13. Emotionen
Viel Zeit, um darüber nachzugrübeln, was mir gerade mit aller Härte klargeworden war, blieb mir nicht. Ich hatte soeben eine frische Kanne Tee aufgegossen, um meine Nerven mit dem heißen Getränk etwas zu beruhigen, als mich auch schon der diensthabende Ermittler aufsuchte. Tyler, der seinen Kollegen zur Praxis begleitet hatte, stellte uns einander vor und zog sich dann mit einem aufmunternden Blick in meine Richtung diskret wieder zurück.
Der Ermittler, ein schlanker, dunkelhaariger Mann Ende Vierzig, stellte sich mir als Detective Frank Chambers vor und wirkte auf den ersten Blick sehr streng, fast schon einschüchternd, obwohl er seine Fragen mit einer unerschütterlichen Ruhe und Besonnenheit stellte, die es mir trotz aller Aufregung etwas leichter machte, alles so geduldig wie möglich zu beantworten. Aber wenn er von Zeit zu Zeit die hohe Stirn in Falten zog und mich mit seinen eisgrauen Augen hinter der randlosen Brille fixierte, als wolle er mich damit durchbohren, dann hatte ich Mühe, seinem Blick standzuhalten. Dennoch ließ ich mich trotz meiner angespannten Nerven nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich war ich hier das Opfer und hatte nichts, aber auch gar nichts verbrochen. Im Gegenteil, irgendjemand hatte mir etwas angetan, mein Eigentum und meine Privatsphäre auf schändlichste Weise zerstört und mir den einzigen Rückzugsort genommen, den ich momentan besaß. Ich wusste, ich würde mein kleines „Reich“ nie mehr vorbehaltlos betreten können. Lieber würde ich hier in der Praxis auf dem Boden schlafen, als noch eine einzige Nacht in diesem Bereitschaftszimmer zu verbringen.
Als hätte er meine Gedanken erraten, unterbrach der Ermittler sein Gespräch mit mir, legte den Stift auf den abgegriffenen Notizblock, und nahm für einen Moment die Brille ab.
„Ich weiß genau, wie Ihnen jetzt zumute ist, Miss Hausmann“, nickte er mir mitfühlend zu.
„Ach ja?“ Ich wollte nicht unhöflich erscheinen, aber eine gewisse Skepsis vermochte ich trotzdem nicht zu verbergen. „Das glaube ich kaum.“
Er lächelte nachsichtig.
„Meiner Familie ist vor einiger Zeit etwas ganz Ähnliches passiert. Meine Tochter hatte sich gerade ihr erstes eigenes Reich eingerichtet. Obwohl meine Frau und ich immer ein sehr gutes Verhältnis zu ihr hatten, brannte sie förmlich darauf, endlich unabhängig zu sein und auf eigenen Beinen zu stehen. Sie fand eine kleine Wohnung und wir halfen ihr, sich häuslich einzurichten.“ Er wies nach draußen in Richtung meines Zimmers. „Als sie etwa vier Wochen später abends von der UNI nach Hause kam, sah ihre Wohnung ähnlich aus…“ Als er meinen erstaunten Blick sah, hob er die dichten Augenbrauen und nickte wissend. „Sie meinen, einem Ermittler kann so etwas nicht passieren? Ich habe zwar jeden Tag mit irgendwelchen Straftaten zu tun, aber geschützt bin ich deswegen nicht davor.“
„Haben Sie die Einbrecher geschnappt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, die Sache konnte bis heute nicht geklärt werden.“
„Und Ihre Tochter? Wie ging es ihr danach? Wie hat sie die Sache verkraftet?“
„Sie ist wieder zu Hause eingezogen. Hat eine Weile gedauert, bis sie erneut den Wunsch nach Selbstständigkeit verspürte. Sie wohnt jetzt in einer WG.“
„Nun gut“, seufzte ich. „Ich habe weder eine intakte Familie, zu der ich mich zurückziehen kann, noch kenne ich hier irgendwo eine aufnahmefreudige Wohngemeinschaft. Trotzdem wird sich sicher eine Möglichkeit finden. Ich bin nicht anspruchsvoll, und der Job hier ist ja auch nur vorübergehend.“
Detective Chambers nahm den Stift wieder auf.
„Eigentlich schade, dass Sie nicht lange hierbleiben“, bemerkte er beiläufig, während er sich eine weitere Notiz auf seinen Block machte. „Ihr Kollege betonte vorhin, dass Sie wirklich gut ins Team passen.“
Ich wollte schon erstaunt nachfragen, wem ich dieses Lob zu verdanken hatte, doch dann wurde mir klar, dass es nur Tyler gewesen sein konnte. Schließlich war er momentan der einzige hier, der mich kannte.
Ich beantwortete die restlichen Fragen des Detectives, so gut ich konnte, denn ich wollte die Ermittlungen keinesfalls behindern. Allerdings behielt ich meine jüngsten Vermutungen vorsichtshalber erst einmal für mich. Bevor ich hier irgendwelche unrechtmäßige Verdächtigungen aussprach, musste ich unbedingt zuerst mit Jim sprechen. Aber wie zum Teufel sollte ich ihn erreichen? Ich wusste weder, wo er sich momentan aufhielt, noch hatte ich eine aktuelle Handynummer von ihm. Es gab niemanden weit und breit, der mir weiterhelfen konnte.
Oder doch?
Vielleicht nicht hier, aber… Vielleicht hatte Jim von einem neuen Handy aus seinen Vater drüben in Irland angerufen? Vielleicht wusste Jacob sogar, wo genau sein Sohn während seiner „Reise“ abgestiegen war!
Ungeduldig fieberte ich dem Ende des Verhörs entgegen und atmete erleichtert auf, als der Ermittler sich verabschiedete und die Praxis endlich verließ.
„Alles okay?“, fragte Tyler, der kurz darauf noch einmal den Kopf zur Tür herein steckte. „Hat mein Kollege dir ein Loch in den Bauch gefragt?“
„Nein“, erwiderte ich und quälte mir ein Lächeln aufs Gesicht. „Er war wirklich nett.“
„Aber?“ So leicht ließ sich Tyler nicht täuschen.
„Ich weiß nicht.“ Unschlüssig, ob ich ihm von meinem Verdacht erzählen sollte, kaute ich auf meiner Unterlippe. Er war ein Freund, okay, aber er war auch Polizist, und ich hatte keine Ahnung, ob als solcher die letztlich Pflicht bei ihm überwog, meinem Verdacht nachzugehen.
„Ich würde wirklich gern mit Jims Vater über alles reden“, zog ich mich schließlich geschickt aus der Affäre. „Das Gespräch mit ihm ist sowieso längst überfällig, und gerade jetzt könnte ich etwas Ablenkung gebrauchen.“
„Dann ruf ihn an!“
„Vielleicht bekomme ich aber auch nur Vorwürfe zu hören…“
„Hey…“ Tyler kam zu mir herüber, ging vor meinem Sessel in die Hocke, umfasste meine Knie und zwang mich auf diese Art, ihn anzusehen. „Du willst doch schon die ganze Zeit mit ihm reden. Wenn du es nicht endlich tust, kommst du nie zur Ruhe. Ruf ihn an. Erklär ihm, warum du Irland verlassen hast und hör dir an, was er zu sagen hat, auch wenn es dir vielleicht nicht gefällt.“
„Das ist nicht so einfach“, murmelte ich. Er nickte, langte nach dem Handy auf dem Beistelltisch und hielt es mir hin.
„Das ist es nie, Jess. Komm schon, ruf an!“
Für einen Moment vergaß ich meine guten Vorsätze, ihm nicht mehr so nahe zu kommen, und gab ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, den er mit einem schiefen Lächeln quittierte, während er sich wieder erhob.
In diesem Moment fiel mir ein, was der Ermittler vorhin gesagt hatte.
„Übrigens danke, dass du dich dem Detective gegenüber so lobend über mich geäußert hast!“
Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„Ich habe doch gar nichts gesagt.“
„Nicht?“ Lächelnd winkte ich ab. „Okay, dann war es vielleicht Curt.“
„Wie auch immer, wenn das hier vorbei ist, gehen wir alle zusammen einen trinken“, meinte Tyler, zwinkerte mir aufmunternd zu und hob anerkennend den Daumen. „Du und Curt... dass ihr Butch gefunden habt, das war super.“
Mit einem Gemisch aus Dankbarkeit und schlechtem Gewissen, weil ich ihm nicht alles gesagt hatte, sah ich ihm nach, als er das Zimmer verließ.
Einen Augenblick saß ich nur da und starrte gedankenverloren auf mein Handy, dann jedoch fasste ich mir ein Herz und begann ein paar Tasten zu drücken.
Nachdem die Computerstimme des Operators mir emotionslos erklärte, er würde mich jetzt mit der gewünschten Nummer verbinden, lauschte ich in banger Erwartung, und mein Herz klopfte bis zum Hals.
Wie würde Jacob auf meinen Anruf reagieren?
Als sich die vertraute, immer etwas knurrige Stimme viele tausend Meilen entfernt meldete, wurde mir dennoch sofort warm ums Herz.
„Doc… hier ist Jess. Wie geht es dir?“
Zunächst blieb es still am anderen Ende der Leitung, so dass ich erst befürchtete, er hätte wieder aufgelegt.
„Jacob?“, fragte ich vorsichtig, als ich plötzlich sein vertrautes Schnaufen hörte.
„Verdammt, was willst du? Ich habe schon begriffen, dass du auf und davon bist. Du musst es mir nicht extra sagen!“
„Komm schon, Doc, sei nicht ungerecht!“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. „Du weißt genau, dass ich nicht ohne Grund gegangen bin. Und ich wollte es dir wenigstens erklären.“
Wieder schnaufte er.
„Du brauchst nichts zu erklären, ich weiß genau, dass dieser Mistkerl mal wieder alles verbockt hat. Aber warum bist du nicht zu mir gekommen? Warum musstest du gleich bis ans andere Ende der Welt flüchten?“
Ich schluckte schwer.
„Weil etwas geschehen ist, das du nicht mehr hättest ändern können. Wenn ich geblieben wäre, hätte es nur noch mehr geschmerzt.“
„Was hat er diesmal getan, dieser, dieser…“
„Hör schon auf. Er ist trotz allem dein Sohn. Er ist, wie er ist. Keiner von uns kann ihn ändern. Und in dem Moment, als ich das erkannt habe und nicht wollte, dass alles noch schlimmer wird, habe meine Konsequenzen gezogen.“
„Ja, das hast du.“ Er räusperte sich umständlich, und seine Stimme wurde etwas klarer. „Aber immerhin hat Jim irgendwie herausgefunden, wo du dich aufhältst. Er war hier bei mir und hat gesagt, er holt dich zurück. Ist er inzwischen bei dir aufgetaucht?“
„Er war hier, Jacob. Aber ich habe ihn wieder weggeschickt, weil ich ihn nie mehr wiedersehen wollte. Allerdings habe ich vergessen, ihn etwas Wichtiges zu fragen. Etwas sehr Wichtiges. Weißt du, wo er sich aufhält?“
„Woher soll ich das wissen?“, grummelte Jacob und zerstörte damit meine einzige Hoffnung, Jim so schnell wie möglich zu finden. „Wenn er es dir nicht gesagt hat…“
„Hast du seine neue Telefonnummer?“
„Nein. Warum hast du sie nicht?“
„Wir haben uns nach unserem letzten Gespräch gestern nicht gerade in Freundschaft getrennt“, bemühte ich mich um eine Erklärung. „Ich habe ihm geraten, so schnell wie möglich wieder nach Hause zu fliegen, aber ich bin sicher, er hat sich nicht daran gehalten.“
„Natürlich nicht. Der Bengel macht doch nie, was man ihm sagt!“, erwiderte Jacob abfällig. „Und ich bin bestimmt der Letzte, dem er etwas von seinen Plänen erzählt. Bis auf…“
„Ja?“ Hoffnungsvoll hielt ich die Luft an. „Bis auf was?“
„Nun, ich weiß nicht, ob das von Bedeutung für dich ist, Jess, aber Jim rief mich gestern sehr spät abends an und sagte, er habe noch etwas zu erledigen und werde vielleicht noch ein paar Tage länger in den Staaten bleiben. Vielleicht hofft er ja insgeheim, dass du deine Meinung doch noch ändern könntest. Ach ja, warte… Jim erwähnte, dass er in diese Spielerstadt fahren würde, um sich dort mit Freunden zu treffen.“ Er schnaufte abfällig. „Als ob er je Freunde dort drüben hatte!“
„Spielerstadt, Jacob?“, fragte ich und rutschte aufgeregt in meinem Sessel hin und her. „Meinst du Las Vegas? Wollte er dorthin?“
„Ja, kann sein. Ich glaube, so ähnlich hieß das Dorf.“
„Okay.“ Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen. „Ich danke dir. Du hast mir wirklich sehr geholfen.“
„Wenn du meinst“, brummte er und räusperte sich erneut. „Aber… du nimmst sicher nur eine Auszeit, Jess? Du kommst doch irgendwann zurück, oder?“ Es klang so viel Hoffnung in seiner Stimme, dass sich mein Magen vor Gram schmerzhaft zusammenzog.
Was sollte ich ihm denn sagen?
´Sorry Doc, leider wird aus unserem kleinen Engagement nichts, denn ich muss dir gestehen, dass dein Sohn tatsächlich der Mistkerl ist, für den du ihn die ganze Zeit über gehalten hast. Aber vielleicht solltest du ihm dennoch eine Chance geben, denn ganz so dämlich scheint er nun auch wieder nicht zu sein. Immerhin ist er mit keiner geringeren als der Tochter unseres Bürgermeisters in die Kiste gehüpft!
Also keine Sorge, deine neue Vielleicht-Schwiegertochter wäre auf jeden Fall finanzkräftig genug, um die Praxis so lange über Wasser zu halten, bis sich ein Ersatz für mich gefunden hat…´
Nein, das hatte Jacob O`Neill nicht verdient. Nicht nach allem, was er für mich getan hatte.
Er war so weit entfernt von hier, aber ich konnte ihn trotzdem genau vor mir sehen, wie er da saß und mit mir telefonierte: zusammengesunken in seinem alten, zerschlissenen Ohrensessel, der längst auf den Sperrmüll gehört hätte, für ihn jedoch seine ganz spezielle Ruhe-Oase war, in die er sich zurückzog, wenn er abschalten und mit seinen Gedanken allein sein wollte. Einmal mehr hatte das Leben ihm einen Tritt versetzt, wie schon so oft in den vergangenen Jahren. Er war immer wieder aufgestanden, hatte dem Schicksal getrotzt und Kompromisse schließen müssen, ohne sich jedoch dem Sturm des Lebens jemals wirklich gebeugt zu haben. Dass dieser neue Schicksalsschlag nun ausgerechnet meinen Namen trug, schmerzte mich bis tief ins Innerste. Aber was konnte ich tun, wie sollte ich ihm helfen und meine Arbeit in seiner Praxis weiterführen, ohne mich selbst dabei aufzugeben?
„Nein“, sagte ich und atmete tief durch. „Ich komme nicht zurück. Nicht nach allem, was geschehen ist. So viele Lügen! Du weißt, wie sehr ich Unehrlichkeit hasse. Ich kann unmöglich mein Leben darauf aufbauen!“
„Aber was tust du jetzt allein da drüben?“
„Ich arbeite hier vertretungsweise in einer Praxis, in der vor allem Polizeihunde betreut werden. Die Arbeit ist etwas anders als da…“ Ich hatte daheim sagen wollen, doch ich biss mir auf die Zunge, denn ich wusste genau, dort war nicht länger mein Zuhause. „Sie ist anders, als bei dir, aber wichtig ist, dass die Patienten mich mögen und akzeptieren. Und das tun sie.“
„Kann ich mir vorstellen.“
Bildete ich es mir nur ein, oder klang da ein gewisser Stolz in seiner Stimme?
Schnell erzählte ich weiter.
„Eine ganz neue Herausforderung, Jacob. Ich glaube, das würde dir auch gefallen.“
„Polizeihunde, ja?“ Er schnaufte wieder, aber es klang nicht abfällig. Im Gegenteil. „Oh, das sind wunderbare Tiere. Sie sind schlau und lassen sich gut ausbilden. Wenn man etwas davon versteht.“
Ich erinnerte mich daran, dass er mir vor langer Zeit einmal erzählt hatte, dass er noch vor seiner Ausbildung als Veterinärmediziner ebenfalls für ein paar Jahre Hunde trainiert hatte. So unendlich viel Zeit war seitdem vergangen.
„Komm doch einfach her, Doc“, hörte ich mich plötzlich sagen, ohne vorher über meine Worte nachgedacht zu haben. „Das Klima ist herrlich, die Wärme wäre gut gegen dein Rheuma, und du könntest mir in der Praxis ab und zu helfen und Ratschläge geben, wenn ich einmal nicht weiter weiß.“
„Du? Du weißt doch immer irgendwie weiter, du Schlitzohr!“, lachte er, und seine warme, väterliche Stimme war wie Balsam für meine Seele.
„Weißt du, Jacob, ich habe den Doktor, der die Praxis führt, selber noch nicht kennengelernt. Er hatte einen Autounfall und fällt einige Zeit aus. Aber wenn die Kollegen hier von ihm erzählen, glaube ich, ihr beide würdet euch gut verstehen.“
„Wieso glaubst du das? Ist er etwa auch so ein alter Griesgram?“
Wider Willen grinste ich von einem Ohr zum anderen.
„Aber nein! Er vielleicht, aber du niemals!“
Er ließ sein vertrautes, heißeres Lachen ertönen.
„Lügnerin!“
„Wirst du es dir überlegen?“, fragte ich hoffnungsvoll und lauschte atemlos.
„Nein, mein Mädchen“, holte er mich nach einer kurzen Pause auf den Boden der Tatsachen zurück. „Für solche Aktionen bin ich wahrlich zu alt.“
„Das bist du nicht!“, widersprach ich eilig. „Wir behandeln nicht nur die Polizeihunde, ich habe auch andere Patienten. Zum Beispiel der riesige Berner Sennenhund, der ständig so ungestüm am Strand entlang tobt, dass er schon zweimal eine Magendrehung bekam. Oder der kleine Beagle, der sich immer wieder mit den Kakteen auf dem Nachbargrundstück anlegt… Ach Doc, deine Erfahrung zusammen mit meinem neu erworbenen Wissen – Du und ich hier in der Praxis der Hundestaffel, wir wären ein unschlagbares Team!“
Ich hörte ihn tausende Meilen von mir entfernt traurig seufzen.
„Eine interessante Vorstellung, Jess. Vor zehn Jahren hätte ich eventuell mal darüber nachgedacht, aber heute… Einen so alten Baum wie mich verpflanzt man nicht mehr, schon gar nicht auf einen anderen Kontinent. Vielleicht besuche ich dich irgendwann einmal dort in deiner neuen Heimat, aber meine Wurzeln sind inzwischen viel zu tief in diesem Boden hier verankert, als das ich Irland für immer verlassen könnte. Ich bin eindeutig zu alt für einen derartigen Neuanfang.“
Ich konnte nicht verhindern, dass mir die Tränen, die schon eine ganze Weile in meinen Augen standen, nun hemmungslos über die Wangen liefen.
„Glaub mir, ich wünschte, es wäre alles anders gekommen. So, wie wir beide uns das noch vor ein paar Wochen ausgemalt hatten.“
War das wirklich erst ein paar Wochen her?
Ich erschrak zutiefst, als die Tür aufgerissen wurde und Coop hereinstürmte, gefolgt von Jad, der sich sofort enthusiastisch vor meine Füße warf.
„Was zum Teufel…“, donnerte Coop los, verstummte jedoch, als er meine Tränen sah. Hastig wischte ich sie weg und legte dann demonstrativ den Zeigefinger auf meine Lippen, um ihm zu zeigen, dass ich gerade ein wichtiges Gespräch führte. Daraufhin entspannte er sich merklich, ging hinüber zur Küchenzeile und nahm sich eine Tasse aus dem Schrank, die er mit Tee füllte. Dann lehnte er sich lässig an den Tresen und beobachtete mich stillschweigend.
Bestimmt hatte ihn jemand vom LAPD angerufen und von meiner Misere erzählt. Wenn nicht sogar Butch, dem es hoffentlich inzwischen wieder besser ging.
Wie auch immer, momentan hatte ich Wichtigeres zu tun, als Cooper Erklärungen abzugeben. Ich beschloss, mich nicht stören zu lassen und widmete meine ganze Aufmerksamkeit wieder meinem Telefonat.
„Bitte denk in Ruhe über meinen Vorschlag nach“, bat ich eindringlich und graulte Jad, der mich mit seinen treuen braunen Hundeaugen anschmachtete, zwischen den Ohren. Zufrieden legte er den Kopf auf seine Pfoten und genoss die Streicheleinheit, während ich weitersprach. „Komm einfach her und fang mit mir zusammen neu an.“
„Nein, Jess, dafür ist es zu spät. Aber wir sollten irgendwann noch einmal in Ruhe über alles reden“, erwiderte Jacob müde. „Ich will wissen, was Jim getan hat, dass du gegangen bist. Jede verdammte Einzelheit. Wenn du soweit bist, dass du darüber reden kannst, dann ruf mich wieder an. Inzwischen werde ich diesen Mistkerl von einem Sohn erst einmal enterben.“
„Nein!“, rief ich erschrocken, worauf Jad sofort den Kopf hob und die Ohren spitzte. Außerdem fing ich mir einen sehr interessierten Blick von Coop ein. „Tu das bitte nicht, vor allem nicht meinetwegen!“
„Schon gut, Jess, du musst ihn nicht verteidigen. Jetzt nicht mehr. Ich weiß, dass du ihn wirklich geliebt hast. Aber es ist so vieles schiefgelaufen. Er war deiner nicht wert. Und ich bin es langsam leid, ihm immer wieder die alten Fehler zu verzeihen.“
„Du weißt es, nicht wahr?“, fragte ich in banger Erwartung.
„Von seiner verdammten Spielsucht? Ich wusste es lange Zeit nicht, habe nur so etwas geahnt, aber immer wieder die Augen verschlossen. Man will als Vater manche Dinge einfach nicht wahrhaben.“
„Es war nicht nur das“, sagte ich leise. „Da war noch mehr...“
„Der Teufel soll ihn holen!“, fluchte Jacob am anderen Ende der Leitung.
„Lass gut sein“, bat ich erschöpft. „Vielleicht war es eine Art Vorsehung, wie alles gekommen ist. Besser, als wenn ich all das erst erfahren hätte, als es zu spät gewesen wäre.“
Der alte Mann seufzte tief.
„Ich weiß, das klingt jetzt egoistisch, Jess, aber ich wünschte, ihr beide wärt bereits verheiratet gewesen. Dann würde dir alles gehören, woran mir etwas liegt, das Haus, die Praxis…“
„Es würde uns beiden gehören, ihm und mir“, korrigierte ich und graulte Jad nebenbei weiter. „Und er hätte früher oder später alles verkauft, um seine Schulden zu bezahlen. Das weißt du genau.“
Es war ein paar Sekunden still in der Leitung, und ich konnte Jacob O`Neill erneut vor meinem geistigen Auge sehen, wie er einsam dasaß, sich durch die ergrauten Haare strich und bedauernd den Kopf schüttelte.
Ich hatte ihn vom ersten Augenblick gemocht, den alten, freundlichen Griesgram mit dem guten Herzen, und ich würde ihn immer lieben. Aber jetzt musste ich meinen eigenen Weg gehen.
Als hätte er meine Gedanken gespürt, erklang seine müde Stimme am anderen Ende:
„Tu, was du tun musst, Jess. Ich bin sicher, du wirst deinen Weg finden. Und solltest du je meine Hilfe brauchen, dann ruf mich an. Ich werde immer für dich da sein, solange es in meiner Macht steht.“
„Danke, das weiß ich doch.“ Ich schluckte gerührt und blickte auf Jad, der so unendlich zufrieden zu meinen Füßen lag. „Schade, dass du ihn jetzt nicht sehen kannst.“
„Wen?“, fragte Jacob irritiert.
„Meinen Freund Jad.“
Als dieser seinen Namen hörte, hob er sofort den Kopf und lauschte. Ich blinzelte ihm zu und lächelte versonnen. „Er ist der schönste und klügste Polizeihund, der mir je begegnet ist.“
Als hätte er jedes Wort verstanden, erhob sich Jad und bettete in stiller Dankbarkeit und Ergebenheit seinen Kopf auf meine Knie.
Jacob schnaufte am anderen Ende der Leitung.
„Dich lieben doch alle Viecher!“, grummelte er gutmütig. „Und ich kann sie gut verstehen. Du bist wie ich – diesem Beruf verfallen!“ Er lachte, und ich konnte nicht anders, als in sein Lachen einzustimmen, obwohl mir eigentlich gar nicht danach zumute war. Jad rollte sich mit einem kurzen, einvernehmlichen Laut erneut zu meinen Füßen zusammen.
„Bitte pass auf dich auf, Doc!“
„Leb wohl, mein Mädchen!“
Ein Knacken in der Leitung, und wir waren getrennt.
Das Handy in der Hand starrte ich einen Moment lang still vor mich hin und versuchte mich zu sammeln. Hätte ich mich bewegt, hätte ich erneut hemmungslos losgeheult.
Irgendwann fiel mir jedoch wieder ein, dass ich nicht allein war.
Jad lag noch immer zu meinen Füßen und döste vor sich hin, während Cooper in seiner Piloten-Montur nach wie vor am Küchentresen lehnte und zu mir herüber sah.
„Dein Verflossener?“, fragte er über den Rand der Tasse hinweg, als er meinen Blick bemerkte.
„Nein, mein ehemaliger Chef.“
„Du willst, dass er herkommt?“
Ich nickte, ging zu ihm hinüber und goss den inzwischen lauwarmen Rest aus der Teekanne in meine Tasse.
„Ja, er arbeitet schon über vierzig Jahre als Tierarzt Er lebt für seinen Beruf. Und er ist ein guter Mensch.“
„Aber?“
„Er glaubt, er ist zu alt für einen Neuanfang. Und sicher hat er Recht, auch wenn ich mir das momentan nicht eingestehen möchte. Aber vermutlich wäre er hier nicht glücklich. Irland ist seine Heimat.“
Coop nickte nachdenklich.
„Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“
Erstaunt blickte ich ihn an.
„Genau das hat er vorhin auch gesagt.“
„Dann lass es dabei.“
Ich nahm meine Tasse zwischen beide Hände und lehnte mich neben ihn an den Tresen.
„Ich hatte wirklich gedacht, ich wäre dort zu Hause. Für immer.“
„Tja, manchmal kommt es eben anders, als man denkt. Ich glaube, ihr Frauen nennt so etwas Schicksal.“
Ich schnaufte verächtlich.
„Mit Schicksal hatte das nun wirklich nichts zu tun.“
„Womit dann?“
´mit Lügen, Betrug und Selbstbetrug´, dachte ich wütend, laut aber sagte ich nur: „Lassen wir das Thema. Heute wurde genug auf meinen Nerven herumgetrampelt.“
„Auf deinen Nerven?“ Cooper warf mir einen vielsagenden Blick zu und deutete auf die Tür in Richtung meines Bereitschaftszimmers. „Wohl vielmehr auf deinen Sachen!“
Ich atmete tief durch, um den Frust tief in meinem Inneren etwas abzubauen.
„Ja, auf denen auch. Vor allem auf denen.“
„Sie sagen, du hast Butch gefunden.“
„Das war Curt. Er hat ihn entdeckt. Eine großartige Spürnase.“
„Dafür wurde er ausgebildet.“
Er schwieg einen Augenblick und sah mich prüfend von der Seite an. „Hast du eine Ahnung, wer die Kerle waren, und was sie ausgerechnet in deiner Bude wollten? Offensichtlich haben die nach irgendetwas Bestimmten gesucht.“
Müde hob ich die Schultern.
„Ich weiß nicht. In meinem Besitz befindet sich nichts, wofür es sich lohnt, so einen Aufstand zu machen. Genau genommen habe ich nun gar nichts mehr.“
„Und warum hast du ausgerechnet deinen ehemaligen Chef angerufen?“, bohrte er scheinbar unbeeindruckt weiter.
„Weil es mir gutgetan hat, mit ihm zu reden“, rechtfertigte ich mich ungehalten, besann mich dann jedoch und lächelte in Erinnerung an mein Gespräch mit Jacob wehmütig. „Er ist Jims Vater, und das war er inzwischen irgendwie auch für mich. Der Vater, den ich nie hatte.“
Erneut bemerkte ich Coopers ungläubigen Blick und versuchte, das Gespräch, das langsam zu einem Verhör wurde, endgültig von mir weg in eine andere Richtung zu lenken.
„Was ist mit deinem Vater?“, fragte ich deshalb.
„Mein alter Herr?“ Er lachte verächtlich. „Willst du das wirklich wissen?“
„Klar, sonst hätte ich nicht gefragt.“
Cooper nahm einen Schluck Tee und schüttelte den Kopf.
„Ihn kann keiner verpflanzen, denn er hat nirgends wirklich Wurzeln geschlagen.“
„Das klingt, als stündet ihr euch nicht besonders nahe.“
„Kann man so nicht sagen. Er hat mich gezeugt und mit seinem vielen Geld am Leben erhalten. Viel mehr gibt es nicht über ihn zu berichten.“
„Und deine Mutter?“
Cooper schüttelte den Kopf.
„Falsches Thema, Doc!“
„Wo ist dein Vater heute?“, fragte ich trotzdem weiter.
„Soweit ich weiß, lebt er mit seiner derzeitigen Frau in Südafrika. Unser Kontakt beschränkt sich auf eine jährliche Weihnachtskarte von seiner Seite.“
„Dann habe ich dir etwas voraus“, erwiderte ich mit bitterem Lächeln. „Meine Mutter ruft mich zumindest noch jedes Jahr an meinem Geburtstag an. Wenn sie etwas getrunken hat, erzählt sie mir, wie schmerzvoll meine Geburt für sie war, und wenn sie nüchtern ist, muss ich mir endlose Vorwürfe darüber anhören, dass ich mich so selten bei ihr melde. Als ob sie darauf jemals wirklich Wert gelegt hätte!“
„Und dein Vater?“
„Er hat uns verlassen, kurz nachdem mein jüngerer Bruder zur Welt kam. Ich habe schon ewig keinen Kontakt mehr zu ihm.“
Coop musterte mich stumm von der Seite, dann trank er seinen Tee aus und stellte die Tasse in die Spüle.
„Da sind wir nun, zwei vom Leben gezeichnete Seelen.“
Auf Grund dieser ungewohnt theatralisch klingenden Worte aus seinem Munde drehte ich mich erstaunt nach ihm um. Ich sah, dass er von einem Ohr zum anderen grinste und musste lachen.
„Man sieht dir nicht an, dass dir irgendwas gefehlt hat.“
„Und du?“, erwiderte er mit seinem berühmt-berüchtigten herausfordernden Blick. „Was fehlt dir?“
„Frische Luft“, erwiderte ich eilig, stellte die Tasse weg und ging zielstrebig zur Tür. „Nach allem, was heute hier passiert ist, brauche ich dringend etwas Sauerstoff.“
Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte, durchquerte er das Zimmer und versperrte mir, die Hand auf der Türklinke, den Ausgang. Dabei kam sein Gesicht meinem ganz nah, und der tiefe Blick aus seinen dunklen Augen erinnerte mich nur zu gut an gestern Nacht.
„Coop, w-was soll das?“, stotterte ich verunsichert.
Jad war ebenfalls aufgesprungen und kam in freudiger Erwartung eines spätabendlichen Spazierganges schweifwedelnd näher.
„Du willst an die Luft?“, fragte Dean und hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.
„Ja, ich halte es hier drin nicht länger aus, sonst werde ich verrückt.“
„Hast du, seitdem du hier bist, eigentlich schon etwas von der Umgebung gesehen?“
„Nein, so richtig nicht. Ich war in Venice und Santa Monica, aber zu mehr hatte ich bisher noch keine Gelegenheit.“
Er öffnete die Tür und wies nach draußen.
„Dann komm mit, ich zeige dir ein Stück der großen Freiheit!“
„Warte mal… was hast du vor?“
„Ich bringe dich hier weg.“
„Wohin?“
„Du schläfst heute Nacht bei mir.“
„Waaas?“ Sofort wich ich einen Schritt zurück, worauf er beschwörend beide Hände hob.
„Nun krieg dich wieder ein, ich habe gesagt, bei mir, nicht mit mir! Ich hatte an das Gästezimmer gedacht. Wenn du natürlich unbedingt in meinem Bett…“
„Lass gut sein, ich habe verstanden“, knurrte ich, leicht verärgert über meine, aber auch seine Reaktion. „Und wo genau ist dieses Gästezimmer? Ich hoffe, du sprichst nicht von der Decke, auf der Jad sonst schlafen darf, wenn ihr beide irgendwo am Straßenrand campiert!“
„Hörst du das, Jad? Sie will unbedingt deine Decke haben“, wandte sich Coop an seinen Partner. Der sah abwartend von einem zum anderen und bellte dann einmal kurz wie zur Bestätigung.
Cooper grinste.
„Er sagt, es ist okay, er teilt sie mit dir. Bist du jetzt zufrieden?“
„Aber klar! Mit Jad schlafe ich doch gern unter einer Decke!“, schoss ich zurück und graulte den Vierbeiner zwischen den Ohren. „Aber nur, wenn du nicht schnarchst.“
„Doch, das tut er. Er schnarcht wie ein Sägewerk!“
„Dann hört man ihn wenigstens und fällt auf dem Fußweg nicht über ihn drüber!“
„Jetzt geht das wieder los…!“
Jad schien zu ahnen, dass sich der Spaziergang angesichts unserer kleinen Plänkelei nun doch verzögern könnte und gab ein herzerweichendes Fiepen von sich, bevor er sich seinem Schicksal ergab, indem er sich erneut auf dem Fußboden ausstreckte und die Schnauze auf die Pfoten legte.
„Siehst du, nun ist er beleidigt.“
„Ich war das nicht. Du hast angefangen.“
„Wer hat behauptet, Jad würde schnarchen? Ich nicht. Würde ich niemals tun! Ich liebe diese Fellnase!“
„Hast du das mitbekommen, Partner? Sieh dich vor…“
„Bist du etwa eifersüchtig, Cooper?“
Er schüttelte nur grinsend den Kopf und deutete mit einer übertriebenen Geste auf die Tür.
„Können wir dann jetzt?“
„Wuff!“ Jad sprang auf die Pfoten und zeigte sich sehr einverstanden.
„Und wohin nun genau?“, erkundigte ich mich noch einmal vorsichtig.
„Lass dich überraschen. Und vergiss nicht, die Tür hinter uns abzuschließen, Doc, damit nicht noch mehr ungebetene Gäste hier auftauchen.“
Ich schnappte mir kurzentschlossen mein Handy, die kleine Umhängetasche mit dem Geld, der Scheckkarte, den Wagenschlüsseln und den Papieren und ließ die Praxistür hinter mir zuschnappen, bevor ich den beiden folgte.
In meinem Zimmer war noch immer die Spurensicherung beschäftigt. Sollten sie wühlen, untersuchen und tun, was sie tun mussten, es war mir inzwischen egal. Ich wollte sowieso nichts von den Sachen wiederhaben. Außer meinem Laptop vielleicht, aber der musste ohnehin erst repariert werden, falls das überhaupt möglich war.
Ich hielt im Vorübergehen Ausschau nach Tyler, konnte ihn jedoch nirgends entdecken.
„Der Tierdoktor übernachtet erst einmal bei Jad“, erklärte Cooper dem Ermittler, der sich mit zwei Polizisten unten am Eingang unterhielt, und dessen Namen ich bereits wieder vergessen hatte.
„Ich hoffe, er steckt mich nicht in den Hundezwinger“, grummelte ich im Vorübergehen, was die drei glatt zum Lachen brachte.
„Alles Gute, Miss!“, meinte der Detective freundlich. „Und immer positiv denken!“
„Aber klar doch“, erwiderte ich, und plötzlich wurde mir bewusst, dass, seitdem Cooper hier aufgetaucht war, die Welt um mich herum gar nicht mehr so düster und hoffnungslos schien, wie noch vor ein paar Stunden. „Grüßen Sie Ihre Tochter von mir“, rief ich dem Detective noch zu, bevor ich Cooper und Jad nach draußen folgte.
Der auffrischende Nachtwind fuhr mir durch mein Haar, hüllte mich ein und kühlte meine heiße Stirn. Langsam und ganz vorsichtig wagte sich die Optimistin in mir wieder zum Vorschein.
Es würde schon irgendwie weitergehen.
So wie immer…