17. Das Verhör
„Wegen eines Notfalls bleibt die Praxis heute geschlossen“, stand auf dem Schild, das Dr. Luis` Assistentin an der Tür zum Warteraum befestigte, nachdem sie die wartenden Patienten höflich davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass der Doktor zu einem dringenden Notfall gerufen worden war.
Sie selbst war zu dem Zeitpunkt, als der bewaffnete Mann vom Wartezimmer aus die Praxis betrat, im Labor beschäftigt gewesen, wo der Eindringling sie nicht bemerkt hatte. Miranda, die Mitarbeiterin vom Empfang, hatte heute ihren freien Tag. Dadurch war es dem Mann überhaupt erst gelungen, unbehelligt bis in Dr. Luis` Sprechzimmer zu gelangen.
Zum Glück war dank des Einsatzes meiner beiden Beschützer Ramon und Jad niemand zu Schaden gekommen. Bis auf den Täter selbst, aber mit dem empfand keiner der hier Anwesenden auch nur einen winzigen Funken Mitleid.
Aufatmend setzte ich mich hinter Adams Schreibtisch und graulte dankbar Jads Fell. Unser Held lag mir zu Füßen und sonnte sich in seinem Erfolg. Mit seiner Hilfe hatte Ramon den Mann, der in die Gemeinschaftspraxis eingedrungen war und Adam mit vorgehaltener Waffe gezwungen hatte, mich hierher zu locken, überwältigt und mit einem gezielten Faustschlag unschädlich gemacht.
Während mein vierbeiniger Bodyguard seine verdienten Streicheleinheiten genoss, telefonierte Ramon draußen vor der Tür, und da diese nur angelehnt war, konnte ich einiges von dem verstehen, was er sagte.
Vermutlich war Cooper am anderen Ende der Leitung.
„…Mach dir keine Gedanken, es geht ihr gut. Wir haben alles im Griff. Es ärgert mich nur, dass uns sein Komplize entwischt ist. Er saß unten im Wagen und hat wohl bemerkt, dass etwas schiefgelaufen ist. Als ich mit Jad um die Ecke kam, ist er mit Vollgas davon. Vermutlich wird er schnellstens seinen Boss informieren. Also kannst du davon ausgehen, dass die Zeit knapp wird… Okay, ich kümmere mich darum. Aber bitte sieh dich vor… du weißt, die Jungs sind extra dafür ausgebildet, also halt dich zurück und lass sie ihren Job machen... eben drum, weil ich dich kenne, sage ich dir das… mal sehen, ob wir noch ein paar Informationen aus dem Kerl herausbekommen, bevor die LAPD-Leute hier auftauchen und ihn abholen… Sobald ich mehr erfahre, melde ich mich noch einmal bei dir.“
Er beendete das Gespräch und betrat wieder den Raum.
„Geht es dir gut?“, fragte er mich mit einem abschätzenden Blick und ich nickte erleichtert. Dass er mich in Anbetracht der besonderen Umstände wie selbstverständlich duzte, war mir nur Recht.
„Hast du mit Coop gesprochen?“, fragte ich diskret.
„Ja. Wir reden nachher.“
Der Eindringling, der nach dem für ihn überraschenden Angriff eine Weile gebraucht hatte, um wieder einigermaßen zu Verstand zu kommen, saß mit finsterer Miene auf einem Stuhl in der Gemeinschaftspraxis. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine kantige Kinnpartie hatte von Ramons wuchtigem Faustschlag bereits eine bläuliche Färbung angenommen.
Butch, der inzwischen ebenfalls vor Ort war, saß ihm gegenüber und hielt den zur Sicherheit an den Händen gefesselten Mann mit seiner Dienstwaffe in Schach. Bevor sie ihn an das LAPD übergeben würden, wollten Ramon und unser Koordinator die Gelegenheit nutzen, um ihm noch einige Fragen zu stellen. Danach würde er inhaftiert und wegen versuchter Geiselnahme, unerlaubtem Waffenbesitz und weiterer diverser Vergehen offiziell unter Anklage gestellt. Auf jeden Fall konnte er davon ausgehen, nicht so bald wieder in die Glamour- und Spielerstadt Las Vegas zurückzureisen.
Butch musterte ihn mit finsterem Blick, während Ramon sich neben ihm aufbaute, bereit einzugreifen, falls der Gefangene auf irgendwelche dummen Gedanken käme. Doch der Mann schien sich seinem Schicksal zu ergeben, denn er hatte begriffen, dass ein Fluchtversuch so gut wie aussichtslos war, da Ramon die Tür verschlossen hatte, und sein finsterer Blick keinen Zweifel daran ließ, dass ohnehin niemand unbeschadet an ihm vorbeikam.
Adam lehnte inzwischen einigermaßen entspannt an seinem Schreibtisch, und ich hockte nach wie vor auf seinem Arbeitssessel und verfolgte die Szene gespannt. Jad hatte sich erhoben und beobachtete jede Bewegung im Raum ebenfalls ganz genau.
Ramon wandte sich zuerst an Butch.
„Ist er einer von den Kerlen, die dich betäubt haben?“
„Hundertprozentig“, knurrte der Koordinator und tastete erbittert nach der Beule an seinem Kopf. „Der hier stand direkt vor mir.“
„Stimmt das, Mister?“
Der Mann hob scheinbar gleichgültig die Schultern.
„Wenn er das sagt…“
„Demzufolge sind Sie kein Freund von Jim, sondern gehören eher zu der anderen Fraktion“, stellte Butch fest und winkte mit dem Brief von Jim zu mir herüber. „Ist der echt, Jess?“
„Ja, ich kenne Jims Handschrift“, bestätigte ich.
„Dann haben Sie Jim O`Neill also erpresst, den Brief zu schreiben und wollten Miss Hausmann damit nach Vegas locken?“
„Na wenn schon“, meinte der Mann und grinste schief. „Immer noch besser, sie wäre freiwillig mitgekommen, als dass ich sie hier hätte herauszerren müssen.“
„Und warum sind Sie dann nicht nebenan in die Praxis gegangen, wo Miss Hausmann arbeitet?“
„Warum sollte ich nochmal das Risiko eingehen? Dort drüben wimmelt es inzwischen garantiert von Polizei, seitdem wir ihr Zimmer „aufgeräumt“ haben.“
„Und woher wussten Sie von dem Verbindungsgang zu dieser Praxis?“
„Hab` meine Quellen.“
„Also sind Sie hier einfach hereinmarschiert und haben Dr. Luis genötigt, Miss Hausmann anzurufen und herüberzulocken“, fasste Ramon zusammen.
„Indem er mir die Waffe unter die Nase gehalten hat“, fügte Adam empört hinzu. Der Mann streckte die Beine aus, um bequemer zu sitzen.
„Nur ein wenig Überredungskunst.“
„Und unten wartete Ihr Komplize im Wagen mit laufendem Motor.“
„Welcher Komplize? Ich weiß von nichts.“
„Haben Sie Jim O`Neill noch in Ihrer Gewalt?“
„Ich sag` gar nichts mehr.“
„Dann rufen wir jetzt unsere Kollegen vom LAPD an“, entschied Ramon. Während er bereits zum Telefon griff, trafen sich unsere Blicke, und plötzlich zögerte er, denn er schien mir anzusehen, dass ich noch etwas loswerden wollte. Nach außen hin war ich die ganze Zeit über scheinbar gleichgültig geblieben, während ich der Befragung zugehört hatte, aber ich spürte deutlich, wie langsam die Wut in meinem Inneren emporstieg. Dieser Mistkerl zeigte absolut keine Reue. Er war mit dafür verantwortlich, dass ich nichts, aber auch gar nichts mehr besaß. Als wäre das nicht genug, hatte er auch noch versucht, mich mit einem miesen Trick zu entführen, und es widerstrebte mir, ihn so einfach davonkommen zu lassen. Nur ein kleiner Denkzettel…
„Möchtest du unseren Gast noch etwas fragen, Jess?“, erkundigte sich Ramon, als hätte er meine Gedanken erraten.
„Oh ja“, sagte ich gedehnt und stand langsam auf. „Eine Kleinigkeit, die mich brennend interessiert.“ Von mehreren Augenpaaren aufmerksam verfolgt trat ich ins Sichtfeld des Ganoven und blieb dort abwartend stehen. „Habe ich das jetzt richtig verstanden, Sie waren also einer von den Kerlen, die dieses Chaos in meinem Zimmer verursacht haben?“
Er verzog höhnisch die schmalen Lippen. Dieser Kerl hatte tatsächlich die Frechheit mir ins Gesicht zu grinsen!
„Aber klar doch, wie ich schon sagte. Willst du mich jetzt verhauen, Süße?“
„Hey… Vorsicht!“, warnte Ramon und legte dem Mann warnend seine Pranke auf die Schulter. Wir tauschten beide einen bedeutungsvollen Blick, und ich nickte ihm zu, um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung sei, während ich den Typen unbeirrt weiter befragte:
„Hat es Ihnen Spaß gemacht, alle meine Sachen zu zertreten, zerreißen und kaputtzuschlagen?“
„Hat es“, bestätigte er, immer noch grinsend. Es war offensichtlich, dass er mich nicht ernst nahm. „Nur um die Designerjeans tat es mir etwas leid.“
„Ja, mir auch“, bestätigte ich scheinbar teilnahmslos, während ich ohne besonders große Eile zum Instrumentenschrank hinüberging. „Die war richtig teuer. Ich musste lange dafür sparen.“ Trotz der Höllenwut, die in mir loderte, wusste ich genau, was ich tat.
„War das alles, Jess?“, fragte Ramon und ich bemerkte eine gewisse Anspannung in seiner Stimme. Ich konnte es ihm nicht verübeln, schließlich kannte er mich erst seit gestern und vermochte nicht einzuschätzen, wie weit ich mich provozieren ließ.
„Nein, einen Augenblick noch.“
Ich griff nach einem glänzenden Skalpell aus der Instrumentenbox, drehte mich um und ging langsam auf den Mann zu, während ich das messerscharfe Teil gekonnt durch die Finger meiner rechten Hand wandern ließ. Hin und her, blitzschnell, hin und her…
Diesen nicht ganz ungefährlichen Trick hatten wir während unserer Studentenzeit immer wieder geübt, und die scharfe Klinge hatte nicht selten bei einigen von uns böse Schnittwunden verursacht. Aber gelernt war gelernt, und ich gebe zu, wenn man es einmal konnte, sah es ziemlich beeindruckend aus. Dabei ließ ich den Mann nicht aus den Augen und bemerkte mit Genugtuung, wie ihm das unverschämte Grinsen angesichts meiner kleinen Demonstration förmlich auf den Lippen gefror, während er unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen begann und unentwegt das Skalpell in meiner Hand anstarrte.
„Was hast du vor, verdammt?“
Ich ignorierte die Frage und bat Ramon stattdessen, den Mann festzuhalten.
„Jess“, warnte mein Beschützer, doch ich lächelte nur unbeirrt.
„Vertrau mir.“
„Okay.“ Zu meiner Überraschung schien mir Ramon wirklich zu vertrauen. Er packte den Mann, bevor dieser sich wehren konnte, zog ihm vom Stuhl hoch und hielt ihn in sicherem Griff. „Wenn du ihm eine verpassen willst, nur zu, er hat es verdient. Aber vielleicht solltest du vorher das Messer…“
„Ich sagte, vertrau mir“, wiederholte ich mit sanftem Nachdruck, denn ich wusste genau, was ich tat.
Der Kerl vor mir wusste es nicht, und das war auch gut so.
„Was soll denn das? D… das darf die nicht, verdammt! Die ist ja verrückt!... Oh mein Gott, tun Sie doch etwas! Sagen Sie diesem Miststück, sie soll das weglegen! Das war doch alles nichts weiter als eine harmlose Warnung…“, brach es feige aus ihm heraus, während seine Augen angstvoll zwischen mir, Butch und dem Skalpell hin und her drifteten. „Wir haben doch nur nach dem Geld gesucht, keiner sollte ernsthaft verletzt werden, wir hatten einen Auftrag und haben uns dabei einen kleinen Spaß erlaubt…“
„Indem ihr mein Zimmer verwüstet und alles, was sich darin befand, einfach zerstört habt, ja?“
„Er hat gesagt, dass Sie das Geld genommen haben und damit abgehauen sind!“
„Wer?“
„Dieser Spieler, Jim O`Neill.“
„Und ihr habt ihm geglaubt? Einfach so?“
„Wie ich bereits sagte, wir hatten den Auftrag nachzuforschen. Das haben wir getan.“
„Allerdings, das habt ihr. Auf eure ganz spezielle Art. Ihr hättet mich genauso gut fragen können. Oder würde ich dann auch mit blaugeschlagenen Augen herumlaufen, so wie Jim?“
„W… wir befolgen n… nur Anweisungen!“
„Von wem?“, mischte sich Ramon nun plötzlich ein, und der Mann zuckte merklich zusammen.
„Ich kenne seinen Namen nicht. Er gibt uns die Aufträge über Mittelsmänner und zahlt dafür.“
„Erzähl keine Märchen!“
„Es ist die Wahrheit! Nehmen Sie dieser Verrückten endlich das Messer weg!“
Ramon und ich tauschten einen bedeutungsvollen Blick, und ich blinzelte ihm kurz zu. Dann hörte ich damit auf, das blitzende Skalpell durch meine Finger wandern zu lassen. Stattdessen hob ich es in Augenhöhe und betrachtete es scheinbar interessiert.
„Sie sagten, um die Designerjeans tut es ihnen leid?“
„Ja… verdammt, jaaa…“
„Okay. Sie verdienen Ihr Geld damit, diverse Aufträge zu erfüllen. Ich dagegen verdiene mein Geld, indem ich Tiere untersuche, ihnen helfe und versuche, sie gesund zu machen. Hin und wieder muss ich auch operieren, und manchmal gibt es leider keine andere Möglichkeit, als sie von ihrem Leiden zu erlösen.“
Der Mann versuchte sich vergeblich aus Ramons festem Griff zu winden und starrte mich mit vor Angst weit aufgerissenen Augen an. Anscheinend traute er mir inzwischen fast alles zu.
„Wissen Sie, was mein Professor an der Uni immer zu mir sagte?“ plauderte ich scheinbar unbefangen weiter und fuhr vorsichtig mit dem Daumen an der Seite der scharfen Klinge entlang. „Er sagte: Jess, du bist ein Naturtalent! Keine andere kastriert einen Hund so schnell und präzise wie du!“
Mein Gegenüber atmete keuchend aus, und ich hoffte, er würde sich nicht vor lauter Angst in die Hose machen, als ich noch einen draufsetzte: „Ein kleiner Schnitt in die Hoden, und schon kommt das Ei herausgeflutscht und kann keinen Schaden mehr anrichten! Soll ich Ihnen mal zeigen, wie das geht?“ Bevor er irgendeinen Ton von sich geben konnte, packte ich das Revers seiner Zweitausend-Dollar-Jacke und schnitt in Sekundenschnelle das Armani-Label heraus. „Aaah… da haben wir es ja. Hat gar nicht wehgetan. Und schon ist der Hund kein echter Hund mehr!“
Ramon grinste von einem Ohr zum anderen, hielt den zu Tode erschrockenen Mann jedoch weiter in Schach, während Butch hinter mir losprustete, und Adam Sekunden später einstimmte.
Der Mann starrte völlig entsetzt auf das sauber herausgetrennte Lederstück mit dem Armani-Label in meine Hand und keuchte wie nach einem Meilenlauf.
„Du verdammtes Miststück! Die war neu, ein absolutes Unikat! Unbezahlbar!“
„Das war mein Laptop für mich auch. Und die Jeans. Und alles andere, was Sie sinnloserweise zerstört haben“, erwiderte ich scheinbar ungerührt, drehte mich um und legte das Skalpell in die Desinfektion. „Ich würde sagen, wir sind quitt, Mister. Hat Spaß gemacht.“
Die Genugtuung stand mir noch ins Gesicht geschrieben, als ich später mit Jad im Schlepptau bei Paloma ankam, die bereits ungeduldig auf mich wartete.
„Was war denn nur los, Jess?“ rief sie zutiefst beunruhigt und umarmte mich stürmisch. „Ich bin vor Sorge fast gestorben!“
„Alles okay, Paloma.“ grinste ich und trat ans Waschbecken, wo ich meine immer noch erhitzten Wangen mit wohltuend kaltem Wasser benetzte. „Jetzt können wir shoppen gehen.“
Jad ließ ein Fiepen ertönen, das wie ein Protest klang und verzog sich unter den Tisch, wo er sich lang ausstreckte.
„Ich fürchte, das muss noch ein paar Minuten warten.“ ertönte Ramons Stimme hinter mir. Er trat in die Praxis und schloss die Tür hinter sich. „Würden Sie uns bitte eine Minute allein lassen?“ wandte er sich höflich an Paloma. „Ich muss nur kurz mit Jessica sprechen.“
„Aber klar.“ nickte meine Sprechstundenhilfe verständnisvoll, während sie mir ein Handtuch reichte, mit dem ich mein Gesicht abtrocken konnte. „Ich bin unten und mach uns einen Kaffee.“
Ramon setzte sich auf die Schreibtischkante und sah mich prüfend an.
„Ist alles okay, Jess?“
Ich nickte.
„Jetzt ja. Sorry, aber ich musste mal Dampf ablassen.“
„Du bist vielleicht eine Nummer.“ grinste er. „Schade, dass Coop nicht dabei war.“
Erleichtert darüber, dass er mir meinen kleinen Rachefeldzug nicht übel nahm, lehnte ich mich an den Rand der Spüle und sah ihn erwartungsvoll an. „Du hast vorhin mit ihm telefoniert. Was hat er gesagt? Hat er Jim gefunden?“
„Allem Anschein nach ist dein Exfreund seinen Gläubigern hier in Santa Monica tatsächlich noch einmal entwischt und danach allein nach Vegas gereist, wahrscheinlich in der wahnwitzigen Hoffnung, das fehlende Geld irgendwie zu erspielen. Natürlich haben sie ihn dort sofort wieder aufgegriffen.“
„Wer sind Sie?“ fragte ich bange.
„Ein berüchtigtes Spielerkartell, hinter dem das LAPD und die Bundespolizei bereits seit längerer Zeit her sind. Coop ermittelt Undercover schon eine ganze Weile. Er hat bereits eine Menge Informationen über diese Leute, die ihr Unwesen in mehreren Staaten der Welt treiben. Sie ködern professionelle Spieler mit Krediten und fordern das Geld mit hohen Zinsen zurück.“
„Und wenn so ein Spieler das Geld nicht hat, das er ihnen schuldet, was ist dann?“
„Dann spielt er entweder ab sofort nach ihren Regeln oder um sein Leben.“
Entsetzt starrte ich Ramon an, in der Hoffnung, er würde von weiteren Alternativen sprechen, doch er schwieg betreten.
Ich fürchtete mich vor der nächsten Frage, doch sie zu stellen, war unvermeidlich.
„Und… was wollen die dann von mir?“
„Jim hat sie auf deine Fährte gelockt, und nun kennen sie die Verbindung zwischen euch. Du bist du für sie ein wirksames Druckmittel, damit er sich auf ihre Forderungen einlässt. Dabei ist es völlig egal, ob ihr noch zusammen seid oder nicht. Niemand möchte, dass einem geliebten Menschen, oder jemandem, dem man nahe steht, irgendetwas geschieht.“
„Falschspiel, Betrug oder Tod.“ murmelte ich zutiefst schockiert. „Sie haben ihn in den Fängen.“
Ramon nickte.
„Sie setzen die Spieler für ihre Zwecke ein, um reiche, spielfreudige Kunden geschickt auszunehmen. Wenn ein professioneller Spieler mit gezinkten Karten spielt, bekommt das ein Laie gar nicht mit. Ein lukratives Geschäft. Und wenn der Spieler sich weigert…“ Ramon brach ab und sah mich bedeutungsvoll an. Ich bekam eine Gänsehaut.
„Jim mag ja ein Mistkerl sein, aber das hat er nicht verdient.“
„Deshalb versucht Coop mit seinen Jungs, ihn da herauszuholen und bei dieser Gelegenheit das Kartell endlich zu sprengen. Aber es ist wichtig, den Boss zu erwischen. Eine Schlange packt man am besten am Kopf, sonst windet sie sich immer wieder heraus.“
„Aber dann ist Coop auch in großer Gefahr. Und… er hat Jad nicht dabei!“
Als er seinen Namen hörte, hob mein vierbeiniger Beschützer unter dem Tisch sofort aufmerksam den Kopf.
„Der passt schon auf sich auf. Außerdem hat er ein für solche Einsätze bestens ausgebildetes Sonder-Einsatzkommando an seiner Seite. Er ist nicht allein.“ versuchte Ramon mich zu beruhigen, doch seine Worte verfehlten ihre Wirkung. Ich stand da, schlang die Arme um meinen Oberkörper und versuchte vergeblich, die Angst zu unterdrücken, die mir den Brustkorb zusammenschnürte und allmählich die Luft zum Atmen nahm.
Jad sprang auf, kam zu mir herüber, stupste mich an und rieb seinen Kopf an meinem Bein, als wolle er mir mit dieser Geste sagen, dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Dankbar bückte ich mich hinunter und streichelte sein glänzendes Fell. „Ist schon gut, mein Freund.“
Ramon nickte beifällig.
„Kopf hoch, Jess. Du solltest wirklich versuchen, ruhig zu bleiben.“
Das war leicht gesagt!
„Vielleicht ist alles meine Schuld.“ sprach ich die Selbstvorwürfe aus, die mich schon geraume Zeit quälten. „Ich hätte nicht einfach so abhauen dürfen…“
„Das ist doch Unsinn. Glaub mir, sie hatten deinen Jim schon lange, bevor du überhaupt etwas von seiner Spielsucht geahnt hast, fest im Visier. Ich frage mich nur… “ Er sah mich an und ich merkte an seiner Mimik, dass er nicht recht wusste, wie er seine Worte am besten formulieren sollte.
„Was?“ fragte ich in banger Erwartung.
„Wie konntest du… wie konnte so eine intelligente und couragierte junge Frau auf einen Typen wie Jim O`Neill hereinfallen? Wieso hast du während der Zeit, in der ihr zusammen wart, nie bemerkt, wie er wirklich war?“
Ich presste beschämt die Lippen aufeinander. Die Frage war berechtigt, ich hatte sie verdient, für meine Blindheit und verdammte Gutgläubigkeit.
„Er war nicht immer so, Ramon.“ sagte ich nach kurzer Überlegung leise. „Ich lernte ihn kennen, als ich noch nicht sehr lange in Irland war. Mein Englisch war mangelhaft, und ich fühlte mich ziemlich einsam in dem fremden Land, obwohl die Leute dort sehr nett zu mir waren. Jim war selbstbewusst, gutaussehend, er brachte mich zum Lachen und gab mir das Gefühl, zu Hause zu sein. Ich glaubte fest daran, ihm etwas zu bedeuten. Dieses Gefühl haben mir in meinem Leben bisher noch nicht sehr viele Leute gegeben.“
„Und dir ist nie aufgefallen, dass er etwas vor dir verheimlichte? Hast du nie hinterfragt, was er tat?“
„Ich war ja selbst die meiste Zeit unterwegs. Das Studium verlangte alles von mir ab, und die Praktika nahmen mich voll in Anspruch. Irgendwann haben wir uns dann entfremdet und kaum noch geredet, und mittlerweile muss ich mir eingestehen, dass es vielleicht nur noch der Sex war, der uns verband. Oft kam ich erst spät abends nach Hause. Manchmal war er nicht da, dann redete er sich mit Überstunden in der Firma heraus. Ich habe ihm vertraut.“
„Und dieses Vertrauen hat er schändlich missbraucht. Er sollte sich schämen!“ knurrte Ramon kopfschüttelnd. Dann atmete er tief durch, als wolle er ein für alle Mal einen Schlussstrich unter diese Angelegenheit ziehen und wies auf die Tür. „Na komm, Jess, gehen wir hinunter zu Butch und deiner Assistentin. Ich für meinen Teil könnte einen starken Kaffee gebrauchen. Was ist mit dir?“
„Ja, ich auch.“ erwiderte ich wahrheitsgetreu und folgte ihm.
Jad sprang auf und trottete schwanzwedelnd hinter uns her.
Aus unserem Einkaufsbummel wurde an diesem Nachmittag leider nichts mehr. Paloma hatte in Anbetracht der besonderen Umstände vollstes Verständnis und umarmte mich liebevoll zum Abschied.
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, hörst du?“ ermahnte sie mich mit einem gutmütigen Augenzwinkern, bevor sie sich selbst auf den Weg machte, um nach Adam zu sehen.
Dem würden heute nach der ganzen Aufregung diverse Streicheleinheiten von zarter Frauenhand bestimmt sehr gut tun.
Auf dem Weg zurück nach Bel Air hielten wir in einem kleinen Gewerbegebiet an, wo ich mir fürs Erste die notwendigsten Sachen besorgen konnte. Unter strenger Bewachung meiner beiden Bodyguards Ramon und Jad kaufte ich in einer für mich ungewöhnlich kurzen Zeit einige Kosmetikartikel, etwas Unterwäsche, eine Jeans, Turnschuhe und zwei Shirts.
Das Sleepshirt, das ich bereits in den Händen hielt, legte ich wieder zurück, da ich insgeheim zugeben musste, dass ich mich in dem übergroßen Shirt von Coop letzte Nacht sehr wohl gefühlt und wunderbar geschlafen hatte. Stattdessen gönnte ich mir noch mein Lieblingsparfüm und nahm aus dem kleinen Laden im Erdgeschoß eine gute Flasche Wein und eine Schachtel Pralinen für Ramon und Celia, sowie ein paar leckere Kauknochen für Jad mit.
Als wir die Sachen im Auto verstauten, fiel mir die alte Frau auf, die mit ihrem riesigen Strohhut gleich neben dem Eingang saß und wunderhübsche Blumensträuße aus weißen Margeriten und roten Rosen zum Verkauf anbot.
Ich bat Ramon, noch einen Augenblick zu warten, ging hinüber und kaufte einen Strauß.
„Hier!“ sagte ich und übergab meinem überraschten Beschützer den Strauß. „Für dich!“
Dümmer konnte ein erwachsener Mann nicht aus der Wäsche gucken.
„Du schenkst mir Blumen?“
„Irrtum, Ramon!“ grinste ich. „Die musst du bezahlen, denn die sind nicht für dich. Die schenkst du nachher deiner Frau! Sie hat es verdient!“
Celia erwartete uns bereits an der Haustür, nachdem sie uns über die Überwachungskamera hatte kommen sehen.
„Das Abendessen ist in einer halben Stunde fertig.“ sagte sie und maß ihren Mann mit einem leicht vorwurfsvollen Blick. „Warum hast du nicht von unterwegs angerufen, so wie wir es vereinbart hatten, dann hätten wir sofort essen können!“
Ich musste im Stillen lachen, denn mir fielen in diesem Augenblick wieder jene Worte ein, die Cooper damals bei unserem ersten Zusammentreffen gebraucht hatte, um mich zu ärgern: „Hätte der Hund nicht geschissen, dann hätte er den Hasen gehabt!“ Dieser dumme Spruch würde mich wahrscheinlich auf ewig verfolgen.
„Nicht böse sein, Celia, wir hatten einen ziemlich ereignisreichen Tag, den wir während der Rückfahrt ausgewertet haben.“ entschuldigte ich unser Versäumnis und sah Ramon, der meine Einkäufe ausgeladen hatte, abwartend von der Seite an. Da er nicht gleich reagierte, stupste ich ihn diskret mit dem Ellenbogen in die Seite und deutete durch eine entsprechende Kopfbewegung auf den Blumenstrauß, der noch auf dem Rücksitz lag.
„Aaah jaaa…“ Er wirbelte auf dem Absatz herum, langte nach dem Strauß und überreichte ihn seiner überraschten Frau. „Für dich, mi sol!“
Celia guckte völlig überrascht auf die Blumen, dann auf ihren Mann, und als sie endlich begriffen hatte, was da eben passiert war, ging auf ihrem hübschen runden Gesicht wahrhaftig die Sonne auf.
„Dios mio… “ rief sie tief beeindruckt. „Wie lange ist das her, dass du mir Blumen geschenkt hast, mi Amor?“
„Verdammt, jetzt hat sie mich am Kragen!“ murmelte Ramon und zog lachend den Kopf ein. „Aber du hast doch genug Blumen hier im Garten, Schatz!“
„Oh oh… falsche Antwort, Amigo!“ grinste ich und verdrehte die Augen. Männer…
Jad, der aus dem Auto gesprungen war und die kleine Szene interessiert beobachtete, baute sich vor Ramon auf und bellte ihn auffordernd an.
„Ist ja gut, ich habe verstanden“ maulte der daraufhin kleinlaut und küsste seine Frau auf die Wange. „Ich werde ab und zu daran denken, mi corazón, versprochen.“
Während er mit Jad im Schlepptau meine Einkäufe ins Haus trug, umarmte ich Celia herzlich zur Begrüßung.
„Das waren Sie, stimmt`s?“ lachte sie und wies auf die Blumen.
„Na ja“ lachte ich und zwinkerte ihr zu. „Männer brauchen anscheinend in solchen Dingen ab und zu einen kleinen Denkanstoß. Aber bezahlt hat er sie ganz allein!“