9. Unverhoffter Besuch
Die ersten Tage in meiner neuen „Zuhause“ auf Zeit vergingen wie im Fluge.
Tagsüber erledigte ich meinen Job und half, wie verabredet, nebenan in der Gemeinschaftspraxis und bei anstehenden OPs aus. Inzwischen hatte ich auch Tierarzt Nummer Zwei kennengelernt. Jordan Gallagher war ein Hüne Ende Dreißig mit rehbraunen Augen, die, in unzählige winzige Lachfältchen eingebettet, immer irgendwie zu schmunzeln schienen. Sein dunkles Haupthaar wurde um die Stirn bereits etwas lichter, doch das glich sich aus, indem er die Haare, die ihm auf dem Kopf fehlten, in Form eines Vollbartes im Gesicht trug. Er war ein gutmütiger Brummbär, der den Beruf zu seiner Leidenschaft gemacht zu haben schien. Mit seiner humorvoll freundlichen Art gewann er ebenso schnell die Herzen seiner Mitmenschen wie die seiner Patienten. Letztere zollten dem stattlichen Mann im weißen Kittel jedoch trotz allem meistens einen Riesenrespekt. „Wer die Spritze in der Hand hält, der hat die Macht“, pflegte er dann jedes Mal augenzwinkernd zu sagen.
Und wo er Recht hatte…
Für mich war mit ihm und Adam das berühmte Film-Duo komplett: Terence Hill und Bud Spencer.
Als ich Paloma von meinem Vergleich erzählte, lachte sie schallend und meinte, die beiden würden, ließe man sie eine Weile unbeaufsichtigt, ihren Doppelgängern auf jeden Fall alle Ehre machen.
Abends nach Dienstschluss traf ich mich ein paar Mal mit Tyler, Shemar und den anderen auf ein Bier. Dabei achtete ich jedoch darauf, den nötigen Abstand zu Tyler zu halten, um ihm, was mich betraf, keine falschen Hoffnungen zu machen, aber er schien sich damit abgefunden zu haben, dass ich ihm neulich Abend unmissverständlich einen Korb gegeben hatte und verhielt sich äußerst kumpelhaft. Umso mehr oder gerade deswegen flirtete er bei jeder sich bietenden Gelegenheit wie besessen mit allen weiblichen Wesen in unserem Umfeld. Also hatte ich mit meiner Zurückweisung vermutlich doch, ohne dass es meine Absicht gewesen war, erheblich an seinem Ego gekratzt. Aber ich war sicher, er würde damit schon irgendwie klarkommen. Ich musste es ja schließlich auch, und ich hatte weitaus mehr zu verdauen als er.
Trotz der vielen Ablenkung bereitete es mir noch immer Probleme, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen. Neulich war ich nach der Arbeit hinüber nach Venice gefahren und bis zum Ende des Piers geschlendert, wo ich Jims Handy in hohem Bogen im Meer versenkte. Dieser Akt hatte für mich symbolischen Charakter, es sollte wie eine Befreiung sein, ein Schlussstrich, ein endgültiges Loslassen.
Aber so glücklich wie erwartet fühlte ich mich hinterher dennoch nicht.
Kürzlich hatten mich Paloma und Adam auf einen Drink nach Venice eingeladen. Bei dieser Gelegenheit offenbarten sie mir, dass sie seit geraumer Zeit ein Paar waren, ein Umstand, der mir bereits seit unserem ersten Zusammentreffen klar gewesen war. Die leuchtenden Augen Palomas und Adams Lächeln hatten mir den Beziehungsstatus der beiden mehr als deutlich verraten. Warum sie allerdings so ein Geheimnis daraus machten, war mir ein Rätsel, denn weder Adam noch Paloma waren in irgendeiner Weise anderweitig gebunden. Doch ich gönnte ihnen den Spaß und schwieg wie ein Grab. Allerdings bemerkte ich, dass Miranda, die Sprechstundenhilfe, die in der Gemeinschaftspraxis am Empfang saß, alles andere als begeistert von der heimlichen Liaison ihres Chefs zu sein schien. Ich mutmaßte, dass die Vorzimmerdame selbst ein Auge auf Adam geworfen hatte, doch als ich meine Assistentin vorsichtig darauf ansprach, lachte diese nur und meinte, Miranda sollte hinter ihrer dicken Hornbrille ruhig weiterträumen.
Am Wochenende sang Paloma wieder auf dem Pier. Sie versuchte mich zu überzeugen, sie musikalisch zu unterstützen, doch ich lehnte ab. Das Duett neulich Abend war ein Spaß gewesen, entstanden aus guter Laune und Gin Tonic, und dabei wollte ich es gern belassen, auch wenn Butch von irgendwoher eine alte Gitarre ans Tageslicht gezerrt und in unserem Büro aufgehängt hatte, mit dem Hinweis, man könnte doch nach Feierabend ein Lagerfeuer am Strand machen, und ich sollte dann mit Paloma zusammen für den musikalischen Rahmen sorgen. Ich wusste genau, so etwas würde nur wieder alte Erinnerungen heraufbeschwören. Also weigerte ich mich beharrlich, auch wenn ich ahnte, dass Butch nicht so schnell aufgeben würde.
Er als unser Koordinator war die unbestritten gute Seele der gesamten Station. Unermüdlich kümmerte er sich um alle Belange der anwesenden Hundeführer und Diensthunde, er organisierte, erstellte die Übungspläne, und sorgte dafür, dass vom Büro über die Hundezwinger und dem Übungsplatz bis hin zu meinen Behandlungsräumen alles in bester Ordnung war. Falls ich irgendwann in ferner Zukunft irgendwo auf der Welt einmal meine eigene Praxis führen sollte, dann würde ich mir zu meiner Unterstützung auf jeden Fall einen derart zuverlässigen Koordinator wie Butch und eine so umsichtige Assistentin wie Paloma wünschen.
Cooper hatte ich seit dem Morgen, als er Jad wieder bei mir abholte, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber auch wenn ich mir vehement einzureden versuchte, dass mir das völlig egal sei, so fehlte er mir doch irgendwie. Vor allem vermisste ich Jad. Aus Gesprächen der Kollegen wusste ich, dass Cooper zusammen mit seinem vierbeinigen Partner in irgendeinem neuen Einsatz unterwegs war. Ich hoffte, dass den beiden nichts passierte und ertappte mich immer öfter dabei, wie ich vor allem abends an meinem Fenster oder unten am Strand stand und vergebens nach dem dunkelblauen Helikopter Ausschau hielt.
Mit Caitlin hatte ich endlich ein klärendes Gespräch geführt und mich wegen der Notlügen entschuldigt. Die Unterhaltung mit meiner besten Freundin nach Übersee dauerte die halbe Nacht und kostete mich fast mein gesamtes Kartenguthaben. Aber das war es mir wert.
Caitlin verstand mich von allen am besten, und allein schon ihre Stimme zu hören, ihr alles anvertrauen zu können, was mir widerfahren war und ihre ehrliche Meinung dazu zu hören, das war wie Balsam für mich und meine Seele.
Alles in allem spürte ich, wie ich allmählich ruhiger wurde.
Nur einen wichtigen Punkt auf meiner ganz persönlichen to-do-Liste hatte ich immer noch nicht erledigt: den längst überfälligen Anruf bei Jacob O`Neill, Jims Vater und meinem ehemaligen Mentor. Ich musste unbedingt mit ihm reden und ihm alles erklären, das war ich ihm schuldig, nach allem, was er in der Vergangenheit für mich getan hatte. Und auch, wenn mir tief im Herzen vor diesem Gespräch graute, so wusste ich doch, ich musste es bald tun.
Nach einem langen Arbeitstag verließ ich wie immer als Letzte die Praxisräume und ging hinauf in mein Bereitschaftszimmer, wo ich zunächst ausgiebig duschte und anschließend in bequeme Sachen, bestehend aus meinen alten, abgetragenen Jeans und einem Shirt mit dem Logo der Glasgow Rangers, schlüpfte. Während ich mir sorgfältig die Haare bürstete, trat ich ans Fenster und sah Butchs Wagen unten neben dem Jeep stehen. Da ich weder Lust verspürte, schon wieder nach Santa Monica zu fahren, noch den ganzen Abend über allein in meinem Zimmer zu hocken, ging ich kurzerhand hinunter ins Büro, in dem es sogar um diese späte Stunde noch immer verführerisch nach Kaffee duftete.
Der Koordinator saß mit dem Rücken zu mir am Schreibtisch über einem Stapel Papiere und grummelte leise, aber vernehmlich vor sich hin.
„Na, alter Mann“, neckte ich ihn. „Plagst du dich mit überflüssigem Schreibkram?“
„Du hast Recht, ich bin wirklich zu alt für diesen Schwachsinn.“ murrte er, ohne aufzublicken. „Diese verfluchte Abrechnung hat Hank sonst immer am Computer erledigt.“
„Zeig mal her.“ Ich trat hinzu und schaute ihm neugierig über die Schulter.
„Hast du eine Ahnung, wie man das macht?“, fragte er, und die Hoffnung in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Na ja, ich habe bei uns zu Hause… ich meine, früher in Kerry öfter die Abrechnungen für meinen Chef gemacht. Er sagte immer, das sollte ich unbedingt können, falls ich ihn mal vertreten müsste.“
„Na also!“ Höchst zufrieden sprang Butch auf und räumte mir bereitwillig seinen Platz. „Ich gieße uns eine schöne heiße Tasse Kaffee ein, eine von der Sorte, die unsere Lebensgeister für den Rest des Tages weckt, und du kannst dich einstweilen mit der amerikanischen Variante von diesem Teufelskram vertraut machen.“
Die Formulare unterschieden sich nicht sonderlich von denen, die ich aus meiner Studienzeit kannte. Da die Bücher offen vor mir lagen, musste ich nur noch die richtigen Zahlen eintragen. Allerdings würde das am PC erheblich schneller gehen, und da Butch erwähnt hatte, dass Hank Allister seine Abrechnung ebenfalls online erledigt hatte, fuhr ich hoffnungsvoll den Rechner hoch und stellte aufatmend fest, dass er nicht passwortgeschützt war. Nach kurzer Suche fand ich den richtigen Ordner.
„Na also, wir müssen nur die Einträge vom Vormonat aktualisieren“, erklärte ich Butch, der mit zwei großen Tassen Kaffee herangeschlurft kam. „Das sollte recht schnell gehen.“
„Aktualisiere, was du willst“, lachte er erleichtert und setzte sich zu mir. „Hauptsache, du kriegst es hin. Glaub mir, ich schraube lieber zwei Einsatzwagen auseinander und wieder zusammen, als mich mit so einem Kram zu beschäftigen.“
Wir tranken unseren Kaffee, unterhielten uns ein wenig über dies und jenes, bevor Butch beschloss, draußen seine Kontrollrunde zu drehen und bei den Hunden noch einmal nach dem Rechten zu sehen.
Ich konzentrierte mich auf die Abrechnung, kontrollierte, verglich, trug alles sorgfältig ein und war gerade mit dem Ausdrucken der ausgefüllten Formulare fertig, als der Koordinator von seinem Rundgang zurückkam.
Höchst zufrieden drehte ich mich um – und erstarrte.
Butch war nicht allein…
„Hallo, mein Mädchen! Ich habe Besuch für dich mitgebracht“, erklärte er arglos. „Der junge Mann stand draußen vor der Schranke und meinte, er sei ein alter Freund von dir und wollte dich mit seinem Besuch überraschen!“
Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, jemand nähme mir die Luft zum Atmen. Mir wurde heiß, meine Brust verengte sich schmerzhaft, und in meinem Magen bildete sich ein undefinierbarer Klumpen, der sich anfühlte, als hätte ich einen Felsbrocken zu verdauen. Während ich mühsam versuchte, meine zitternden Eingeweide wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, hoffte ich inständig, dass man mir den inneren Aufruhr nicht allzu deutlich ansah. Unter Aufbietung meiner gesamten Selbstbeherrschung lehnte ich mich scheinbar gelassen zurück und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust.
Mit eisiger Miene blickte ich meinem Besucher entgegen.
„Was willst du hier?“
„Birdy!“ Mit diesem Lächeln, dem ich noch vor wenigen Wochen total verfallen war, und das mich jetzt fast zum Würgen brachte, kam er auf mich zu. „Du glaubst ja gar nicht, wie schwer es war, dich hier zu finden!“
„Stopp!“, rief ich mit einer Entschiedenheit, die ihn tatsächlich innehalten ließ. „Komm mir bloß nicht zu nahe!“ Für alle Fälle richtete ich mich fluchtbereit in meinem Computersessel auf, und erst, als ich sicher war, dass er meiner Aufforderung auch wirklich nachkam, entspannte ich mich wieder ein wenig. „Niemand hat dich darum gebeten, nach mir zu suchen.“
Er, der sonst um keine Antwort verlegen war, hob nur wortlos die Schultern, drehte sich wie hilfesuchend nach Butch um und streckte diesem dann spontan seine Hand entgegen.
„Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt…“
„Das ist auch nicht nötig“, erwiderte Butch eisig und ignorierte die dargebotene Hand des Besuchers. „Ich kann mir inzwischen gut vorstellen, wer Sie sind. Jim O`Neill, der Mann, der Jessica drüben in Irland so übel mitgespielt hat, dass sie Hals über Kopf hierher geflüchtet ist.“ Sein Blick suchte meinen, während er schuldbewusst blinzelte. „Wenn ich vorhin bereits geahnt hätte, wen ich da vor mir habe, dann hätte er keinen Fuß in dieses Haus gesetzt.“
„Schon gut, Butch, das konntest du ja nicht wissen“, beschwichtigte ich unseren Koordinator. Sichtlich beunruhigt blickte Butch von einem zum anderen. „Soll ich euch allein lassen?“
„Ja!“, rief mein Besucher, im gleichen Atemzug, in dem ich ein entschiedenes „Nein!“ ausstieß.
„Okay!“ Entschlossen nickte Butch und setzte sich in den Sessel am Fenster. „Keine Sorge, Jess, ich bleibe. Hier bist du sicher.“
Ich lächelte dankbar zurück.
„Danke, Butch. Das weiß ich.“
„Ach, wie rührend“, höhnte mein „Gast“ und versuchte es umgehend mit einer anderen Taktik. „Da scheint ja ein richtiger Komplott im Gange zu sein!“
„Vorsicht, junger Mann!“ Warnend hob Butch die Hand. „Sie sollten sich genau überlegen, was Sie sagen!“
Seine Gegenwart gab mir einen gewissen Rückenhalt, obwohl ich davon überzeugt war, dass ich auch ganz gut allein mit meinem Ex-Freund fertig geworden wäre. Ich spürte, wie sich meine Aufregung allmählich legte und einer eisigen Gelassenheit wich.
„Sag, was du zu sagen hast, Jim, und dann verschwinde für immer aus meinem Leben!“
Er sah mich an, als hätte ich chinesisch gesprochen.
„Was soll denn dieser Unsinn, Jessica? Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dich zu finden, und bin eine Ewigkeit über den Ozean geflogen! Ich gehe nicht weg! Und du… du hattest überhaupt keinen Grund, einfach abzuhauen, ohne nachzudenken!“
Bleib ganz ruhig, Jess, ganz ruhig! Atme…
„Ohne Grund, ja? Wie oft hast du mich eigentlich schon betrogen, wenn das für dich kein Grund war?“
Er lächelte zum Erbrechen.
„Das war doch nichts Ernstes, Kleines. So etwas kommt in den besten Familien vor. Aber deswegen fliegt man doch nicht gleich ans andere Ende der Welt!“
Atme, Jess… lass dich nicht provozieren!
„Dazu habe ich allerdings eine etwas andere Meinung. Aber wie auch immer, inzwischen hatte ich ausreichend Zeit, um mir in Ruhe über alles klar zu werden.“
„Und?“
„Das fragst du noch? Was erwartest du? Es ist vorbei, Jim. Aus und vorbei.“
„Aber du und ich… wir lieben uns doch, wir wollen heiraten, wie kannst du das einfach so vergessen?“
„Ich habe es nicht vergessen, keine Sekunde. Aber du hast es geschafft, dass dies alles jetzt Vergangenheit ist. Ich war immer ehrlich zu dir und habe dir vertraut. Das war ein riesiger Fehler.“
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, eine Geste, die hilflos und frustriert zugleich wirkte.
„Verdammt, Birdy! Denk doch mal nach! Was ist mit deinen Freunden drüben? Was ist mit meinem Vater, der sich immer auf dich verlassen hat? Und was ist mit der Praxis, die du übernehmen solltest? Was ist mit mir?“
Ich sah ihn an und fragte mich plötzlich, wie ich so lange derart blind sein konnte, dass ich nicht gesehen hatte, wie er wirklich war. Alles an ihm war mir für lange Zeit so vertraut gewesen, und nun stand mir plötzlich ein Fremder gegenüber. Zugegeben, er sah noch immer blendend aus, groß, schlank und sportlich, mit seinen durchdringend blauen Augen, dem modisch geschnittenen mittelblonden Haar, den hohen Wangenknochen und den leicht geschwungenen Lippen, die so gewinnend lächeln konnten. Mich jedoch erreichte dieses Lächeln nicht mehr. Zu oft hatte er mich belogen.
„Es war nicht leicht, meine wahren Freunde zu verlassen, das kannst du mir glauben. Und was deinen Vater betrifft, Jacob hatte allen Grund sich auf mich zu verlassen, denn ich habe ihn nie belogen, so wie du es getan hast. Dass ich gegangen bin, lag ganz allein an dir, Jim O`Neill. Diesmal kannst du die Schuld niemand anders in die Schuhe schieben. Du allein trägst die Verantwortung dafür, dass all unsere Träume geplatzt sind wie Seifenblasen, und ich bin wirklich froh, dass ich deinen wahren Charakter erkannt habe, bevor es zu spät war.“
Irgendwie schien er zu begreifen, dass es keinen Sinn hatte, mit mir zu diskutieren. Also änderte er noch einmal seine Strategie.
„Komm schon, Jessi!“, versuchte er mich mit einer Leidensmiene zu beschwichtigen, die Steine hätte erweichen können. „Wir beide, wir hatten eine so tolle Zeit! Warum vergessen wir die ganze Sache nicht einfach? Das war doch alles nichts weiter als ein dummer Irrtum! Weißt du was? Du packst deine Sachen, kommst mit mir nach Hause, und wir sind glücklich wie vorher.“
Ich glaubte mich verhört zu haben.
„Tickst du noch ganz richtig?“ Die Fingerspitzen an meine pochenden Schläfen gepresst, sah ich ihn fassungslos an. „Einen dummen Irrtum nennst du das? Du verdammter Mistkerl! Du glaubst wirklich allen Ernstes, ich könnte das vergessen? Ich brauche nur die Augen zu schließen, und sehe deinen blassen Hintern wie ein Jo-Jo zwischen ihren Schenkeln auf und ab hüpfen! Vermutlich werde ich diesen grotesken Anblick nie wieder aus meinem Gedächtnis kriegen!“
Während Jim mich mit offenem Mund verständnislos anstarrte, prustete Butch hinter mir unkontrolliert los.
Mir dagegen war nicht zum Lachen zumute.
„Geh` zurück zu ihr, Jim. Ihr beide habt einander verdient!“
„Ich gebe ja zu, dass die Sache mit Amber ein Fehler war“ versuchte er sich halbherzig herauszuwinden. „Diese Frau bedeutet mir in Wahrheit nicht das Geringste, das musst du mir glauben!“
Ich schüttelte entschlossen den Kopf.
„Gar nichts werde ich dir glauben. Ich habe dir viel zu lang blind vertraut. Wer weiß, wie oft du mich betrogen hast. Und falls Amber, die Tochter des Bürgermeisters, dich noch will, solltest du besser damit aufhören, schlecht über sie zu reden, denn vielleicht ist sie deine letzte Chance, noch einmal zu etwas Geld zu kommen, damit du endlich deine Schulden bezahlen kannst!“
Jetzt war es heraus, und ihm fielen beinahe die Augen aus den Höhlen.
„Wovon zum Teufel redest du da?“
Müde winkte ich ab.
„Du brauchst nicht schon wieder zu lügen, ich weiß alles. Und dein Vater weiß es auch, und zwar schon lange. Er hat nur die ganze Zeit über geschwiegen, weil Blut bekanntlich dicker ist als Wasser.“
„Das ist doch Blödsinn! Die Zeit war einfach noch nicht reif, dir von meinen Geschäften zu erzählen.“
„Geschäfte? Jim, sieh doch endlich den Tatsachen ins Auge: Du bist spielsüchtig!“
„Und du bist hysterisch!“, herrschte er mich ungehalten an, und ich merkte deutlich, dass er mit seinen Argumenten am Ende war. „Natürlich habe ich mich hin und wieder mal auf ein harmloses Kartenspiel eingelassen, aber das ist doch noch lange keine Sucht!“
Ich schluckte die Worte, die ich ihm eigentlich noch hatte sagen wollen, hinunter und schüttelte stattdessen resigniert den Kopf. Nein, er würde nie zugeben, dass er krankhaft spielsüchtig war. Nicht einmal sich selbst vermochte er sich das einzugestehen. Und ich wollte nicht länger über Dinge diskutieren, die sowieso nicht mehr zu ändern waren. Zuviel lag in Scherben.
„Verschwinde aus meinem Leben, Jim. Geh zurück nach Hause und versuche mit dem Schaden klarzukommen, den du angerichtet hast. Mit mir kannst du dabei nicht mehr rechnen. Ich bin fertig mit dir.“
Ich schnappte meine Jacke, drückte Butch im Vorübergehen die Formulare mit der fertig ausgedruckten Abrechnung in die Hand und verließ grußlos den Raum.
„Birdy!!! Verdammt, warte…! Was ist mit meinem Handy?“, rief Jim wütend hinter mir her. Ich schnaufte verächtlich. Hatte dieser Mann keine anderen Sorgen?
„Such auf dem Grund des Ozeans, Jimbo!“, erwiderte ich, ohne mich umzudrehen. Ich wusste, er hasste es, wenn ihn jemand so nannte, aber das war mir egal. Ich wollte schließlich auch nie wieder „Birdy“ genannt werden.
Geräuschvoll warf ich die Tür hinter mir ins Schloss.
Draußen begann es bereits zu dämmern. Zitternd vor Wut sprang in den Jeep und verließ das Gelände, in der vagen Hoffnung, Jim O`Neill nie wiedersehen zu müssen. Innerlich noch immer aufgewühlt fuhr ich absichtlich langsam, um nicht am Ende durch mangelnde Konzentration noch einen fatalen Fahrfehler zu begehen. Die Polizei hierzulande verstand bei Verkehrswidrigkeiten keinen Spaß.
Kurz hinter Venice bemerkte ich zu meinem Verdruss jedoch, dass mir ein dunkelblauer SUV unentwegt folgte.
Nun, wenn er das war - und dessen war ich mir so gut wie sicher - dann hatte er diese Rechnung ohne mich gemacht. Mein Interesse an Verfolgungsspielchen mit meinem Ex hielt sich stark in Grenzen.
Ich fuhr zunächst einen Umweg durch die Stadt, doch der SUV blieb mir hartnäckig auf den Fersen. Also rief ich Tyler vom Auto aus an. Shemar und er fuhren heute Streife zwischen Venice und Santa Monica. Nachdem ich ihm mit wenigen Worten die Lage geschildert hatte, schlug er mir vor, ich solle zu seiner Wohnung fahren.
„Du kannst da übernachten, wenn du willst. Das Sofa ist frei!“
„Danke, aber ich würde mein Bereitschaftszimmer für die Nacht vorziehen“, lehnte ich ab. „Wir haben morgen früh sehr zeitig eine OP auf dem Plan.“
„Wir könnten deinen Ex für eine Weile aus dem Verkehr ziehen.“ hörte ich Shemars Stimme. „Was meinst du, Jess?“
„Ich möchte ihn momentan nur loswerden, damit ich unbehelligt zur Station zurückfahren kann.“
„Okay, dann machen wir folgendes…“ Tyler offenbarte mir seinen Plan, und diesmal nahm ich sein Angebot dankbar an. Das würde Jim eine Zeit lang beschäftigen.
Auf Umwegen fuhr ich zu Tylers und Shemars Wohnung, den SUV immer in meinem Windschatten. Direkt vor dem Haus stellte ich Coopers Jeep ab, betrat den Hausflur und verschwand eilig durch den Hinterausgang in die nächste Seitenstraße, wo der Streifenwagen mit meinen Freunden bereits auf mich wartete und mich zurück zur Station brachte. Die Schranke war nachts geschlossen und konnte nur von befugten Personen mit Fernbedienung geöffnet werden. Jim würde nicht aufs Gelände gelangen, ohne einen Alarm auszulösen. Also konnte er mich in dieser Nacht nicht mehr erreichen, weder telefonisch noch persönlich, und vielleicht hatte er inzwischen begriffen, dass es für mich kein Zurück gab, und würde seinen Plan, mich um jeden Preis umzustimmen, schließlich aufgeben, sobald er etwas Zeit zum Nachdenken hatte.
Irgendwie spürte ich zwar, dass hier eine ganze Menge Wunschdenken meinerseits im Spiel war, doch der Gedanke beruhigte mich erst einmal. Ich verabschiedete mich von meinen beiden Freunden und schloss sorgfältig die Türen hinter mir ab.
In dieser Nacht konnte ich keinen Schlaf finden. Die unerwartete Begegnung mit meiner Vergangenheit hatte mich zutiefst aufgewühlt. Hellwach lag ich auf meinem Bett und dachte über die Auseinandersetzung mit Jim nach.
Es gab kein Zurück für mich.
Es war vorbei…
Oder vielleicht doch nicht?