37. Die Hoffnung stirbt zuletzt
„Na los, ihr habt doch gehört, was sie gesagt hat! Nun kommt schon, beeilt euch!“
Noch bevor alle anderen richtig begriffen hatten, was passiert war, stand ich bereits an der Tür.
„Jess! Warte…“
Ramon war aufgesprungen und versperrte mir mit ernstem Gesicht den Weg. „Wir sollten nichts überstürzen. Das könnte eine Falle sein.“
„Dios mio!“, flüsterte Celia und bekreuzigte sich.
Die Tatsache, dass Paloma draußen stand, und dass da irgendetwas war, das sie uns unbedingt zeigen wollte, hatte mit einem Schlag so viel Hoffnung in mir geweckt, dass es mich einfach nicht mehr auf meinem Stuhl hielt. Ich wollte unbedingt wissen, warum sie nicht hereinkam, sondern uns stattdessen eindringlich gebeten hatte, sie am Tor abzuholen. Dass dies eine Falle sein könnte, dass man sie vielleicht dazu zwang, uns unter einem fadenscheinigen Vorwand aus dem Haus zu locken, das war mir dabei überhaupt nicht in den Sinn gekommen.
„Und was willst du jetzt tun?“, fragte ich ungeduldig.
„Ich hole meine Waffe und dann fahren Shemar, Ty und ich zusammen zum Tor. Du bleibst mit Celia bei Butch.“
„Auf gar keinen Fall!“, weigerte ich mich entrüstet. „Paloma ist meine Freundin! Sie steht dort draußen, und egal, was da vor sich geht, ich werde jetzt mit euch zum Tor fahren! Versuch mich bloß nicht daran zu hindern!“
Ramon tauschte einen schnellen Blick mit den beiden Polizisten und nickte dann.
„Also gut, aber du bleibst im Wagen, bis wir genau wissen, dass keine Gefahr droht.“
Die zwei Minuten, in denen Shemar den Wagen anließ, wir alle vier einstiegen und in zügigem Tempo die Einfahrt hinunterfuhren, schienen mir wie eine Ewigkeit. Trotzdem blieb ich gehorsam auf dem Rücksitz sitzen, als wir schließlich ankamen und die Männer ausstiegen.
Gespannt spähte ich zwischen den Sitzlehnen hindurch, während Shemar, Ty und Ramon, die Waffen einsatzbereit im Anschlag, auf das Tor zugingen.
Zuerst konnte ich Paloma nirgends entdecken, doch dann sah ich erleichtert, wie sie sich vom Bordstein erhob, auf dem sie anscheinend gesessen hatte. Als sie bemerkte, dass Ramon und die beiden Polizisten bewaffnet waren, hob sie abwehrend die Hände.
„Seid ihr noch ganz dicht, Jungs? Nehmt gefälligst die Dinger runter!“, hörte ich sie empört rufen. Ramon trat ans Tor und wechselte ein paar Worte mit ihr, dann drehte sie sich um und zeigte auf die Stelle, wo sie anscheinend eben gesessen hatte. Die Männer folgten ihrem Blick.
Plötzlich ging alles sehr schnell.
Ramon trat an die Schalttafel und gab eilig den Sicherheitscode ein. Ich hörte das leise Schnurren der automatischen Vorrichtung und sah, wie sich das schwere, schmiedeeiserne Tor langsam öffnete.
Noch bevor die Männer nach draußen traten, vernahm ich ein Geräusch, bei dem mir fast das Herz stehenblieb.
Draußen erklang gut hörbar ein vertrautes Fiepen…
„Jaaad!“, brüllte ich, sprang allen Anweisungen zum Trotz aus dem Wagen und lief, so schnell ich konnte, hinüber zum Tor.
Und dann sah ich ihn. Er saß hechelnd am Wegrand, direkt neben der Säule, an der sich die Kamera und die Wechselsprechanlage befanden. Als er meine Stimme hörte, erhob er sich und kam mir auf wackeligen Pfoten schwanzwedelnd entgegen.
„Jad, Jad… Jaaad!“
Ich sank vor ihm auf die Knie und umarmte ihn überglücklich. Erschöpft legte er seinen Kopf auf meine Schulter und das leise Fiepen, das er dabei von sich gab, klang wie Musik in meinen Ohren, während ich mein Gesicht in seinem Fell vergrub und mir Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen.
„Ich war gerade aus dem Wagen gestiegen, als er plötzlich auftauchte. Es schien, als habe er nach einem Zugang zum Haus gesucht. Aber Coopers Grundstück ist ja besser gesichert als Fort Knox. Da kommt niemand rein, auch kein noch so gut ausgebildeter Polizeihund“, hörte ich wie von Ferne Palomas Stimme. „Als er mich erkannte, lief er sofort zum Tor und bellte es solange aufgeregt an, bis ich die Sprechanlage betätigte. Erst dann legte er sich erschöpft nieder. Er sieht total fertig aus, und ich dachte mir sofort, dass etwas nicht stimmt, wenn er allein hier draußen ist. Eigentlich hatte ich ja angenommen, er wäre bei Coop…“ Sie brach erschrocken ab und sah uns mit großen Augen an, als suche sie in unseren Gesichtern nach einer Antwort. „Ich habe die Nachrichten gesehen. Ist es wahr, dass…“
„Wir wissen es nicht“, erwiderte Ramon und man merkte ihm deutlich an, dass auch er mit seinen Gefühlen kämpfte, als er sich herunterbeugte und Jad zwischen den Ohren graulte. „Wo kommst du denn jetzt her, alter Freund? Siehst aus, als wärst du lange unterwegs gewesen.“
„Als wir vorhin zu der Stelle am Strand gefahren sind, wo die Trümmerteile gefunden wurden, habe ich für einen Augenblick lang einen Schäferhund auf dem Weg oberhalb der Straße gesehen“, erinnerte ich mich. „Ich dachte, ich hätte es mir vielleicht nur eingebildet, aber jetzt bin ich sicher, dass es Jad war. Er muss von Malibu bis nach Hause gelaufen sein.“
„Dann war er also nicht im Helikopter. Das würde mich wiederum wundern, weil er Coop für gewöhnlich nicht von der Seite weicht.“
„Wie weit ist es vom Absturzort bis hierher?“
„Nun, grob geschätzt etwas über zwanzig Meilen.“
„Bringen wir ihn erst einmal ins Haus. Wenn er bei der Hitze wirklich die ganze Strecke gelaufen ist, muss er furchtbaren Durst haben.“
„Du bist so weit gelaufen, um uns zu holen“, flüsterte ich Jad leise zu. „Hat Dean dich geschickt? Weißt du, wo er ist? Du bringst uns zu ihm, nicht wahr?“
Jad spitzte sofort die Ohren und richtete sich aufgeregt auf.
In diesem Moment kam Butch bereits mit einer großen Wasserflasche in der Hand die Einfahrt entlang gekeucht, dicht gefolgt von Celia, die eine leere Schüssel unter dem Arm trug. Sie hatten uns über die Videoüberwachungskamera beobachtet und brachten eine Erfrischung für den Heimkehrer.
„Ich habe es immer gewusst, du bist ein braver Hund, mein Jad! Ein wahrer Held! Ja, du bist der Allerbeste!“, begrüßte Celia unseren vierbeinigen Officer überglücklich und streichelte sein Fell, während Butch die Schüssel vor ihm aufstellte und randvoll mit Wasser füllte.
Gierig trank Jad. Dann schüttelte er sich und blickte uns erwartungsvoll an, als wolle er fragen, ob wir bereit wären, ihm zu folgen.
„Lasst uns mal überlegen“, sinnierte Shemar. „Jess hat Jad kurz vor Malibu gesehen. Das bedeutet, dass er entweder von dort kam, wo Coops Helikopter vor der Küste abgestürzt ist, oder…“
„Oder von Rebeccas Wohnung“, vollendete Ramon nachdenklich den Satz und schlug sich dann mit der flachen Hand an die Stirn. „Natürlich! Das ich nicht eher darauf gekommen bin!“
„Was meinst du?“, fragte Butch verständnislos.
„Wenn Rebecca Dean angerufen hat, dann sicher von ihrem Versteck aus“, erklärte Ramon überzeugt. „Und da ist er garantiert auch hingeflogen. Hinter dem Haus ist ein alter Sportplatz, da kann er den Helikopter bequem landen. Entweder wollte er Rebecca dort treffen, oder..."
Unsere betretenen Gesichter ließen Ramon verstummen. Alle Anwesenden wussten in diesem Augenblick nur zu gut, was ein "oder" zu bedeuten hatte.
Jad war aufgesprungen und begann aufgeregt zu bellen, als hätte er jedes Wort verstanden.
Ramon wandte sich um.
„Schaut ihn euch an, er will wieder los! Ich bin sicher, er ist nicht einfach nur nach Hause gelaufen. Er ist hier, um uns zu holen! Er will uns garantiert irgendwo hinführen!“
„Nicht irgendwohin, Ramon!“, rief ich überzeugt. „Er bringt uns zu Dean!“
Jad bellte noch einmal wie zur Bestätigung und drehte sich aufgeregt im Kreis.
„Bei Fuß, Jad!“, rief Ramon streng und öffnete die Tür vom Jeep. „Na komm, alter Junge, wir kennen den Weg. Später ist dann deine Spürnase gefragt.“
Gehorsam sprang der Hund in den Wagen. Ich kletterte hinterher und setzte mich zu ihm.
„Bring uns zu Dean, Jad!“
„Du solltest vielleicht besser…“, begann Butch, doch ich schüttelte entschlossen den Kopf.
„Keine Chance! Ich komme mit.“
„Ich auch!“ Paloma eilte hinüber zu ihrem kleinen roten Toyota. „Ich folge euch.“
„Okay.“ Shemar gab den anderen ein Zeichen. „Ramon, du fährst mit uns, du kennst den Weg zu Rebeccas Wohnung. Butch und Ty, ihr beide fahrt zusammen mit meiner Schwester hinter uns her. Celia, Sie halten bitte hier die Stellung. Wir bleiben in Verbindung, und falls etwas schiefgeht und wir Hilfe brauchen, rufen Sie die Artillerie.“
Celia rang aufgeregt die Hände und nickte mit tränenverschleiertem Blick.
„Bitte seid vorsichtig! Viel Glück!“
Als wir losfuhren und ich noch einmal zurückblickte, sah ich sie dastehen und uns nachwinken, und ich wusste, sie hatte in diesem Augenblick trotz aller Angst und Ungewissheit genauso viel neue Hoffnung im Herzen wie ich.
Das Haus, in dem Dean und Ramon Rebecca und ihren kleinen Sohn untergebracht hatten, lag etwas außerhalb von Malibu, am Ende einer schmalen Seitenstraße gleich hinter einem alten, mit Unkraut bewachsenen Sportplatz und den steilen Klippen, an denen sich die Wellen des Ozean brachen.
Hier befand man sich direkt zu Füßen der Prachtvillen der privilegierten Schönen und Reichen, die der traumhaften Kulisse wegen oberhalb der Küste inmitten saftig grün angelegter Hügel die besten Plätze zwischen Himmel und Meer ihr Eigen nannten. Diejenigen, die dort oben über den Dächern von Malibu wohnten, hatten alles erreicht. Für sie spielte Geld keine Rolle mehr. Trotzdem blieben nur wenige für immer. Die meisten der Stars und Sternchen suchten in ihrem Rausch nach Ruhm und Macht immer wieder neue wohnliche Herausforderungen.
„Zeig mir wo du wohnst, und ich sage dir, wer du bist…“
Früher hatte ich das alles absolut faszinierend gefunden. Jetzt jedoch verschwendete ich keinen Gedanken an diese Traumwelt Kaliforniens. Gespannt hockte ich neben Jad und graulte liebevoll und scheinbar beruhigend sein Fell, obwohl ich genau wusste, dass ich meine eigene innere Unruhe kaum vor ihm und seinem angeborenen Instinkt verbergen konnte.
Ich selbst wiederum spürte eine ungeheure Anspannung in ihm. Aufmerksam saß er da und ließ keinen Blick von Shemar, der den Wagen lenkte. Ich war sicher, er wusste genau, wo wir uns befanden und konnte kaum noch erwarten, seine Spur wiederaufzunehmen.
Ramon öffnete die Tür, griff nach dem Halsband des Hundes und leinte ihn mit geübtem Handgriff an. Gehorsam, so wie er es gelernt hatte, ging Jad zunächst mit hinüber zu dem silbernen Ford Escort älteren Baujahres, der genau gegenüber dem Haus geparkt war. Niemand war darin zu sehen, und als Ramon den Türgriff betätigte, merkte er, dass der Wagen unverschlossen war. Ein Blick ins Innere des Fahrzeuges bestätigte ihm, dass es wirklich leer war. Ty kam hinzu und sah sich etwas genauer im Innenraum um.
„Ein Mietwagen“, erklärte er kurz darauf und deutete auf die Fahrzeugpapiere, die er im Handschuhfach vorgefunden hatte. „Zugelassen auf eine Reese Miller.“
„Dean hat den Wagen besorgt und Rebecca hat ihn unter falschem Namen gemietet“, erklärte Ramon.
Die Männer richteten ihre Aufmerksamkeit erneut auf das Haus.
„Paloma und Jess, ihr bleibt in den Fahrzeugen sitzen, bis wir sicher sein können, dass keine Gefahr droht“, ordnete Shemar mit strenger Stimme an, während Ramon Mühe hatte, Jad zu halten. Der Hund zog ungeduldig an der Leine und wollte unbedingt hinüber zu dem kleinen, zweistöckigen Haus, dem man deutlich ansah, dass es schon weitaus bessere Tage gesehen hatte und dringend einer Renovierung bedurfte. An vielen Stellen war die Farbe abgeblättert, die Fensterläden wirkten verwittert und das Dach war teilweise bereits mit Moos bedeckt. Es war offensichtlich, mit den Traumvillen oberhalb von Malibu hatte dieses Haus hier nicht das Geringste gemeinsam.
Mit vorgehaltenen Waffen folgten die beiden Officer Ramon und Jad durch den ziemlich verwildert aussehenden Vorgarten. In diesem Moment bemerkten sie, dass die Eingangstür eine Handbreit offenstand.
Wieder zog Jad ungeduldig winselnd an der Leine.
„Lassen wir ihn los?“, fragte Shemar leise, doch Butch, der ihnen ebenfalls gefolgt war, schüttelte den Kopf.
„Wenn das eine Falle ist, läuft er direkt ins offene Messer.“
„Wir gehen zuerst rein“, erklärte Ty und gab Shemar ein Zeichen.
„Ich komme mit.“ Entschlossen übergab Ramon Butch die Leine und zog ebenfalls seine Waffe. „Auf unser Zeichen kannst du ihn hineinlassen. Sitz, Jad!“
Sichtlich widerwillig fügte sich der Hund dem Befehl. Butch hockte sich neben ihm nieder und sprach beruhigend auf ihn ein, obwohl er selbst alles andere als beruhigt war.
Nervös bohrte ich meine Fingernägel in die Sitzlehne vor mir. Irgendein inneres Gefühl sagte mir instinktiv, dass wir hier genau richtig waren.
Nach ein paar Minuten, die uns, während wir untätig warten mussten, wie eine Ewigkeit vorkamen, erschien Ramon am Eingang.
„Das Haus ist leer!“, rief er, worauf Paloma und ich sofort unsere Fahrzeuge verließen und hinüber eilten. „Wir lassen den Hund jetzt rein. Vielleicht hat er ja noch eine andere heiße Spur.“
Ich lief direkt zu Jad, der wie die ganze Zeit wie gebannt auf den Eingang starrte und alle Muskeln angespannt hatte, als warte er nur auf den erlösenden Befehl, um endlich loslaufen zu können. Genau in dem Augenblick, als ich mich hinunter beugte, um seine Leine auszuklinken, meldete sich mein Handy. Ich erstarrte mitten in der Bewegung, denn ich ahnte sofort, wer mich anrief.
„Einen Augenblick!“
Ramon, Butch, Shemar und Ty verharrten ebenfalls reglos, worauf auch Paloma stehenblieb und irritiert von einem zum anderen blickte.
„Was ist denn los?“
Shemar bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sich ruhig zu verhalten. Er und die anderen Männer wussten genau wie ich, mit welchem Anruf wir jederzeit rechnen mussten und ein Blick aufs Display bestätigte in der nächsten Sekunde meine Befürchtung.
Detektiv Chambers rief an.
Ich versuchte, noch einmal tief durchzuatmen, um irgendwie auf das Schlimmste vorbereitet zu sein, doch mir schien, als würde sich erneut ein eisernes Band langsam und schmerzhaft um meinen Brustkorb zusammenziehen. Innerlich zitternd nahm ich den Anruf entgegen.
„Frank, haben Sie Neuigkeiten?“
„Ja Jess, die habe ich. Sind Sie allein?“
Ich verstand sofort, warum er mir diese Frage stellte. Er hatte keine guten Nachrichten und befürchtete auf Grund meines Zustandes einen weiteren Zusammenbruch.
„Nein, keine Sorge, ich bin nicht allein. Meine Freunde sind hier bei mir. Bitte sagen Sie mir, was los ist.“
Er räusperte sich umständlich.
„Tja also… es ist leider so, wie wir bereits vermutet haben“, begann er schließlich langsam und bedächtig, und ich merkte überdeutlich, dass er jedes einzelne Wort, das er sagte, vorher genau abzuwägen schien. „Rebecca Cooper war zum Zeitpunkt des Absturzes nicht allein im Helikopter. Ein Mann war bei ihr, und wir vermuten, dass er der Pilot war. Seine Leiche wurde soeben geborgen.“