5. Ein neuer Tag im Paradies
Von irgendeinem undefinierbaren Geräusch wachte ich auf und sah mich einige Sekunden lang irritiert um.
Wo zum Geier war ich?
Die Erkenntnis kam, als ich das Pin-up-Girl an der Badezimmertür erblickte. Na klar, Officer Tom Cruise Junior alias Tyler Lockwood hatte mich quasi unter Polizeischutz gestellt, mir liebenswürdigerweise sein Sofa überlassen und mich damit vor einer Nacht unter freiem Himmel bewahrt.
Ich schwang die Beine unter der Decke hervor und streckte mich.
Zugegeben, das Sofa war wirklich alles andere als unbequem, denn ich hatte tief und traumlos geschlafen. Vielleicht lag das aber auch einfach an den Strapazen und der Aufregung des letzten Tages, dass ich derart ungebremst ins Traumland geschlittert war, kaum dass mein Kopf das Kissen berührt hatte.
In der Wohnung war alles still. Vermutlich erholte sich Tyler von seiner gestrigen Doppelschicht und schlief noch.
Ich beschloss, die Zeit für eine ausgiebige Dusche zu nutzen. Blieb zu hoffen, dass sich irgendwo im Bad ein benutzbares Handtuch befand.
„Du gestattest?“, grinste ich das nackte Girlie auf dem Poster scherzhaft an und schlüpfte durch die Tür. Ah, wunderbar, Tyler hatte mir tatsächlich ein frisches Badetuch direkt auf den Hocker neben der Dusche gelegt. Wirklich sehr umsichtig!
Also entledigte ich mich eilig meines Slips und des übergroßen Shirts, welches mir mein Gastgeber zusammen mit dem Sofa für die Nacht überlassen hatte, und wollte voller Vorfreude auf eine heiße Dusche den Vorhang zurückschieben, als dieser sich plötzlich ganz von allein bewegte…
Zu Tode erschrocken schrie ich auf.
Mein Gegenüber schrie nicht, guckte aber mindestens ebenso dumm wie ich.
Instinktiv riss ich das bereitliegende Handtuch an mich und hielt es schützend vor meinen nackten Körper.
„She She She… Shemar…“
Normalerweise bin ich absolut nicht prüde und habe auch schon mehr als einmal mit einem unbekleideten Mann die Ehre gehabt, aber wenn man völlig unvorbereitet solch einem splitterfasernackten Adonis gegenübersteht, noch dazu einem aus Schokolade, dann ist das schon irgendwie ein Kulturschock.
Wir starrten einander ziemlich einfältig an.
„Verdammt nochmal, Ty sollte mir doch Bescheid geben, wenn eine seiner Freundinnen bei ihm übernachtet“, brachte Shemar schließlich hervor und trat aus der Dusche, ohne jedoch die geringsten Anstalten zu machen, seine Blöße zu verdecken. Männer…
„Ich bin aber nicht eine seiner Freundinnen!“, erwiderte ich eilig, die Augen stur auf seine Nasenspitze gerichtet.
„Wer zum Geier bist du dann? Und woher kennst du meinen Namen?“
„W-wir haben uns gestern am Strand getroffen, erinnerst du dich? D-du warst mit Tyler dienstlich unterwegs.“
Er überlegte einen Augenblick, dann zog ein breites Grinsen über sein Gesicht.
„Natürlich! Das Mädchen vom Strand! Du warst grantig, weil wir dich mit Ma`m angesprochen haben! Allerdings, du… hattest etwas mehr an, deshalb habe ich dich nicht gleich erkannt!“ Er besann sich einen Augenblick und zog dann irritiert die Brauen zusammen. „Und was tust du jetzt hier?“
„Ich wollte duschen“, entfuhr es mir, bevor ich den tieferen Sinn seiner Frage begriffen hatte. „Ja, also, d-das ist etwas kompliziert. Tom… ähm, ich meine Tyler hatte Dienstschluss, und ich stand auf dem Pier und hatte keine Unterkunft. Und da…“
„…hat er dir sein Bett angeboten!“, ergänzte Shemar und verschränkte ungeniert grinsend die Arme über der Brust.
„Das Sofa“, beeilte ich mich zu sagen und wies eindringlich nach draußen, wobei mir das Badetuch fast entglitten wäre. „I -ich habe auf dem Sofa geschlafen.“
„Na sowas aber auch! Da habe ich dich doch vorhin glatt übersehen!“
„Ich hatte mich in die Decke eingerollt und war so gut wie unsichtbar.“
„Ty muss dich wirklich mögen“, sinnierte mein nacktes Gegenüber nachdenklich.
„Wie kommst du darauf?“, fragte ich leicht irritiert. „Nur, weil er mir sein Sofa angeboten hat, heißt das doch noch lange nicht, dass er mich mag!“
Er grinste erneut von einem Ohr zum anderen.
„Normalerweise übernachtet kein hübsches Mädchen, das er mit nach Hause bringt, auf dem Sofa!“
„W-wie wäre es, w-wenn du dir erstmal etwas a-anziehen würdest?“, stotterte ich nervös, da ich Angst hatte, meine Augen würden entgegen meinem Willen letztlich doch nach unten wandern.
Sein Grinsen wurde noch breiter.
„Geht nicht. Du hast mein Handtuch.“
„Oh… d-dann gehe ich jetzt d-duschen, und d-du… na du weißt schon…“
Ich huschte hastig an ihm vorbei, verschwand blitzschnell hinter dem Vorhang und reichte ihm das Handtuch dahinter hervor.
„Kannst du mir bitte ein Neues hinlegen?“
„Aber sicher.“ Ich konnte an seiner Stimme ganz deutlich hören, dass er immer noch grinste. „Dann werde ich mir mal was anziehen und den Wohltäter aus den Federn trommeln! Beeil dich, gleich gibt`s Frühstück! Das solltest du dir nicht entgehen lassen!“
Ich lehnte mich erschöpft an die feuchte Wand der winzigen Duschkabine und atmete erleichtert auf, als ich hörte, wie die Badezimmertür geschlossen wurde.
Dann drehte ich den altmodischen Hahn auf, und angenehm warmes Wasser prasselte auf meine Haut, die von dem gestrigen Sonnenbad an Armen und Beinen schon leicht gerötet war. Unter dem Wasserstrahl fiel für einen Moment alle Anspannung von mir ab, und ich musste plötzlich über diese urkomische Begegnung mit Officer Shemar lachen.
Es war wirklich eine ziemlich groteske Situation gewesen…
Mein Gott, wenn er mich jetzt sehen könnte… nackt unter der Dusche in der Wohnung zweier Kerle, die ich gestern nach meiner Flucht zufällig kennengelernt hatte.
Aber er sah mich nicht, und es war mir auch egal, was er darüber denken würde.
Es musste mir einfach egal sein.
Gedankenversunken massierte ich meine Kopfhaut, nachdem ich etwas Shampoo darauf verteilt hatte, als mich plötzlich eine eiskalte Dusche abrupt in die Gegenwart zurückholte und mir ungewollt einen spitzen Schrei entlockte. Verdammt, war das kalt!
Hektisch drehte ich an dem quietschenden Wasserhahn, doch das Wasser blieb arktisch.
Kurz darauf hörte ich, wie die Badezimmertür aufgerissen wurde.
„Alles okay bei dir?“, hörte ich Tylers besorgte Stimme.
„Das W-Wasser… es ist eiskalt“, erklärte ich mit vor Kälte aufeinanderschlagenden Zähnen hinter meinem schützenden Vorhang.
„Sorry Jess, Shemar hat wohl vorhin etwas zu lange geduscht“, rief mein Gastgeber in derart sorglosem Tonfall, als sei eiskaltes Wasser das Normalste der Welt. „Der Boiler schafft nur eine begrenzte Literzahl. Dreh einfach den Hahn zu und warte ein paar Minuten.“
Ich hörte, wie die Tür wieder geschlossen wurde und langte zitternd nach dem Badetuch. Kalt zu duschen wäre für mich ja notfalls noch machbar gewesen, aber für den Seifenschaum auf dem Kopf hätte ich schon gern noch etwas Wärme. Also wickelte ich mich in das flauschige Tuch, lehnte mich an die Wand der Duschkabine und wartete, während meine Gedanken sofort wieder in unerwünschte Richtung abdrifteten.
Was hatte er wohl inzwischen getan? Vermutlich war er auf der Suche nach mir, zuerst bei Freunden und dann natürlich in der Praxis seines Vaters. Sicher glaubte er, dass ich mich heulend und schmollend irgendwo in den heiligen Gefilden seines alten Herrn verkrochen hatte. Nachdem er mich dort vergeblich suchte, hatte er vielleicht den naheliegenden Flughafen in Kerry und danach den in Dublin angerufen und sich nach mir erkundigt, in der Annahme, ich sei nach Deutschland geflogen. Danach jedoch war seine Fantasie, was meinen Verbleib betraf, höchstwahrscheinlich erschöpft, denn er würde niemals auch nur annähernd auf den Gedanken kommen, dass ich mich inzwischen tausende Meilen entfernt in den Staaten aufhielt.
Oh, Doc O`Neill würde ihm gehörig die Hölle heiß machen, wenn er erfuhr, dass ich weg war. Vor allem, wenn er herausbekam, aus welchem Grund ich mich aus dem Staub gemacht hatte. Früher oder später würde er es erfahren, er war ja nicht dämlich. Und wenn ihm erst einmal klar war, dass sein einziger Sohn, den er ohnehin schon immer für missraten gehalten hatte, die Schuld daran trug, wenn sein schöner Plan, die Praxis und seinen wohlverdienten Ruhestand betreffend, nun den Bach runterging, konnte Jim sich mit Sicherheit von seinem Erbe verabschieden. Geschah ihm nur Recht, dem Mistkerl! Warum hatte er mich mit diesem Flittchen betrogen! Hatte er tatsächlich geglaubt, ich würde nie erfahren, dass er bereits wer weiß wie lange mit dieser Schlange herummachte? Dachte er am Ende sogar, nach der Hochzeit würde alles so weitergehen wie bisher? Allein bei dem Gedanken daran wurde mir übel, und im Grunde meines Herzens konnte ich dieser Frau dankbar sein, dass sie mir die Augen über meinen zukünftigen Ehemann geöffnet hatte, bevor es zu spät war. Allerdings war das nicht die einzige Sache, die er verbockt hatte. Da gab es leider noch ganz andere Dinge…
Zugegeben, es tat weh, an Jim zu denken und zu wissen, wie schändlich er unsere Liebe mit Füßen getreten hatte. Ich hatte ihn wirklich geliebt und geglaubt, mein Leben mit ihm gemeinsam zu verbringen, so, wie wir das in den letzten Monaten schon getan hatten. Und ich bin nach wie vor sicher, dass auch er etwas für mich empfunden hatte. Kein Mensch konnte sich derart verstellen. Ich hätte es gespürt, wenn er mir die ganze Zeit über nur vorgespielt hätte, dass er mich liebte. Aber spielen konnte er ohnehin gut, spielen und - verspielen! Doch trotz allem hätte es funktionieren können…
Nun ja, wie hatte der Obdachlose es so treffend formuliert? „Hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen gehabt.“ Hätte hätte…
Okay, wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann würde ich mir eingestehen müssen, dass Jims Aufmerksamkeit mir gegenüber in letzter Zeit ziemlich nachgelassen hatte. Allerdings schob ich das in erster Linie auf den Prüfungsstress, den ich in den vergangenen Wochen vor meiner Approbation zu bewältigen gehabt hatte. Aber anstatt mir wie ein liebender Partner den Rücken zu stärken, damit ich mein jahrelanges Studium, das wahrlich kein Zuckerschlecken gewesen war, zu einem bestmöglichen Abschluss bringen konnte, hatte er nichts Besseres zu tun gehabt, als mit der Tochter des Bürgermeisters, diesem intriganten Miststück, in die Kiste zu springen. Igitt…
Ich schüttelte mich und drehte vorsichtig an dem Wasserhahn, aus dem sich – oh Wunder - ein Schwall herrlich warmen Wassers ergoss. Schnell warf ich das Badetuch beiseite und sprang unter den wärmenden Strahl, in der Hoffnung, die Wasserflut würde mit dem Seifenschaum auch alle trüben Gedanken einfach aus meinem Kopf heraus durch den Ausguss spülen.
Als ich eine halbe Stunde später aus der Dusche kam, erwarteten mich meine beiden Gastgeber bereits zum Frühstück. Ich trug wieder Tys Shirt und schlüpfte hastig in meine Jeans, die über der Sofalehne hing, bevor ich mich zu ihnen an den kleinen Tresen neben der winzigen Küchenzeile gesellte. Shemar, inzwischen vollständig bekleidet mit Achselshirt und Shorts, hantierte an der Kaffeemaschine herum, während Tyler in ähnlich lässigem Outfit und struppigen Haaren emsig damit beschäftigt war, frische Pencakes zuzubereiten. Über die Schulter hinweg zwinkerte er mir aufmunternd zu. „Na, Vogel der Nacht, gut geschlafen? Shemar kennst du ja bereits, ich brauche euch also einander nicht mehr vorzustellen!“
„Nein, brauchst du nicht“, erwiderte der mit demselben verschmitzten Grinsen wie vorhin im Badezimmer. „Wir kennen uns mit und ohne Klamotten, das sollte fürs Erste reichen.“
Mittlerweile konnte ich über den Vorfall ebenfalls herzlich lachen.
„Alles gut. Du hast übrigens nicht zu viel versprochen, was dein Sofa betrifft. Ich habe wunderbar geschlafen.“
„Sag ich doch. Das alte Ding ist bequemer als es aussieht.“
Einträchtig saßen wir in der kleinen Wohnung beim Frühstück. Nichts deutete darauf hin, dass wir uns vor achtundvierzig Stunden noch nicht einmal gekannt hatten.
Während wir den heißen Kaffee schlürften und uns hungrig über die wirklich guten Pencakes mit Ahornsirup hermachten, erzählte Tyler Shemar, wie es dazu gekommen war, dass ich die Nacht auf der Couch verbracht hatte.
„Hat ein wenig Pech gehabt, unsere kleine Nachteule“, unkte er mit einem erneuten Augenzwinkern. „Kein einziges Hotelzimmer frei, wie das in Santa Monica während der Saison so üblich ist. Und zwischendurch ist sie dann noch mitten in der Stadt über irgendeinen Penner gestolpert und hat sich das Knie lädiert.“
„Waaas?“ Über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg glotzte Shemar mich ungläubig an. „Das ist jetzt ein Scherz, oder?“
„Schieb die Augen zurück in die Höhlen, Officer!“, erwiderte ich und spürte, wie die Erinnerung an dieses dumme Missgeschick den Ärger erneut in mir entfachte. „Was kann ich dafür, wenn der Typ seine Stelzen so weit auf den Gehweg streckt.“
„Hatte er Beine von zwei Meter achtzig?“
Wider Willen musste ich lachen.
„Na gut, ehrlich gesagt war ich auch nicht ganz unschuldig an der Sache. Ich habe in einer Broschüre geblättert und bin vielleicht etwas hastig um die Ecke gebogen.“
„Und da lag er, lang ausgestreckt.“
„Ein wirklich unhöflicher, patziger Kerl. Aber er hatte einen schönen Schäferhund dabei, den habe ich verarztet, weil er sich eine Glasscherbe eingetreten hatte.“
Shemar schob scheinbar beeindruckt die Unterlippe vor.
„Wow… Er bringt dich zu Fall, und du verarztest seinen Hund! Wirklich nobel, Kleine!“
„Dabei fällt mir ein, was bist du nun eigentlich wirklich von Beruf?“, erkundigte sich Tyler in Anlehnung an seine gestrige Frage, während er die nächsten Pencakes in der Pfanne wendete, indem er sie lässig nach oben katapultierte und gekonnt wieder auffing.
„Tierärztin“, erwiderte ich ebenso beiläufig und erntete die Reaktion, die ich irgendwie erwartet hatte. Ty ließ fast die Pfanne fallen, und Shemar verschluckte sich an dem Bissen, den er eben in den Mund geschoben hatte.
„Tierärztin? Also sozusagen… `n Doc für Vierbeiner?“
„Nicht nur“, grinste ich und nahm einen Schluck Kaffee. „Wenn es sein muss, behandle ich auch Geflügel.“
Tyler stellte irritiert die Pfanne ab.
„Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“, fragte er, und ich konnte förmlich in seinem Gesicht lesen, wie er nachrechnete. „Für so einen Abschluss muss man immerhin einige Jahre studieren!“
„Nun hör sich einer den Schlauberger an“, wandte ich mich grinsend an Shemar, der sich langsam von seinem Hustenanfall erholte. „Gestern spricht er mich in aller Öffentlichkeit mit „Ma`m“ an, und heute bezweifelt er, dass ich schon aus dem Kindergarten raus bin!“
„Na ja“, verteidigte sich Ty kopfschüttelnd. „Wie du inzwischen weißt, war die „Ma`m“ ein offenkundiger Anmachversuch, der leider etwas schiefgegangen ist. Aber für sooo alt hätte ich dich nun wirklich noch nicht gehalten!“
„Für wie alt?“, fragte ich lauernd.
„Uuh…“, ließ sich Shemar mit verhaltenem Lachen und immer noch röchelnd vom anderen Ende des Tresens vernehmen. „Sag jetzt bloß nichts Unüberlegtes, Kumpel!“
Ty grinste von einem Ohr zum anderen.
„Okay… hast du`nen Freund, Doc?“
Scheinbar unbeeindruckt kaute ich weiter auf meinem Pancake und wies dabei auf Shemar.
„Hast du nicht zugehört? Er meinte eben, du sollst nichts Unüberlegtes sagen!“
„Ich habe mir jedes Wort wohl überlegt!“
„Wenn ich einen Freund hätte, dann wäre ich sicher nicht ganz allein hierher gereist.“
„Auch wieder wahr“, gab er nachdenklich zu. „Trotzdem, du warst gestern echt durch den Wind, deshalb vermute ich, dass du bis vor kurzem noch einen hattest.“
Ich konnte förmlich spüren, wie sich meine Gesichtszüge verhärteten.
„Lass gut sein, Ty. Wir reden später, okay?“
Die beiden Freunde wechselten einen kurzen, bedeutungsvollen Blick miteinander, dann erhob sich Shemar und stellte seinen Teller in die Spüle.
„Ich muss los, die Pflicht ruft. Wenn du möchtest, suche ich die Anschrift von deinen Leuten in den Mountains nachher aus dem Polizeicomputer. Schreib mir nur die Namen auf.“
Sofort langte ich nach Zettel und Stift und notierte das Gewünschte.
„Bekommst du auch keinen Ärger, wenn du im Dienstcomputer ermittelst?“
„Muss ja niemand wissen“, erwiderte er augenzwinkernd. „Ich melde mich, sobald ich die Adresse habe. Ty hat heute frei. In ein paar Stunden kann er dich hinfahren.“ Er trat auf mich zu und umarmte mich spontan. „Alles Gute, Jess! Lass dich nicht unterkriegen! Und vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder!“
Während Shemar sich wenig später auf den Weg zur Arbeit machte, wo er sich - ganz nebenbei – auch um die Adresse der Jennings-Farm kümmern wollte, fuhr Tyler an seinem freien Tag mit mir zum Flughafen, um mein Gepäck aus dem Schließfach abzuholen und fürs Erste in seiner Wohnung abzustellen. Endlich hatte ich Gelegenheit, mein Handy aufzuladen, frische Klamotten anzuziehen und mich ein wenig herzurichten, während mein Gastgeber noch zum nächsten Supermarkt fuhr, um den Kühlschrank ein wenig aufzufüllen.
Später lud ich ihn kurzerhand in die Stadt zum Essen ein, sozusagen als Dankeschön für seine selbstlose Hilfe. Unterwegs kauften wir eine Sim-Karte für mein Handy, denn ich wollte endlich Caiti und meinen Bruder in Deutschland anrufen, bevor die beiden noch damit beginnen würden, sich Sorgen um meinen Verbleib zu machen.
Auf unserem Weg zu dem Restaurant, das Tyler vorgeschlagen hatte, kamen wir an der Stelle meines kleinen Unfalls vorbei.
„Hinter dieser Ecke dort hat er gesessen“, erklärte ich Ty in Erinnerung an meinen Freiflug.
„Wer?“, fragte Ty zunächst verständnislos, doch Sekunden später nickte er lachend. „Ah ja, verstehe, der Penner mit den zwei Meter langen Beinen!“
Als wir um die Ecke bogen, war der Platz leer.
„Schade“, seufzte ich gedankenverloren, was mir einen erstaunten Blick meines Begleiters einbrachte.
„Schade?“
„Der Schäferhund!“, erklärte ich rasch. „Ich hätte gern gewusst, wie es seiner Pfote inzwischen geht.“
„Mit Sicherheit geht es ihm und seiner Pfote gut“, versuchte Tyler mich zu beruhigen. „Sein Besitzer wird ihn ja wohl kaum von hier weggetragen haben.“
Das kleine italienische Restaurant war nicht weit entfernt von der California State direkt an der 3rd Street und gehörte einem Freund von Ty. Wir ließen uns an einem der Tische im Außenbereich nieder, von wo aus man einen tollen Blick auf die Promenade mit ihren vielen Attraktionen hatte. Jetzt, um die Mittagszeit, waren allerdings noch keine Schausteller und Künstler zu sehen, die würden sich erst gegen Abend einfinden, um vor allem den Touristen ihr Können auf vielfältigste Weise zu präsentieren.
„Ich war kurz nach Caitlins Hochzeit mit ihr und ihrer Tante hier.“ erinnerte ich mich und wies auf den kunstvoll aus Heckenpflanzen zurechtgestutzten, riesigen Dinosaurier, der majestätisch auf einer eigens für ihn angelegten Grünanlage stand und unermüdlich Wasser in den nebenliegenden Brunnen spuckte. „Der Dicke dort drüben war damals auch schon da.“
„Ja, der steht schon ziemlich lange hier herum“, grinste Ty und fuhr sich mit allen fünf Fingern durch sein kurzes, dunkles Haar. Er trug wieder diese TOP GUN Sonnenbrille, die mir gestern schon am Strand aufgefallen war, und die nicht unwesentlich zu der Ähnlichkeit mit seinem berühmten Film-Double beitrug.
„Nimm sie ab“, bat ich nach einer Weile, weil ich immer das Gefühl hatte, er würde mich still beobachten. „Ich sehe gern, mit wem ich mich unterhalte.“
„Die Stars tragen alle solche Dinger“, erwiderte er mit jenem Grinsen, das ihm, wenn er Glück hatte, vielleicht irgendwann zu Weltruhm verhelfen würde.
„Du bist kein Star“, holte ich ihn knallhart auf den Boden der Tatsachen zurück. „Du bist ein Bulle vom LAPD, der zufällig `nem Star ähnlich sieht.“
„Aua. Das war hart!“ Er streckte die Hand nach meinem Handy aus, weil er sah, dass ich mit der neuen Sim-Card nicht zurechtkam. „Na gib schon her, das kann ich besser.“
Widerspruchslos überließ ich es ihm, schnappte mir stattdessen seine Sonnenbrille, lehnte mich zurück und schloss für einen Augenblick die Augen hinter den dunklen Gläsern.
Hier saß ich nun, fast fünftausend Meilen von dem Ort entfernt, der bis vor zwei Tagen mein Zuhause gewesen war. Vor nicht allzu langer Zeit waren es schon einmal knapp eintausend Meilen gewesen, die ich von meiner ursprünglichen Heimat Deutschland aus westwärts gewandert war.
Und nun?
Die Erde war bekanntlich rund, und wenn das mit mir so weiterging, würde ich irgendwann wieder da landen, wo alles begonnen hatte.
Aber wollte ich das?
„Worüber denkst du nach?“, holte Tylers Stimme mich aus meinen Gedanken.
„Über mein Leben.“
„Und… Bist du nicht zufrieden?“
„Ich war zufrieden, zumindest habe ich das eine Zeit lang geglaubt.“
„Sei nicht so pessimistisch, Jess“, ermahnte er mich stirnrunzelnd. „Du bist jung, siehst verdammt gut aus und hast einen tollen Beruf! Apropos, wolltest du eigentlich schon immer Tierärztin werden?“
Ich nickte stumm.
„Irgendwie schon. Ich habe viele Jahre Pferdesport betrieben und mir damit Zeit gelassen, mich beruflich endgültig zu entscheiden. Aber heute weiß ich, dass es der richtige Weg für mich war.“
Während wir auf unser Essen warteten, erzählte ich Tyler von meinem Studium in Deutschland, und wie es dazu gekommen war, dass ich letztlich den Studienplatz in Irland bekommen hatte. „Seit kurzem habe ich meinen Abschluss in der Tasche.“
„Warum bist du nicht geblieben?“
„Das hat nichts mit dem Beruf zu tun. Das hatte rein private Gründe.“
„Über die du noch nicht reden möchtest.“
Ich atmete tief durch.
„Es ist nichts, über das es sich lohnt, zu reden. Ich würde sagen, ich hatte einfach zu viel Vertrauen in den falschen Mann. Soll ja vorkommen. Und wenn ich so über mein Leben nachdenke, ich bewege mich sowieso irgendwie nach und nach immer weiter… westwärts. Aber was auch geschehen mag, ich werde nicht zurückblicken! Und ich werde mich garantiert nie wieder verlieben!“
Tyler sah mich entgeistert an.
„Was sagst du da? Ein Mädchen wie du? He, das wäre nun wirklich Verschwendung! Schau mich an, Baby! Ich bin momentan noch zu haben, und ich bin treu… meistens zumindest.“ Er lehnte sich zurück und grinste. „Na, was ist? Interessiert?“
Lachend nahm ich seine Sonnenbrille ab.
„Was soll ich sagen… Ich habe bei dir übernachtet, meine Koffer stehen in deiner Bude, also Vorsicht, California Dream Boy, ich könnte dich glatt beim Wort nehmen!“
„Aber du tust es nicht, weil du die Nase voll hast von den Kerlen. Darf man fragen, wieso? Hat er dich betrogen?“
Ich seufzte. Irgendwann musste ich darüber reden. Also… warum nicht jetzt?
„Belogen, betrogen, was auch immer. Es gibt mehrere Gründe dafür, weshalb ich so Hals über Kopf aus Irland weg bin.“
„Das dachte ich mir.“ Tyler legte das Handy hin, beugte sich vor und griff nach meiner Hand. „Komm schon, Jess, was ist das für ein Idiot, der eine Frau wie dich einfach so gehen lässt?“
´Der Mann, den ich fast geheiratet hätte!´ gellten die ungesagten Worte in meinen Ohren wider. Ich zog meine Hand weg, als hätte ich mich verbrannt und starrte düster vor mich hin. Sein Name wollte einfach nicht über meine Lippen. Gerade so, als wäre alles endgültig, sobald ich ihn aussprach.
Es war endgültig, verdammt nochmal!
Während ich noch mit mir kämpfte, wurde unser Essen serviert. Erleichtert über die Ablenkung griff ich nach dem Besteck.
„Wir reden nachher, okay?“, beschwichtigte ich Tyler. „Ich muss unbedingt erst meinen Magen beruhigen.“
Tyler erwies sich als durchaus unterhaltsamer Begleiter. Er schien begriffen zu haben, dass es mir noch schwerfiel, über meine Vergangenheit zu sprechen, also übernahm er kurzerhand das Reden, unterhielt mich mit lustigen und spannenden Episoden aus seinem abwechslungsreichen Polizeialltag und schaffte es mit seiner unkomplizierten Art tatsächlich, dass ich für eine Weile meine Misere vergaß, mich entspannt zurücklehnte und über seine Anekdoten herzlich lachen konnte. Dazu schmeckte das Mittagessen einfach köstlich, so dass ich irgendwann absolut satt und zufrieden in meinem Korbsessel saß und die Welt nun aus einem etwas positiveren Blickwinkel betrachtete. Ein voller Bauch und eine nette Unterhaltung, in diesem Augenblick war ich fast überzeugt davon, dass es nun für mich wieder bergauf gehen würde. Zumindest so lange, bis Tylers Diensthandy klingelte.
Seiner ernsten Miene nach zu urteilen musste es sich wohl um einen Notfall handeln.
„Das darf doch nicht wahr sein!“ rief er höchst beunruhigt. „Und wie geht es Hank? Was? Sie müssen ihn rausschneiden? Verdammt… Nein, ich komme auf jeden Fall hin. Ist ein Streifenwagen in der Nähe California State?“ Er lauschte angespannt und nickte dann entschlossen. „Okay, ich bin in einer Minute Ecke 3rd Street, dort könnt ihr mich einsammeln.“ Bereits im Aufstehen begriffen trank er eilig den letzten Schluck aus seinem Wasserglas und warf mir über den Rand hinweg einen bedauernden Blick zu.
„Sorry Jess, ich muss los. Ein Kollege von mir hatte vor ein paar Minuten einen schweren Unfall.“
„Natürlich, kein Problem“, beeilte ich mich zu sagen, denn ich wollte ihn keinesfalls unnötig aufhalten. „Wir sehen uns nachher. Ich warte einfach vor eurer Wohnung.“
Er hastete los und war schon fast am Ausgang, als ihm noch etwas einfiel. Während er zurückeilte, zog er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und reichte ihn mir.
„Hier, nimm. Ich fahre dich dann später zu deiner Farm.“
Gerührt über so viel Vertrauen seinerseits lächelte ich.
„Danke, Ty. Ich hoffe, deinem Kollegen geht es gut.“
Er seufzte mit ernstem Gesicht.
„Das hoffe ich auch.“
Ich blieb noch einen Augenblick lang sitzen und hing meinen Gedanken nach.
Sobald ich die Adresse von Caitlins Großeltern in Erfahrung gebracht hatte, würde Tyler mich dort hinfahren. Und dann? Wie würde es danach weitergehen? Schließlich konnte ich mich nicht ewig bei den Jennings vor Jim und dem Rest der Welt verstecken!
Ich brauchte einen Plan, aber so sehr ich auch darüber nachgrübelte, desto klarer wurde mir, dass ich hier und jetzt an einem Punkt in meinem Leben angekommen war, an dem ich nicht weiterwusste. Spontan fiel mir eine Liedzeile aus einem Song von Peter Maffay ein:
„Im freien Fall durch das gelobte Land, kein Plan B und auch kein Notausgang…“ *
Ja, genauso fühlte ich mich, obwohl ich noch nicht einmal einen richtigen Plan A aufzuweisen hatte, ganz zu schweigen von einem Plan B…. Und genau aus diesem Grund musste ich mir ganz schnell etwas einfallen lassen.
Ich winkte dem Kellner, zahlte und vergaß auch nicht, ein gutes Trinkgeld zu geben. Schließlich war das hier in den Staaten so üblich, und zudem galt mein derzeitiger Gastgeber hier als Stammgast.
Langsam und irgendwie unentschlossen schlenderte ich ein Stück die California State hinunter, besah mir die Auslagen der Geschäfte, ohne mich wirklich für irgendetwas zu interessieren. Schließlich kaufte ich in einer Confiserie eine gute Flasche Wein und eine große Schachtel Konfekt, damit ich die Jennings später nicht mit leeren Händen überraschte. Und überrascht würden sie auf jeden Fall sein, davon war ich überzeugt. Aber ich hatte die beiden älteren Herrschaften so gastfreundlich und herzlich in Erinnerung, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass sie mich einfach wieder wegschicken würden.
Als ich am nächsten Dino-Brunnen vorbeikam, beschloss ich, zunächst erst einmal mein Handy mit der neuen Karte in Betrieb zu nehmen. Ich ließ mich auf dem Brunnenrand nieder und checkte neugierig die inzwischen eingegangenen Anrufe.
Unzählige Anrufversuche einer unbekannten Nummer… Er versuchte mich zu erreichen, von irgendeinem Ersatzhandy aus, denn sein eigenes konnte er nirgends finden. Wie auch? Dieses ach so wertvolle Teil steckte in der hintersten Tasche meines alten Rucksacks.
Ich lächelte bitter. Gestern Nacht war ich drauf und dran gewesen, es einfach vom Pier aus ins Meer zu werfen. Warum ich es nicht getan hatte, wusste ich selbst nicht genau, aber wenn die Zeit reif war, würde ich es entsorgen, ins Wasser oder einfach in den Müll. Ich würde mich davon befreien, genauso, wie ich mich von der schmerzlichen Erinnerung an ihn befreien würde… irgendwann.
Caitlin hatte ebenfalls mehrfach versucht, mich zu erreichen. Ein Blick zur Uhr sagte mir, dass es in Deutschland bereits auf 22 Uhr zuging. Trotzdem überlegte ich diesmal nicht lange, sondern wählte spontan die Nummer meiner besten Freundin und atmete erleichtert auf, als ich kurz darauf ihre vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung hörte.
„Hallo?“
„Hi Caiti!“
„Jess!!! Wo zum Teufel hast du denn gesteckt? Warum ist dein Handy die ganze Zeit aus?“
„Ich …ähm… ich bin verreist. Es kam alles ganz überraschend…“ Zumindest bis hier hatte ich die Wahrheit gesagt. „Mein Chef hatte zusammen mit einem Amtskollegen eine kurzfristige Einladung zu einem Veterinär-Kongress im Ausland. Der Kollege hat aber im letzten Augenblick abgesagt, und so durfte ich Doc O`Neill begleiten. Natürlich hatte ich in der Eile ganz vergessen, mein Handy entsprechend umzustellen.“
Ich hörte sie lachen.
„Jess… chaotisch wie eh und je!“
Sie hatte es geschluckt! Erleichtert atmete ich tief durch. Es gefiel mir nicht, sie anlügen zu müssen, aber das hier fiel eindeutig unter die Kategorie „Notwendige Notlüge zum Selbstschutz“. Ich wollte einfach nicht, dass sich momentan irgendwer um mich Sorgen machen musste, außer natürlich dem Menschen, der diese ganze Misere verschuldet hatte.
„Und wo ist dieser Kongress?“ hakte Caitlin nach und holte mich aus meinen Gedanken.
„In… ähm… L.A.“
„L.A?“ rief sie völlig überrascht. „Du bist in L.A?“
„Ja. Wir wohnen in einem der Airport-Hotels.“
„Wie lange geht der Kongress?“
Ich sah meine beste Freundin bereits mit gepacktem Koffer zum Flughafen eilen, ins nächste Flugzeug springen und rechnete in Sekundenschnelle.
„Drei Tage. Nur drei Tage, Cait. Es lohnt nicht, wenn du extra herfliegst.“
„Kann ich auch gar nicht“, erwiderte sie prompt, mit nicht zu überhörendem Bedauern in der Stimme. „Damon hat die Windpocken, und ich befürchte fast, dass Chris sich bei ihm angesteckt hat. David hat sich ein paar Tage freigenommen und betreut die beiden, damit ich die Praxis nicht schließen muss.“ Sie lachte. „Er ist jetzt schon total überfordert.“
„Okay… ähm, ich meine, das tut mir leid, dass meine beiden Süßen krank sind. Bitte knuddel sie ganz lieb von ihrer Tante Jessi, ja?“
„Das werde ich tun. Ich hatte die Windpocken bereits“, erwiderte Caiti trocken. Wir lachten beide, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie schön und beruhigend es letztlich für mich wäre, wenn sie mir hier zur Seite stehen könnte. Wahrscheinlich würden wir uns in irgendeiner Bar einen antrinken, so lange, bis ich meinen ganzen Herzschmerz und meine Wut auf Jim vor ihr ausgeschüttet hätte, und wir beide irgendwann schon wieder darüber lachen konnten. Und als nächstes hätte sie mich nach allen Regeln der Kunst beschwatzt, sofort mit ihr zurück nach Deutschland zu reisen, wo ich mit Sicherheit eine gute und solide Anstellung als Veterinärmedizinerin bekommen würde.
Und was wäre dann? Das Schaf war wieder zu Hause, im Stall, wo es hingehörte… Nein danke! Ich hatte mich noch nie gern für den einfachen Weg entschieden. So war ich nicht, und so wollte ich auch in Zukunft nicht sein!
„Jess, bist du noch dran?“ holte mich Caitis Stimme erneut auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Ja, ich habe gerade überlegt, wenn ich schon einmal hier bin, könnte ich doch deinen Großeltern mal einen kurzen Besuch abstatten. Was meinst du?“
„Oh natürlich…“, begann Caitlin sofort begeistert, brach dann jedoch abrupt ab. „“Verdammt... Nein, das geht leider nicht!“
Mein Herz sackte ein Stockwerk tiefer.
„Und wieso nicht?“, fragte ich atemlos. „Sind sie etwa krank? Geht es ihnen nicht gut?“
„Aber nein“, klang Caitlins fröhliche Stimme an meinem Ohr. „Den beiden geht es bestens. Sie sind nur leider für eine Weile verreist. Granny wollte irgendwann in ihrem Leben unbedingt mal nach Neuseeland, und nun, da sie die Farm nicht mehr aktiv bewirtschaften, hat Großvater ihr diesen Wunsch erfüllt. Sie haben einfach die Bude dicht gemacht und sind vor vier Wochen abgedüst.“
„Und wie lange?“
„Für mindestens drei Monate. Sie meinten, sonst lohnt es sich gar nicht erst, loszufliegen!“
„Das ist ja toll“, würgte ich mühsam hervor und sah mich in Gedanken schon wieder frierend auf dem nächtlichen Pier sitzen. Wie konnten diese netten, sympathischen älteren Leutchen mir das nur antun? Einfach zu verreisen! Es war zum Verzweifeln!
Caiti erzählte indessen munter weiter, von ihrer Arbeit, ihren Kindern, doch ich hörte gar nicht richtig hin. In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie sollte es nun weitergehen? Ich hatte keine Bleibe, keinen Halt, gar nichts mehr. Zum ersten Mal seit meiner Flucht überkam mich das untrügliche Gefühl, hier und jetzt an meinen Grenzen angelangt zu sein.
Ich war… allein.
Vorsichtig, um keinen Verdacht zu erwecken, beendete ich schließlich das Gespräch mit meiner besten Freundin. Natürlich rang sie mir vorher das Versprechen ab, mich so bald wie möglich wieder bei ihr zu melden. Ich versprach es ihr, ohne allerdings zu wissen, wann so bald wie möglich sein würde.
Resigniert seufzend wollte ich das Handy bereits wegstecken, als es mir piepsend eine Bildnachricht von Caiti ankündigte. Ich öffnete sie und blickte in zwei mir sehr vertraute Kindergesichter. Meine beiden Patenkinder Damon und Christina lagen bäuchlings nebeneinander auf dem bunten Spielteppich ihres Zimmers, die Köpfe in die kleinen Händchen gestützt, und grinsten verschmitzt in die Kamera.
Oh wie süß… Ja, süß waren sie wirklich, die zwei. Das Foto erinnerte mich leider Gottes an meine innere biologische Uhr. Momentan tickte sie besonders laut und unbarmherzig. Jim und ich hatten nie über Kinder gesprochen, doch für mich war es die normalste Sache der Welt gewesen, dass wir in absehbarer Zeit eine Familie gründen würden, spätestens nach unserer Hochzeit. Zumindest hatte ich fest daran geglaubt.
Seufzend sah ich auf und hätte um ein Haar mein Handy fallen gelassen, als ich ihn plötzlich am Ende der Straße erblickte.
Schäferhund Jad…
*Der Song „Gelobtes Land“ ist zu finden auf: