen Arm.
„Es tut mir leid, dass ich dich so angeschnauzt habe“, sagte ich leise. „Aber es war offensichtlich, dass er sofort nach dir gesucht hat, als er aufgewacht ist. Du hättest seinen Blick sehen sollen!“
„Ist schon gut“, erwiderte er, wich einen Schritt zurück und lehnte sich an die Wand. „Es war einfach ein Scheißtag!“
„Ja, okay“, lenkte ich ein. „Aber andererseits ist Cargo jetzt tot, und Jad ist gerettet. Es hätte schlimmer kommen können!“
Er hob den Kopf und starrte mich wütend an.
„Du kapierst es nicht, oder?“
Sein Blick beunruhigte und verunsicherte mich zutiefst. Vergeblich suchte ich in seinen Augen nach einer Antwort und schüttelte schließlich verständnislos den Kopf.
„Was meinst du?“
Ich sah, wie er mit sich kämpfte und anscheinend nach den richtigen Worten suchte.
„Ich habe heute ziemlichen Mist gebaut. Ich bin lange genug dabei und hätte es besser wissen müssen.“
Irritiert zog ich die Augenbraunen zusammen.
„Wovon redest du?“
„Von dir und Paloma. Ihr hättet bei so einem lebensgefährlichen Einsatz gar nicht dabei sein dürfen.“
„Ja aber… du hast uns doch gebraucht! Allein hättest du…“, widersprach ich sofort aufgeregt, doch er unterbrach mich unwirsch.
„Darum geht es nicht, Jess. Der Chief hat recht. Ich habe den Einsatz zu verantworten, denn ich habe die Einheit angefordert und den Zugriff geplant. Dabei hätte ich jedoch keine Zivilisten involvieren dürfen. Das war unverantwortlich.“
Darum ging es also? Das sah ich allerdings etwas anders.
„Ach, komm schon, Dean, du hast doch niemanden zu etwas gezwungen! Paloma und ich sind freiwillig mitgefahren, um dir dabei zu helfen, Adam zu retten!“
„Aber begreifst du denn nicht? Indem ich euch mitnahm, habe ich euch beide in Lebensgefahr gebracht.“
„Jetzt hör mal“, protestierte ich energisch. „Ich bin eine erwachsene Frau und kann selbst entscheiden, was ich tue! Sag das deinem Chef, oder ich sage es ihm selbst!“
„Du wirst gar nichts sagen, sondern dich gefälligst da raushalten, Jess! Das ist eine Sache, die ich selbst zu verantworten habe. Solange die Untersuchungen noch laufen, bin ich sowieso suspendiert.“
„Sus… suspendiert?“ Verdammt, das war hart! „A… aber danach bist du garantiert wieder im Dienst!“, versuchte ich der Sache irgendwie noch etwas Gutes abzugewinnen. „Paloma hat irgendwann einmal gesagt, sie holen dich nur, wenn sie dich brauchen, weil du gut bist. Und das bist du wirklich! Du und Jad, ihr beide zusammen, ihr seid ein unschlagbares Team!“
Dean sah mich an und ich bemerkte, wie die Wut in seinen Augen einer tiefen Traurigkeit wich.
„Das waren wir. Aber das ist vorbei.“
Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit.
„Wieso sagst du das? Jad wird wieder völlig gesund, in ein paar Wochen wird er ganz der Alte sein.“
„Er ist nicht mehr der Alte. Deshalb ist er heute fast draufgegangen.“
„Waaas?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Aber du weißt doch genau, dass er mein Leben retten wollte – und zwar auf deinen Befehl hin!“
„Das war nicht mein Befehl“, erwiderte Dean leise. „Als Cargo dich in seiner Gewalt hatte, sah ich, wie Jad die Muskeln anspannte. Ich kenne ihn und jede seiner Bewegungen genau. Ich sagte: BLEIB, weil ich noch abwarten wollte. Cargo ist ein durchtriebener Spieler, aber ich habe lange genug mit ihm zu tun gehabt, um zu wissen, wie er tickt. Er hätte dich nicht erschossen, er brauchte dich in diesem Moment nur zu seinem Schutz vor den Cops. Aber er reagiert auch verdammt schnell. Ich wusste, Jad in diesem Augenblick loszuschicken, bedeutete, ihn an Cargo zu verheizen.“ Er schluckte und sah mich eindringlich an. „Verstehst du, Jess? Mein Befehl lautete BLEIB und nicht FASS! Jad hat ihn ignoriert, weil er dich beschützen wollte!“