4. Ein Lichtblick in der Nacht
„Sie sind wohl gern an der frischen Luft?“, ertönte hinter mir eine Stimme, die mir vage bekannt vorkam. Ich fuhr erschrocken herum und stutzte.
Da stand er: schlank, mittelgroß, durchtrainiert und geradezu unverschämt gutaussehend, in perfekt sitzender, schwarzer Polizeiuniform. Na ja, fast perfekt sitzend, denn die Jacke hatte er ausgezogen und sich lässig über die Schulter geworfen, was mich zu der Annahme führte, dass sein Dienst für heute beendet war.
„Sieh an, der Tom-Cruise-Verschnitt!“, entfuhr es mir ungewollt laut, bevor ich es verhindern konnte.
„Wer?“, fragte er irritiert und blieb ein paar Schritte vor mir stehen.
„Ach ähm… sorry, Officer, ich habe Sie verwechselt.“
„Mit Tom Cruise?“, Er grinste fast so strahlend wie sein Doppelgänger. „Soll ich mich jetzt vielleicht geschmeichelt fühlen?“
„Keine Ahnung, wie Sie sich fühlen. Ich für meinen Teil fühle mich beschissen.“, erwiderte ich, innerlich froh darüber, dass es kein Unbekannter war, dem ich hier nach Mitternacht auf dem Pier begegnete. Obwohl, natürlich war er ein Fremder für mich, wenn man von der flüchtigen Begegnung heute Nachmittag am Strand mal absah, aber ich war sicher, dass ich von ihm nichts zu befürchten hatte, es sei denn, die örtliche Polizei hatte eine perverse Vorliebe für irgendwelche Psychopathen in den eigenen Reihen. Aber so sah er nun wirklich nicht aus. Er wirkte eher wie der coole Typ von nebenan, und jetzt, da er keine Sonnenbrille trug, blickte ich in sympathische Augen, deren Farbe im fahlen Schein der Laternen jedoch leider nicht auszumachen war.
„Ich würde mich nachts um zwei allein auf dem Pier auch nicht sonderlich wohlfühlen“, erwiderte er altklug und musterte mich aufmerksam. Aus Angst, er könnte sehen, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, wandte ich mich ab und starrte erneut aufs Wasser.
Sich leise räuspernd trat er näher und lehnte sich schließlich dicht neben mich ans Geländer.
„Bist du dem echten Cruise schon einmal begegnet?“, lenkte er diplomatisch ein. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, leider nicht.“
„Nun, wahrscheinlich wäre er dir nicht einmal aufgefallen. Er ist nämlich nicht viel größer als so…“ Er hob seine Hand in Höhe meines Kinns.
„Es kommt doch nun wirklich nicht immer auf die Größe an“, protestierte ich, und sofort überzog ein breites Grinsen sein Gesicht.
„Manchmal aber schon.“
Schlagartig wurde mir die Zweideutigkeit meiner letzten Worte klar, und ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss.
„Haben Sie Dienstschluss, Officer?“, wechselte ich rasch das Thema und wies auf das gegenüberliegende Gebäude, aus dem er eben gekommen war.
„Eigentlich wäre mein Dienst bereits nach der ersten Begegnung mit dir beendet gewesen, nachdem du glücklicherweise außer einem übelgelaunten Fauchen keinen Ärger gemacht hast. Aber wie das Schicksal manchmal so spielt, ich musste in letzter Sekunde für einen plötzlich erkrankten Kollegen einspringen.“
„Dann genießen Sie Ihren Feierabend, denn ich werde Ihnen auch bei unserer zweiten Begegnung keinen Ärger machen.“
„Ärger vielleicht nicht, aber ein schlechtes Gewissen, wenn ich dich jetzt hier so allein stehenlasse, mitten in der Nacht…“, erwiderte er nachdenklich.
„Ach was, schon Schlimmeres erlebt“, log ich und winkte mit einem halbherzigen Lächeln ab. Nie im Leben würde ich zugeben wollen, wie mir wirklich zumute war.
Wenig überzeugt von dem eben Gehörten deutete er auf mein ramponiertes Knie, das unter dem dicken Pflaster und der von dem Sturz zerrissenen Jeans dumpf vor sich hin schmerzte.
„Was ist passiert? Bist du gestürzt?“
„Mmh…“, knurrte ich und schnaufte erbost in Erinnerung an den Zwischenfall vor ein paar Stunden. „Irgend so ein Penner glaubte den Gehweg zu seinem Wohnzimmer machen zu müssen.“
Er sah mich verdutzt an und prustete dann laut los.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte ich verärgert.
„Sorry…“, schnaufte er sichtlich amüsiert. „Du hast es also tatsächlich fertiggebracht, über einen Obdachlosen zu stolpern?“
„Er lag mitten im Weg herum!“
Es dauerte einen Moment, bis Double-Tom es endlich geschafft hatte, seine Gesichtszüge wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Schließlich räusperte er sich und nickte, immer noch grinsend.
„Okay, kann ja mal vorkommen.“ Wieder vergingen ein paar Sekunden, in denen er mich weiter eindringlich musterte. „Und nun mal ehrlich… Was tust du um diese Zeit wirklich hier draußen? Wir haben in Süd-Kalifornien zwar keine so hohe Kriminalitätsrate wie in Detroit oder Washington, aber man sollte trotz allem sein Glück nicht unnötig herausfordern!“
„Glauben Sie vielleicht, ich stehe gern hier herum und zähle bei Mondlicht die Wellen?“, fuhr ich ihn ungewollt heftig an.
„Oh oh, wie es scheint, sind wir noch immer ziemlich übel gelaunt!“
„Wenn Sie wüssten...“
Er atmete tief durch.
„Nun hör endlich auf mich zu siezen! Erzähl mir lieber, was los ist!“
„Woher weiß ich, dass du`s nicht gegen mich verwendest?“, zog ich ihn auf.
„Nur keine Sorge, ich bin ja nicht mehr im Dienst.“
„Umso schlimmer. Mit Fremden rede ich gleich gar nicht über mein Privatleben.“
„So gesehen bin ich kein Fremder, wir kennen uns immerhin bereits vom Strand.“
„Ach ja, das hatte ich fast vergessen, dass du mich vorhin so blöd angemacht und aus meinen schönen Tagträumen gerissen hast.“
„Hey, ich habe dich nicht blöd angemacht, das war eine meiner zweihundertvierundsiebzig todsicheren Methoden, eine hübsche Frau anzusprechen.“
„Indem du sie „Ma`m“ nennst?“
Er hob scheinbar gleichmütig die Schultern. „Was denn? Hat doch beinahe funktioniert!“
„Du kannst von Glück sagen, dass du da oben auf deinem Bobbycar gesessen hast, sonst hätte ich dir als Antwort auf diese dämliche Anrede kräftig vors Schienbein getreten!“
„Was wiederum ein Grund gewesen wäre, dich wegen Angriffs auf einen Bundesbeamten auf der Stelle zu verhaften. Ich hätte dir Handschellen angelegt. Aber vielleicht stehst du ja auf sowas?“
„Unbedingt, du Spinner!“
„Das ist jetzt aber Beleidigung eines Beamten im…“
„Du bist nicht mehr im Dienst“, unterbrach ich ihn unbeeindruckt, woraufhin er erneut sein breitestes Tom-Cruise-Lächeln zeigte.
„Ja Ma`m.“
Tief durchatmend lehnte ich mich ans Geländer.
„Vielleicht sollte ich dich doch noch vors Schienbein treten.“
„Du hast ein ganz schön freches Mundwerk.“
„Kann schon sein, aber momentan hilft die mir nicht wirklich weiter.“
„Und was würde dir helfen?“
„Ein freies Hotelzimmer.“
„Es ist Saison!“
„Das habe ich gemerkt, vielen Dank. Oder denkst du, ich verbringe die Nacht auf dem Pier, weil ich mondsüchtig bin?“
„Ich habe zwar kein Hotelzimmer, aber immerhin eine bequeme Couch.“
In der Annahme, mich eben verhört zu haben, kniff ich die Augen zusammen.
„Was ist das jetzt, eine weitere deiner zweihundertvierundsiebzig Anmach- Versuche?“
„Nein, das war eine rein freundschaftliche Geste meinerseits.“ Er sah meinen fassungslosen Blick, trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. „Okay, okay, vergiss es… Wir kennen uns kaum, also wieso solltest du mir trauen? Vielleicht bin ich ja ein durchgeknallter Irrer, der nur darauf wartet, dir im Schlaf die Kehle durchzuschneiden! Und ganz nebenbei, aus welchem Grund sollte ich dir trauen? Vielleicht bist du eine gerissene Diebin, die mich gewissenlos ausrauben würde, während ich friedlich schlafe? Nein…“ Er atmete tief durch und schüttelte grinsend den Kopf. „Soweit lassen wir es besser gar nicht erst kommen. Ich wünsche dir eine gute Nacht, pass gut auf dich auf, lass dich nicht von Fremden anquatschen, und fall nach Möglichkeit nicht vom Pier. Meine Kollegen sind ohnehin schon unterbesetzt.“ Damit drehte er sich um und schlenderte davon.
Innerlich aufgewühlt starrte ich ihm nach. Da ging sie hin, meine einzige reelle Chance auf eine Nacht unter einem schützenden Dach.
Mein Gefühl und meine Menschenkenntnis signalisierten mir, dass „Tom Cruise“ ganz sicher kein Irrer war. Aber war ich nicht genau deshalb jetzt hier? Weil mich besagte Menschenkenntnis ausgerechnet bei dem einen Menschen, dem ich bis gestern am meisten vertraute, absolut im Stich gelassen hatte?
Zitternd stand ich da. Mir war kalt, ich war allein, und – ja, ich hatte Angst. Was, wenn jemand mich hier in den nächsten Stunden überfallen würde? Wenn sie mich morgen früh fanden, vergewaltigt und mausetot irgendwo unter dem Pier?
Nein… dann schon lieber das Sofa von Officer Tom.
„Warte!“, rief ich mit dem Mut der Verzweiflung und griff nach meinem Rucksack.
Er blieb stehen, wandte sich um und sah mich abwartend an.
„Was ist?“
Mein Blick sprach wohl Bände, denn er nickte bestätigend.
„Bist wohl doch nicht so mutig, wie du mir einzureden versucht hast!“
„Wie heißt du überhaupt?“, fragte ich tief durchatmend, ohne weiter auf seine letzte Bemerkung einzugehen. „Ich meine… ich kann dich ja schlecht Tom nennen, oder?“, ergänzte ich schnell, als ich das Lächeln sah, dass seine Lippen umspielte.
„Tyler Lockwood“, sagte er und reichte mir die Hand. „Meine Freunde nennen mich Ty. Und mit wem habe ich diese Nacht die Ehre?“
„Jessica Hausmann“, würgte ich hastig hervor. „Jess.“
„Okay, Jess. Wo kommst du eigentlich her? Du hast einen etwas eigenartigen Akzent. Zuerst dachte ich, Deutschland, aber da ist noch ein anderer Slang...“
„Irland“, klärte ich ihn auf. „Ich stamme zwar aus Deutschland, habe aber die letzten drei Jahre in Irland gelebt. Dort habe ich auch endlich richtig Englisch gelernt.“
„Ah ja.“ Er nickte. „Jetzt verstehe ich. Und vermutlich bist du auch erst heute hier angekommen.“ Sein Blick fiel auf meinen Rucksack. „Wo ist dein restliches Gepäck?“
„Noch am Flughafen. Ich wollte zu Bekannten, die ich vor ein paar Jahren mal besucht habe. Sie wohnen hier irgendwo in der Nähe, in den Santa Monica Mountains.“
„Nun, das ist eine ziemlich vage Zielangabe.“
„Ich weiß. Das ist ja das Problem. Ich bin… etwas überstürzt abgereist und habe die Adresse glatt vergessen.“
„Es gibt Handys, sogar auf der Grünen Insel.“
Ich verdrehte die Augen bis zum Anschlag.
„Klar habe ich ein Handy, Mister Oberschlau, allerdings ist inzwischen leider der Akku leer. Das Ladegerät befindet sich im Koffer. Außerdem funktioniert das Ding hier sowieso nicht.“
„Okay. Dann holen wir morgen früh dein Gepäck, und du kaufst eine Sim-Karte für dein Handy. Und deine Leute finden wir sicher im Polizeicomputer, das kann ich arrangieren.“
„Danke Daddy…“, unkte ich und entlockte ihm ein erneutes Grinsen. „Wie weit ist es bis zu deinem Sofa? Mir tun die Füße weh von der vergeblichen Hotelsuche.“
„Ein paar Straßen weiter müssen sie dich wohl oder übel noch tragen“, erwiderte er und nahm mir wie selbstverständlich meinen Rucksack ab. Ich war einfach zu fertig, um zu widersprechen und ließ es widerstandslos geschehen. Wortlos trottete ich neben ihm her, hinauf zur Hauptstraße.
„Bitte erschreck nicht, falls mein Mitbewohner irgendwann auftauchen sollte“, meinte er schließlich, als wir an der Ampel warten mussten.
„Mitbewohner?“, fragte ich erschrocken. „Bist du… schwul?“
Er sah mich erstaunt an.
„Wie kommst du denn darauf?"
„Ich... ähm... na ja..."
„Wäre das so schlimm?“
„Sorry… nein… natürlich nicht… geht mich auch gar nichts an…“, stotterte ich, verlegen wegen meiner unbedachten Äußerung. Er schüttelte grinsend den Kopf.
„Nein, ich bin nicht schwul, aber auch nicht so wohlhabend, als dass ich mir hier in Santa Monica allein eine Bude leisten könnte.“
„Ach so.“ murmelte ich etwas beschämt. „Der Begriff Mitbewohner klang nur irgendwie…“
„Schwul.“ ergänzte er trocken, und wir lachten beide. „Übrigens kennst du Shemar schon von unserer Begegnung am Strand. Er ist ein Kollege von mir, wir fahren öfter zusammen Streife.“
Ich starrte ihn entgeistert an und prustete dann los.
„Wie heißt der?“
„Shemar. Wieso bist du so erstaunt?“
„Weil… na ja, ich hatte euch beiden heimlich Namen gegeben. Früher habe ich mir in meiner Freizeit oft Kinofilme oder TV-Serien angeschaut, und deshalb vergleiche ich manchmal Leute, die ich nicht kenne, mit irgendwelchen Filmschauspielern, die ihnen ähnlich sind. Dein Double kennst du ja inzwischen. Und er erinnerte mich auf den ersten Blick an Shemar Moore.“
„Das wird ihn freuen, denn er wird oft mit Moore verglichen.“ Lachend wies Tyler auf die Ampel, die inzwischen umgeschaltet hatte. „Na komm, du Vogel der Nacht, grüner wird`s nicht.“
Das winzige Appartement, welches sich Tyler und Shemar teilten, befand sich zwei Straßen weiter in einer schmalen Seitengasse. Es bestand aus einem einzigen Wohnraum, der zugleich als Küche diente, einem winzigen Badezimmer mit einer ziemlich antik aussehenden Dusche und einem vorsintflutlichen alten Warmwasserboiler. Jeder der beiden Männer bewohnte zudem ein eigenes kleines Zimmer als privaten Schlafraum, in das kaum mehr als ein Bett und ein Schrank passten. Mitten im Wohnzimmer stand ein altes, aber sehr bequem aussehendes Sofa mit vielen Kissen. Mein Zufluchtsort für diese Nacht. Dahinter befanden sich eine Küchenzeile mit Herd und Mikrowelle, ein kleiner Tresen und vier Barhocker, sowie ein großer Kühlschrank, an dessen Tür eine Unmenge Merkzettel, Fotos und Kassenbons klebten. An der gegenüberliegenden Wand hing, vom Sofa aus gut sichtbar, ein überdimensionaler Flatscreen, das einzige ultramoderne Möbelstück im Raum. Auf dem Board darunter lagen unzählige DVDs verstreut.
Ich bemerkte, wie Tyler mich abwartend musterte, als er die Tür hinter mir schloss, während ich eintrat und mich interessiert umsah.
„Willkommen im ganz normalen Chaos!“, meinte er trocken und stellte meinen Rucksack neben dem Sofa ab.
„Ach komm schon…“ Ich drehte mich zu ihm um und hob beschwichtigend die Schultern. „Ich finde es gemütlich. Klein, aber fein, eine Junggesellenbude eben!“
„Warte, bis du auf dem Sofa geschlafen hast. Besser als im Hilton, sage ich dir. Du willst sicher gar nicht wieder weg!“
„Abwarten…“ Skeptisch warf ich meine Jacke auf besagtes Möbelstück und wies auf die Badezimmertür, die das Poster eines spärlich bekleideten Pin-up-Girls zierte. „Darf ich?“
„Klar. Fühl dich wie zu Hause!“
Nun, das würde ich sicherlich nicht einmal mit übermäßig viel Fantasie schaffen, aber immerhin, der gute Wille war vorhanden, und ich war froh und dankbar, die Nacht nicht im Freien verbringen zu müssen.
Als ich ein paar Minuten später zurückkam, holte Tyler eben zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, öffnete sie und reichte mir wie selbstverständlich eine davon.
„Trinken wir darauf, dass dein Aufenthalt in Kalifornien besser wird, als er begonnen hat“, prostete er mir zu. Ich nickte, setzte die Flasche an und trank sie in einem Zug halb leer. Tyler beobachtete mich staunend und lachte dann.
„Alle Achtung, da war ja jemand durstig!“ Sein Blick fiel auf mein Knie, welches unter dem Pflaster wieder zu bluten begonnen hatte. „Du solltest das wechseln. Ich hol dir Verbandszeug.“
Wenig später beobachtete er äußerst interessiert, wie ich mein Knie mit wenigen geschickten Handgriffen versorgte.
„Bist du Krankenschwester oder so was?“
„Oder so was…“, erwiderte ich vage und ließ mich auf dem Sofa nieder. Er schien zu verstehen, dass ich momentan nicht unbedingt über mich reden wollte. Mit der Bierflasche in der Hand nahm er neben mir Platz und wechselte das Thema.
„Wie ist es eigentlich dem Obdachlosen ergangen, über den du heute Nachmittag gestolpert bist? Lebt er noch?“
Ich grinste säuerlich.
„Aber sicher. Es hat ihn nicht wirklich interessiert, dass ich mich seinetwegen verletzt habe. Er schien den Gehweg als sein Revier zu betrachten. Und er hatte einen wunderschönen Schäferhund.“
„Viele von den Leuten, die auf der Straße leben, haben ein Tier dabei. Es gibt ihnen die Sicherheit und die Freundschaft, die sie von ihren Mitmenschen nicht bekommen haben.“
Nachdenklich zupfte ich an dem Flaschenetikett.
„Er war noch nicht sehr alt, und er wirkte auf mich irgendwie gar nicht wie ein typischer Obdachloser.“
Tyler warf mir einen erstaunten Blick zu.
„Wie stellst du dir denn einen typischen Obdachlosen vor?“
„Uralt“, erwiderte ich spontan. „Irgendwie heruntergekommen, mit fahler Gesichtsfarbe, gelben Zähnen und grauen Haaren. Aber der vorhin war…“ Ich suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. „Er war zu jung, um auf der Straße zu leben. Er war groß und sah relativ sportlich aus, mal abgesehen von seinen dreckigen Klamotten und dem ungewaschenen Gesicht.“
„Nun, nach dem Alter kannst du bei diesen Leuten nicht gehen. Schau dich an, fast wärst du selber in dieser Nacht obdachlos gewesen.“
„Das ist ja wohl eine etwas andere Geschichte“, protestierte ich sofort, doch er hob nur die Schultern. „Zugegeben, du bist teils ungewollt in diese Situation hineingeraten. Aber egal, durch welche Umstände man plötzlich auf der Straße landet, es kommt selten einer, der dir uneigennützig ein Dach über dem Kopf anbietet. Und irgendwann arrangierst du dich mit der Situation, oder du ziehst dich aus eigener Kraft wieder aus dem Dreck und fängst von vorn an.“
„Da, wo ich herkomme, gibt es Obdachlosenheime.“
„Die gibt es hier auch. Aber um dort unterzukommen, muss man sich an gewisse Regeln halten. Und die Leute, die der Gesellschaft den Rücken gekehrt haben, wollen sich nicht mehr an irgendwelche Gesetze binden lassen. Also bleiben sie auf der Straße. Dort sind sie nur für sich selbst verantwortlich, und niemand kann ihnen Vorschriften machen. Die Behörden akzeptieren das mittlerweile, sie lassen die Obdachlosen in Ruhe, solange diese keinen Ärger machen.“
„C’est la vie“, sinnierte ich und starrte nachdenklich auf die leere Bierflasche in meinen Händen. „Leben und leben lassen.“
„Viele Obdachlose siedeln sich hier an der Küste rund um LA an, vornehmlich wegen des milden Klimas, das hier das ganze Jahr über herrscht. Außerdem bietet Santa Monica für die Leute, die auf der Straße leben, als erste Stadt im Land einmal pro Tag kostenlos warme Mahlzeiten an“, erzählte Tyler weiter. „Die sogenannten "Penner" gehören mittlerweile zum gesellschaftlichen Bild wie alles andere auch.“
„Trotzdem war er… irgendwie anders.“
„Weil du übernächtigt, durcheinander und ziemlich frustriert bist, und dich in seinen Schäferhund verliebt hast“, neckte mich Tyler, stand auf und zerrte ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „LA-Lakers“ und eine Decke aus dem einzigen Schrank im Zimmer. „Hier, für dich!“
„Ich bin nicht frustriert!“, protestierte ich, während ich die Sachen auffing.
Er grinste.
„Sicher?“
„Okay, vielleicht ein bisschen übernächtigt und durcheinander.“ lenkte ich widerwillig ein und begann mir umständlich ein Lager auf dem Sofa herzurichten. Tyler gähnte herzhaft und erhob sich, um mir Platz zu machen.
„Also dann schlaf mal gut“, meinte er und zwinkerte mir zu. „Falls du trotzdem noch einen nächtlichen Spaziergang machen willst, der Wohnungsschlüssel liegt dort drüben auf dem Bord. Und wenn du Hunger bekommst, der Kühlschrank ist auch nicht verschlossen.“
„Tyler?“, sagte ich leise und hielt mit meiner Tätigkeit inne, als er Anstalten machte, in seinem Schlafzimmer zu verschwinden. Er drehte sich fragend um, und ich schenkte ihm mit einiger Mühe ein Lächeln.
„Morgen erzähle ich dir, was immer du über mich wissen willst. Morgen… nur nicht heute. Und… danke für alles.“
Er blinzelte belustigt.
„Keine Ursache… Ma`am!“