31. Check-up
„Jess?... Jessica! Mach die Augen auf, Liebes!“
Wie von Ferne drang die Stimme in mein Bewusstsein. Benommen blinzelte ich.
„Oh dios mio, sie kommt zu sich!“, hörte ich die Stimme – eindeutig die von Celia – jetzt ganz deutlich.
Augen aufmachen? Zu sich kommen? Was war denn hier los?
Das helle Tageslicht blendete mich, und es dauerte einen Moment, bevor sich meine Augen allmählich daran gewöhnten und zuließen, dass die bis dahin verschwommenen Umrisse um mich herum langsam Gestalt annahmen. Was ich zuerst erblickte, war Celias vertrautes Gesicht. Ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet, und sie sah aus, als hätte sie geweint. Neben ihr stand Ramon, nicht minder besorgt.
„Was… ist denn mit euch los?“, murmelte ich und sah mich irritiert um. „Ist etwas passiert?“ Ich lag auf dem Sofa in dem geräumigen hellen Wohnzimmer gleich neben der Diele.
„Du bist einfach umgefallen, Jess. Anscheinend ist dir schlecht geworden“, erklärte Ramon. „Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“
Ich schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, meine Gedanken zu ordnen, die wie aufgeschreckte Fledermäuse in meinen Kopf umherflatterten.
Ich und… umgekippt? So etwas war mir noch nie passiert!
Wenig später jedoch fiel mir alles schlagartig wieder ein: Meine schlaflose Nacht, nachdem Mister Cooper mich mit seinem Anruf so unsanft geweckt hatte, der Morgenlauf mit Dean und Jad, und kaum waren wir zurück, musste Dean plötzlich dringend wieder weg, nachdem ihn irgendjemand angerufen hatte.
Nein, Moment mal!
Nicht irgendjemand! Sie war es gewesen… Rebecca, seine Ex-Freundin, die inzwischen mit seinem Vater verheiratet war! Ich hatte es herausgefunden, nachdem ich besagte Telefonnummer zurückgerufen und ihre Stimme am anderen Ende der Leitung gehört hatte.
„Der Arzt wird gleich hier sein, Liebes“, unterbrach Celia meine Erinnerungen und strich mir mit mütterlicher Geste übers Haar.
„Der Arzt?“ Schockiert riss ich die Augen auf. „Ihr habt doch nicht etwa einen Arzt gerufen?“
Ramon sah mich ernst an.
„Man fällt nicht einfach um, Jess. Das ist kein Spaß.“
„Vielleicht war in der letzten Zeit einfach alles ein wenig viel für dich“, nickte Celia mit besorgter Miene. „Dr. Mitchell ist unser Hausarzt. Er wird dich untersuchen und dafür sorgen, dass es dir schnell wieder gut geht. Sollen wir Dean anrufen?““
„Nein! Das… das ist wirklich völlig unnötig! Das war doch nur ein kleiner Schwächeanfall, nichts weiter“, widersprach ich aufgeregt und rappelte mich hoch, doch Ramon legte mir seine Hand auf die Schulter und zwang mich mit sanftem Druck zurück in die Kissen.
„Du solltest das Ganze nicht auf die leichte Schulter nehmen, Jess. Immerhin warst du eine Weile außer Gefecht.“
„Eine Weile? Wie lange genau?“
„Schwer zu sagen“, überlegte Celia und hob die Schultern. „Ich habe vorhin im Flur ein Poltern gehört und als ich dich dort liegen sah, habe ich sofort Ramon gerufen. Er hat dich aufs Sofa getragen und deine Beine hochgelagert, während ich Doktor Mitchell anrief. Es waren höchstens ein paar Minuten.“
Erleichtert atmete ich auf.
„Mein Kreislauf hat einfach kurz schlapp gemacht, weil ich noch nichts gegessen hatte. Es geht mir schon wieder gut.“
„Du glaubst, das war der Grund?“ Skeptisch runzelte Celia die Stirn. „Dir fehlt nichts weiter?“
„Nichts, was ein Glas Wasser nicht sofort wieder in Ordnung bringen könnte.“
„Okay, wir werden ja sehen, was der Doktor sagt. Bis dahin bleibst du hübsch brav hier liegen. Ich hole dir etwas zu trinken.“
Sie marschierte entschlossen in Richtung Küche.
Fragend schielte ich zu Ramon, doch der verzog nur schelmisch grinsend das Gesicht.
„An deiner Stelle würde ich tun, was sie sagt!“
Als er sich anschickte, seiner Frau in die Küche zu folgen, streckte ich schnell die Hand aus und packte ihn am Arm.
„Ramon, bitte warte einen Augenblick…“
Erstaunt verharrte er.
„Brauchst du noch irgendetwas, Jess?“
„Ja“, erwiderte ich angespannt. „Die Wahrheit.“
Irritiert zog er die Augenbrauen hoch.
„Was meinst du?“
„Ich habe vorhin mit Rebecca Cooper telefoniert. Du weißt, das sie hier ist, oder?“
Obwohl Ramon sich nach Kräften um einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck bemühte, sah ich, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Ich wollte ihn nur ungern in Bedrängnis bringen, aber ich musste es unbedingt wissen. „Du warst doch mit Dean zusammen unterwegs. Bitte Ramon, sag mir die Wahrheit!“
Er überlegte einen Moment und ließ sich dann mit einem kurzen Blick zur Tür, hinter der Celia soeben verschwunden war, zögernd auf einem Stuhl neben dem Sofa nieder.
„Hör mal, Jess, ich habe Dean versprochen, zu schweigen, solange es nötig ist. Und ich halte immer, was ich verspreche.“ Er fuhr mit den Fingern durch sein kurzes, schwarzes Haar und nickte mir dann beruhigend zu. „Er wird mit dir reden, sobald er kann. Bis dahin nur so viel: Es ist nicht so, wie du vielleicht denkst.“
„Was soll ich denn denken?“
„Vertrau ihm.“
Erschöpft ließ ich mich in die Kissen zurückfallen und atmete tief durch.
„Ich versuche es ja, aber er macht es mir nicht gerade einfach.“
„Das mag sein, aber glaub mir, er hat seine Gründe.“
„Und die wären?“
„Bitte, Jess... Vertrau ihm einfach!“
„Okay.“ Ich sah ihm an, dass er aus Loyalität zu seinem Arbeitgeber nicht mehr verraten würde und nickte nachdenklich. „Danke, Ramon.“
„Schon gut.“ Er stand auf und ging zur Tür. Kurz bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich noch einmal zu mir um. „Ich weiß, du bist verunsichert. Aber Dean ist nicht wie Jim, soviel ist sicher.“
Doktor Mitchell war ein gütig dreinblickender Herr älteren Semesters mit einem gut sichtbaren Bauchansatz und einer fortgeschrittenen Stirnglatze. Er erinnerte mich auf Anhieb an den Doktor in einem Bilderbuch aus meiner frühesten Kindheit. Mit freundlichen braunen Augen fixierte er mich aufmerksam über den Rand seiner runden Brillengläser hinweg, nachdem Celia ihn hereingebeten und wortreich mit der Situation vertraut gemacht hatte.
„Das ist Jessica Hausmann“, stellte sie mich dem Doktor dienstbeflissen vor. „Sie ist die neue Veterinärmedizinerin beim LAPD und wohnt seit kurzem hier bei uns.“
„Lass gut sein, Celia“, mahnte Ramon gutmütig und legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. „Das kann Jess dem Doktor alles selbst erzählen. Wir sollten jetzt nicht länger stören.“
Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick, und Dr. Mitchell nickte lächelnd.
„Haben Sie vielen Dank. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche. Aber zunächst würde ich mich tatsächlich gern unter vier Augen mit der Patientin unterhalten.“
Nachdem wir einen Augenblick später allein waren, trat der „Bilderbuch-Doc“ näher und stellte seine Tasche neben dem Sofa ab.
„Hallo, ich bin John Mitchell“, begrüßte er mich mit angenehm festem Handschlag und ließ sich auf dem Stuhl neben dem Sofa nieder, auf dem vorhin Ramon gesessen hatte. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Hausmann. Wie fühlen Sie sich inzwischen, liebe Kollegin?“
„Bitte nennen Sie mich Jess“, bot ich ihm an und lächelte verlegen, denn die Sache war mir mehr als peinlich. „Es geht mir gut, Doktor. Sie hätten sich wirklich nicht extra herbemühen müssen.“
„Jess“, wiederholte er meinen Namen und sah mich eindringlich an. „Ich bin seit gefühlten hundert Jahren als Hausarzt tätig, und nicht wenige Leute, die mich gut kennen, behaupten von mir, dass dies so ist, weil ich mit meinem Beruf verheiratet sei, was in gewisser Weise vielleicht sogar stimmt. Und wenn eine junge, gesund aussehende Frau wie Sie, die in der Blüte ihres Lebens steht, einfach mal so umfällt, dann möchte ich aus medizinischer Sicht schon sehr gern wissen, was der Grund dafür war. Also, was könnte Ihrer Meinung nach der Auslöser für diesen… sagen wir mal, Schwächeanfall gewesen sein?“
Scheinbar unschlüssig hob ich die Schultern, denn um nichts in der Welt würde ich erwähnen, dass ich Dean nachspioniert hatte und dann von dem Ergebnis meiner Neugier glatt weg überwältigt worden war.
„Ich bin mir nicht sicher“, erklärte ich vage.
„Hatten Sie vermehrt Stress in letzter Zeit?“, bohrte er, und ich nickte.
„Ja, das könnte man so sagen.“
„Waren Sie in den vergangenen Tagen oder Wochen krank?“
„Nein.“
„Nehmen Sie Medikamente?“
„Nein.“
„Sind Sie schwanger?“
„Nein! Das ist völlig unmöglich!“
„Sicher?“
„Aber ja, natürlich bin ich sicher. Ich nehme die Pille!“
Er lehnte sich zurück und lächelte nachsichtig.
„Sie als Medizinerin müssten allerdings wissen, dass kein Medikament hundertprozentige Sicherheit gewährleistet, auch die Pille nicht. Die Natur geht manchmal seltsame Wege. Ein wenig Stress, Luftveränderung, neue Lebensgewohnheiten...“ Er nahm die Brille ab und musterte mich eindringlich. „Vielleicht ein neuer Mann in Ihrem Leben?“
„Nein, ich bin nicht schwanger, ausgeschlossen!“, widersprach ich mit Nachdruck und ignorierte seine letzte Bemerkung, während sich die Eingeweide in meinem Inneren zu einer fest geschlossenen Faust zu vereinen schienen. „Ich habe einfach nur schlecht geschlafen und heute Morgen nichts gegessen. Stattdessen bin ich gleich mit dem Hund raus. Das war keine gute Idee. Ich sollte in Zukunft vorher frühstücken.“
„Nun gut.“ Doktor Mitchell schob seine Brille wieder auf die Nase zurück und nickte lächelnd. „Celia kann Ihnen nachher einen starken Kaffee kochen, der bringt den Kreislauf in Schwung. Und dazu passend am besten ein paar von ihren fantastischen Waffeln.“
„Sie wissen, dass sie gute Waffeln backt?“
„Natürlich. Wer die Dinger einmal gegessen hat, vergisst sie nie.“ Er grinste und öffnete seine Arzttasche. „Ich werde dennoch zur Sicherheit Ihre Vitalfunktionen überprüfen, den Blutdruck messen und ein Blutbild machen. Dazu muss ich Ihnen etwas Blut abnehmen.“ Mit routinierten Bewegungen streifte er sich Einweghandschuhe über und packte seine Utensilien aus. „Sind Sie eigentlich schon einmal medizinisch untersucht worden, seitdem Sie hier sind?“
„Nein, aber ich habe zufällig heute Nachmittag einen Termin in der CENTINELA-Klinik zum Gesundheits-Check“, erklärte ich wahrheitsgemäß und krempelte den Ärmel meines Shirts zwecks Blutentnahme auf.
„Okay, dann fragen Sie dort am besten nach Dr. Ortega“, schlug Doktor Mitchell vor, während er meine Armbeuge desinfizierte und die Kanüle fast schmerzfrei in meine Vene bohrte. „Sie ist eine gute Freundin von mir. Bei ihr sind Sie in den besten Händen. Wenn sie möchten, faxe ich ihr das Ergebnis Ihrer Blutuntersuchung noch heute zu, dann kann sie diese gleich mit Ihnen auswerten, und sie müssen nicht erst tagelang auf das Ergebnis warten.“
„Danke Doktor“, nickte ich und beobachtete, wie sich das dünne Röhrchen mit meinem roten Lebenssaft füllte.
„Sie können mich übrigens gern John nennen“, lächelte er und zog die Nadel aus meinem Arm. „Das tun alle in diesem Haus. Ich kenne die Familie schon viele Jahre. Dean war damals fast noch ein Kind.“
`Dann ist er also der Arzt, der ihm geholfen hat, nachdem sein Vater ihn fast totgeprügelt hatte!`, schoss es mir durch den Kopf, während ich den Wattebausch, den er mir reichte, mechanisch auf die Einstichstelle drückte.
„Wenn Sie ihn schon so lange kennen, dann wissen sie ja bestimmt auch von Deans schwierigem Verhältnis zu seinem Vater“, sagte ich vorsichtig.
John Mitchell verstaute in aller Ruhe die Blutproben in seiner Tasche. Falls ihn meine Worte in irgendeiner Weise überrascht hatten, so ließ er sich das nicht anmerken. Erst, als ich bereits dachte, er würde sich dazu vielleicht nicht äußern wollen, glitt ein schwaches Lächeln über sein rundes Gesicht.
„Schwieriges Verhältnis ist noch geschmeichelt“, erwiderte er kopfschüttelnd, während er mir die Blutdruckmanschette anlegte und das Gerät einschaltete. „Der alte Bastard war immer felsenfest davon überzeugt, mit Geld könne man alles kaufen. Zu seinen Frauen war er meist nur so lange charmant, bis er sie da hatte, wo er sie haben wollte.“
„Und Dean?“, hakte ich leise nach.
„Sein Junge?“ Er überlegte einen Augenblick, als müsse er die folgenden Worte gut abwägen, bevor er voller Stolz nickte. „Einer der wenigen Menschen, den er nicht kaufen konnte. Dean hatte mehr Rückgrat, als alle anderen zusammen. Der hat ihm schließlich gezeigt, wo es lang geht.“
„Dafür hat er allerdings einen hohen Preis gezahlt.“
„Das ist wohl wahr. Aber im Grunde konnte er damals froh sein, dass es so kam, wie es kommen musste. Er ist sich treu geblieben, die ganze Zeit über.“ Er blickte auf und sah mich prüfend an. „Wenn Dean Ihnen das alles erzählt hat, dann müssen Sie ihm ziemlich nahestehen. Denn ich weiß, dass er höchst ungern über seine Vergangenheit spricht.“
Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Der Mediziner bemerkte es ebenfalls und lachte, während er die Manschette von meinem Arm entfernte. „Sie brauchen nicht zu antworten, Jess. Ihr Privatleben geht mich nichts an. Allerdings vermute ich, dass Ihr Blutdruck gerade eben wieder etwas angestiegen ist. Das ist gut, denn der war vorhin ziemlich im Keller.“
Er schloss seine Tasche, stand auf und reichte mir die Hand.
„Lassen Sie sich ein wenig von Celia verwöhnen. Gönnen Sie sich einen Kaffee, ein ausgiebiges Frühstück, und vermeiden Sie Stress und Hektik, zumindest soweit das möglich ist. Und bitte essen Sie in Zukunft ruhig etwas geregelter und vor allem ausgiebiger, denn ein oder zwei Kilo mehr auf den Rippen werden Ihnen nicht schaden, ganz im Gegenteil!“
Ich erwiderte seinen Händedruck und lächelte dankbar zurück.
„Danke, Doktor… John. Dafür, dass Sie da waren, und auch für Ihre Offenheit.“
„Keine Ursache, meine Liebe. Ich wünsche Ihnen alles Gute, und wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder. Aber dann hoffentlich unter angenehmeren Umständen als heute.“ An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Achten Sie gut auf sich, Jess. Und grüßen Sie Dean von mir.“
Entweder verfügte Celia über hellseherische Fähigkeiten, oder sie hatte heimlich an der Tür gelauscht, denn kaum war Doktor Mitchell wieder fort, servierte sie mir bereits Kaffee und frische Waffeln.
„Ich habe in der Praxis angerufen“, verkündete sie mit einem breiten Grinsen und ließ sich auf dem Stuhl nieder, auf dem vor ein paar Minuten noch der Hausarzt gesessen hatte. „Miss Paloma sagte, du sollst dir ruhig Zeit lassen, Dr. Louis hilft solange aus, bis du wieder fit bist.“
„Danke Celia“, erwiderte ich, gerührt über ihre Fürsorge. „Aber mir fehlt nichts. Nur ein kleiner Schwächeanfall, weil ich nichts gegessen hatte.“
„Ich sage ja immer, du bist zu dünn und hast nichts zuzusetzen, Liebes. Ist dir so etwas wie heute schon öfter passiert?“
„Nein, noch nie.“
Ihre Augen wurden groß und rund.
„Bist du am Ende schwanger?“
„Celia!“ Ich langte nach einer der knusprigen Waffeln und biss erbost hinein. „Erst der Doktor und jetzt du! Ihr redet mir noch ein Kind in den Bauch! Nein, ich bin nicht schwanger und habe auch nicht vor, es zu werden!“
Celias Schultern sackten nach unten.
„Schaaade…“
„Aber deine Waffeln sind wirklich fantastisch“, nuschelte ich mit vollem Mund und wir mussten beide lachen.
„Ach Jess“, lächelte Celia mit glänzenden Augen. „Es ist schön, dass du da bist. Du hast wieder richtig Sonne in dieses Haus gebracht. Ich hoffe, die trüben Tage sind endgültig vorbei.“
Da war ich mir leider gar nicht so sicher, denn bei dem Gedanken an Misses Maxwell Cooper versteckte sich die Sonne in meinem eigenen Herzen momentan hinter ganz dicken dunklen Wolken. Deans einstige große Liebe war zurück in Kalifornien, und wer weiß, vielleicht war sie auch auf dem besten Wege zurück in sein Leben.
Aber andererseits gaben mir Ramons Worte wieder etwas Mut und Zuversicht.
Ich würde abwarten müssen. Etwas anderes blieb mir ja ohnehin nicht übrig.
Mit einem noch immer etwas flauem Gefühl im Magen begab ich mich nach Feierabend ins CENTINELA-Medical-Center, einem riesigen, sehr imposanten Klinik-Bau, der sich nur wenige hundert Meter hinter einer der beiden Hauptlandebahnen des LA International Airport befand.
An dem großzügig geschwungenen, ganz in weiß gehaltenen Empfangstresen der ambulanten Abteilung im zweiten Stockwerk erklärte ich der diensthabenden Schwester den Grund meines Erscheinens, und fragte, nachdem diese endlich meinen Namen in der Bestellliste entdeckt hatte, nach Dr. Ortega, worauf sie mich mit der Bemerkung, das könne aber ein paar Minuten dauern, in den angrenzenden Wartebereich verwies. Ich entschied mich für einen der Plätze am Fenster und bemerkte angenehm überrascht, dass man von hier aus direkt hinüber zur Landebahn blicken konnte. Im Abstand von knapp zwei Minuten setzte eine Maschine nach der anderen sanft und sicher auf dem breiten, grauen Rollfeld auf. Von dem Lärm, den die Jumbo-Jets aus aller Welt dabei machten, hörte man hier oben hinter der Schallschutz-Verglasung so gut wie gar nichts. Fasziniert beobachtete ich, mit welcher scheinbaren Leichtigkeit und Präzision diese riesigen stählernen Vögel auf ihrem winzig erscheinenden Fahrwerk landeten, kraftvoll ausgebremst und wenig später in ihre endgültige Parkposition gebracht wurden.
Ich selbst war erst vor kurzem hier gelandet. Allein, enttäuscht und desillusioniert, auf der Flucht vor meiner Vergangenheit. Und doch, in dem Augenblick, als meine Füße amerikanischen Boden betraten, hatte ich ganz tief in meinem Herzen diese heimliche Zuversicht gespürt, dass sich alles für mich letztlich wieder zum Guten wenden würde, wenn ich nur etwas Geduld hätte. Und tatsächlich war ich in jener Nacht dank Tylers Hilfe wie eine Katze auf den Füßen gelandet, allerdings auf sehr wackligen Füßen…
In Erinnerung daran zog ich irritiert die Augenbrauen zusammen. War das alles wirklich erst ein paar Wochen her?
Ich war derart in Gedanken versunken, dass ich gar nicht merkte, wie jemand auf mich zutrat.
„Miss Hausmann?“ Erschrocken blickte ich auf. Eine junge, gertenschlanke Schwester im rosa Kittel lächelte mich routiniert freundlich an. „Kommen Sie bitte. Dr. Ortega erwartet Sie.“ Sie lief geschäftig vor mir her, und mir fiel auf, dass ihre blonde Lockenmähne bei jedem Schritt wie ein Weizenfeld im Sommerwind über ihre Schultern wogte. Voller Elan öffnete sie eine Tür mit der Aufschrift Behandlungszimmer 1. „Bitteschön.“
Mit einem dankbaren Kopfnicken trat ich an ihr vorbei in das helle Zimmer.
Dr. Ortega saß hinter ihrem Schreibtisch und tippte etwas in ihren Laptop. Als ich näher trat, unterbrach sie ihre Tätigkeit, nahm ihre Lesebrille ab und reichte mir freundlich lächelnd die Hand.
„Hallo, ich bin Elena Ortega.“
„Jessica Hausmann. Bitte nennen Sie mich Jess.“
„Sehr gern. Nehmen Sie Platz, Jess.“
Ich schätzte sie auf Mitte Vierzig, eine auf den ersten Blick sehr sympathische, schlanke Frau von offensichtlich mexikanischer Abstammung. Sie trug ihr tiefschwarzes Haar sportlich kurz, was ihre dunklen Augen und die hohen Wangenknochen gut zur Geltung brachte.
„Ich komme auf Empfehlung von Dr. Mitchell zu Ihnen.“
Sie lächelte höchst erfreut.
„John? Er und ich kennen uns schon viele Jahre. Er war mein Mentor, als ich damals frisch von der Uni kam. Wie geht es ihm?“
„Als wir uns heute Morgen begegnet sind, ging es ihm auf jeden Fall besser als mir.“
„Dann war er als Arzt bei Ihnen?“
„Ja.“ Ich berichtete ihr kurz von meinem Kreislaufproblem, und sie nickte.
„Da haben Sie sich wohl auf nüchternen Magen etwas zu viel auf einmal zugemutet. Hat er Sie deshalb zu mir geschickt?“
„Nein, ich habe mich aus einem anderen Grund angemeldet.“
„Und was kann ich für Sie tun?“
„Ich möchte einen Gesundheits-Check machen lassen.“
„Darf ich fragen, ob es einen bestimmten Grund dafür gibt?“
„Ich habe jemanden kennengelernt und möchte nur sicher gehen, dass alles okay ist, bevor er und ich… na ja, Sie wissen schon.“
Sie lächelte.
„Okay. Das ist sehr verantwortungsvoll von ihnen. Wenn Sie einverstanden sind, werde ich eine Akte anlegen.“ Sie tippte etwas in ihren Computer und stellte mir einige Fragen zu meiner Person, die ich ihr bereitwillig beantwortete.
Während sie die Antworten eingab, erklärte sie mir, was alles zu diesem Check-up gehörte.
„Keine Sorge, Jess, die Untersuchung dauert nicht lange. Im Anschluss werde ich Ihnen dann noch Blut abnehmen, damit wir das erforderliche Blutbild machen können.“
„Dr. Mitchell hat mir heute Morgen bereits Blut abgenommen und wollte Ihnen das Ergebnis der Untersuchung im Laufe des Tages zufaxen.“
„Okay…“ Sie hielt inne und betätigte den Knopf der Wechselsprechanlage. „Patricia, bitte sehen Sie nach, ob wir heute ein Fax von Dr. Mitchell erhalten haben. Es handelt sich um eine Blutuntersuchung der Patientin Jessica Hausmann. Danke.“
Kurz darauf erschien die weizenfeldblonde Schwester mit dem gewünschten Fax.
„Wunderbar, vielen Dank, Patricia.“ Dr. Ortega überflog das darauf befindliche Labor-Ergebnis und zog dabei bedenklich die Augenbrauen nach oben. Kurz darauf legte sie das Blatt Papier zurück auf den Schreibtisch und sah mich mit ernster Miene an. Leicht beunruhigt erwiderte ich ihren Blick.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Doktor?“
„Tja, Jess, ehrlich gesagt... Ich denke, es gibt da ein Problem.“