Als er die Augen aufschlug, war sein Gesicht bereits das zweite Mal an diesem Tag in Erde versunken. Diesmal war es der rosafarbene Strand, an den er angespült worden war. Doch irgendwie freute er sich. Er zog den Kopf aus dem Sand, nahm einen tiefen Zug duftender Strandluft und begann schallend zu lachen. Er war noch am Leben!
So saß er sicher einige Minuten da und freute sich einfach nur. Sein Lachen erstarb schlagartig, als sein Hirn von tausend heißen Nadeln durchstochen wurde. So fühlte es sich zumindest an. Er wollte schreien, brachte aber nur ein dumpfes Stöhnen zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Baldor begann, flach und gleichmäßig zu atmen. Irgendeiner seiner Lehrer der weniger beachteten Fächer hatte einmal behauptet, dass man den Schmerz so wegatmen könnte. Sollte er ihm noch einmal lebend begegnen, dann mit einem gespickten Nadelkissen.
Gerade als der Schmerz so unerträglich wurde, dass gleich sein Hirn schmelzen würde, brach er ab. Stattdessen glaubte er nun, Stimmen in seinem Kopf zu hören. Und sie sprachen alle wild durcheinander. Ein Licht ging ihm auf. Er war verrückt geworden und hatte sich die ganze Geschichte mit den Fischen nur eingebildet!
’Hey du!', übertönte eine einzelne grollende Stimme den Rest. Die anderen verstummten schlagartig.
"Ähm ...", lautete Baldors Antwort, die nicht gerade von Intelligenz zeugte. Aber was sollte man einer Stimme schon spontan antworten, die unangekündigt im eigenen Kopf auftauchte?
’So geht es euch allen, beruhig dich. Und beeil dich damit. Damit wir hier endlich wegkommen.'
Baldor beruhigte sich. Er war nur verrückt, warum sollte er sich aufregen? "Wen meinst du mit ’euch allen'? Die ganzen anderen Stimmen in meinem Kopf? Und warum wollt ihr in meinem Kopf entkommen?"
’Wir sind nicht nur Stimmen in deinem Kopf, sieh dich doch einmal um.'
Baldor öffnete die Augen und blickte in einen gähnenden Abgrund, der sich dahinzog, soweit er blicken konnte. Dort sollte sich eigentlich das Meer befinden. Es war verschwunden und mit ihm alle Meerestiere.
’Nein, nicht in die Richtung, da ist nichts mehr. Das wird dir zwar selbst in einigen Augenblicken klar werden, aber wir haben wirklich keine Zeit, um auf deinen Geistesblitz zu warten. Dreh dich um!'
Baldor gehorchte und wandte sich von dem Bild ab, das andere Männer sicher in den Wahnsinn getrieben hätte. Glücklicherweise war er ja schon verrückt. Die Stimme in seinem Kopf seufzte zur Antwort auf diesen Gedanken nur. Der neue Anblick war nicht viel ansprechender. Eine Horde Quallen schwebte vor ihm in der Luft. Bizarr schienen einige ihrer Innereien durch die halbdurchsichtige Hülle. Dann begannen ihre Gestalten, sich zu verformen. Die äußeren Ränder zogen sich nach innen und ihr Mittelteil wölbte sich nach oben. So waren die Berge entstanden, hatte Baldor gelernt. Kontinentalplatten, die sich verschoben und die zusammengedrückte Masse nach oben trieben. Schließlich bildeten die Quallen Formen aus. Köpfe und Bäuche. Das war nicht weniger unheimlich als schwebende Quallen an sich.
Er wusste, was er vor sich hatte. Das waren Schell. Der große Feind des letzten Krieges, bevor ganz Nethufia unter dem Banner der Nethuf vereint wurde. Sie konnte Gedanken lesen und kommunizierten auf diese Weise miteinander und mit den allen anderen, wenn sie in ihren Geist eingedrungen waren. Eine Macht, die den Nethuf weit überlegen war.
"Ist das ein Attentat auf den Sohn des Präsidenten?", fragte Baldor gefasst. Eigentlich war stets einer seiner Bodyguards in der Nähe und er wusste nicht so recht, wie er sich in so einer Gefahrensituation überhaupt verhalten sollte "Seid ihr für all das verantwortlich?"
’Mach dich nicht lächerlich, Sohn des Präsidenten', antwortete einer der Schell, der der Anführer der Gruppe sein musste. ’Wir sind genauso überrascht, wie du.'
"Was macht ihr hier, das ist immerhin Privatbesitz?"
Ein lang gezogenes Seufzen zog sich durch Baldors Gehirnwindungen. ’Um uns kurz zu fassen, wir sind auf einer Pilgerreise hier, um Nethufia zu huldigen und ihr die Ehrerbietung der Großen Qualle zu überbringen. Mit der Erlaubnis des Präsidenten. Doch jetzt ist nichts mehr hier, dem wir huldigen könnten. An der Beendigung deines Lebens sind wir ebenfalls nicht interessiert. Du solltest wissen, dass wir Schell die Gewalt verabscheuen.'
Nun zumindest seit Ende des Krieges. Auf einen Schlag erlitt das ganze Volk der Schell einen Fall von religiöser Erleuchtung und weigerte sich, weiterzukämpfen. Seither widmeten sie ihre gesamte Energie nur der Anbetung ihres Gottes, der Großen Qualle und es war kein Fall bekannt, in dem es je wieder eine Auseinandersetzung mit ihnen gegeben hätte. Irgendein Nethuf dankte im SpaceNet einem zeitreisenden Artgenossen dafür, dass er vor Tausenden von Jahren eine Religion für die Schell gegründet hatte, deren Auswirkungen sie damals schlagartig gerettet hatten. Denn den Krieg hätten die Nethuf verloren. Eine Anekdote, die Baldor seit jeher amüsiert hatte. Doch jetzt war ihm nicht zum Lachen zumute.
’Witzig', kommentierte der Schell seine Gedanken. ’Mein Name ist übrigens nicht ’der Schell', sondern', ein unverständliches Rauschen überschwemmte Baldors Gedanken, ’aber du kannst mich auch einfach C nennen.'
"C? Wie Chef?"
’Wenn du das so sehen möchtest', trafen Cs Gedanken in seinem Kopf ein, ohne einen Anflug von Belustigung oder Verärgerung. ’Hinter dir befindet sich ein riesiges Raumschiff, das vor einigen Augenblicken das Meer, und alles, was sich darin befand, verschlungen hat. Du hattest Glück und wurdest davor hier angeschwemmt. Wie lautet dein Plan, um uns alle zu retten?'
"Moment", protestierte Baldor, überrascht vom schlagartigen Themenwechsel. "Selbst wenn ich einen Plan zu meiner Rettung hätte, warum sollte ich gerade euch mitnehmen? Ich meine, ich bin der Sohn des Präsidenten. Ich bin wichtig, aber wer seid ihr?"
’Ich kann dieser Meinung nichts entgegensetzen', entgegnete C. Was konnte er auch sagen? Niemand, außer dem Präsidenten selbst, konnte wichtiger als Baldor sein. ’Aber ich appelliere an deine Solidarität und deine Verpflichtung als zukünftiger Präsident, im Wohle deines Volkes zu handeln.'
"Ist das größte Wohl des Volkes nicht, seinem Präsidenten zu dienen und ihn zu retten? Also, wo ist euer Plan dazu?"
In der Ferne, dort wo sich einst das Meer befunden hatte, grollte es. Als ob die Gefahr sich unbeachtet fühlte und sich wieder in Erinnerung rufen musste.
'Der einzige Plan, den wir auszuführen imstande wären, würde unweigerlich die Ausübung von Gewalt beinhalten. Und wir üben keine Form der Gewalt aus.'
"Hey, ihr seid in meinen Geist eingedrungen. Ohne, dass ich es wollte. Wenn das keine Gewalt ist, was ist es dann?" So langsam begann sich Baldor von all dem zu erholen und einen Plan auszuarbeiten, um sich die Schell gefügig zu machen. Vielleicht lösten sie sich aber auch auf, wenn sie diesen, mit ihrer Religion nicht zu vereinbarenden Widerspruch erkannten.
’Witzig, wie soll das denn funktionieren, sich einfach in Luft aufzulösen?'
"Woher soll ich das wissen?" Baldor zuckte mit den Schultern. "Ihr seid die religiösen Fanatiker. Ich bin nur der Sohn des Präsidenten."
Der Boden begann zu beben und beendete so das Gedankenspiel, wie sich eine Qualle, die ohnehin kaum aus mehr als Wasser bestand, in Luft verwandeln konnte. In der Ferne knirschte es, als ob ein Riese gerade genüsslich eine Portion Frühstücksmuscheln zwischen seinen Kiefern zermahlte.
’Und genau das passiert dort', kommentierte C Baldors Gedanken. ’In wenigen Minuten wird dieser Riese uns erreichen und wahrscheinlich nicht einmal bemerken, dass sich etwas Ungeziefer zwischen sein Frühstück gemengt hat.'
Der Sand bewegte sich und sackte ab, entlang einer Linie, die sich zwischen ihm und den Schell entlangzog, widerwillig sprang er ihnen entgegen, damit er nicht demnächst in die Tiefe gerissen wurde. Die Wesen wichen zurück und machten ihm Platz.
"Okay, ich habe einen Plan. Betet, dass es nicht schon zu spät ist!"
Dann zückte er seinen mobilen Korallenkommunikator und ließ ihn eine Verbindung aufbauen.