Er schloss die Augen und hörte dabei die schweren Atemzüge Sergejs und das Geräusch eines schweren metallischen Gegenstands, der über Beton gezogen wurde.
"Sergej? Alles in Ordnung bei dir?"
"Meine Prothese ist hinüber." Er fluchte etwas in einer Sprache, die Baldor nicht verstand. "Falls es hier noch so ein Vieh gibt, bin ich raus."
Mit einem Tentakel wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Ja, falls sie auf noch einen Vetis trafen, sah es mies aus. Madun, der kein instinktgetriebenes Monster war, intelligenter und erfahrener. Konnte er Ngi dazu bringen, gegen etwas zu kämpfen, das wie ein Mensch aussah? Würde Klara ihm ihre Tiere entgegenwerfen? Was würde Madun denen antun?
"Klara, geht es dir auch gut?"
"Auch?" Sergej lachte trocken. "Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber mir verdammt beschissen. Und wenn du Sarah fragst ..."
Ja, die war hinüber. Aber die interessierte ihn gerade herzlich wenig. Klara. Von ihr kam keine Antwort. Er öffnete die Augen und sah sich um.
"Klara?"
Stille, wenigstens von Klara. Stattdessen hörte er Ngi, wie er mit seinen Füßen aus Niveum über Schutt und Metall kletterte und mit seinen Scheinwerfern das umliegende Gebiet absuchte.
"Boss, sie ist hier."
"Und?"
"Ich bin mir nicht sicher. Können Menschen Steine essen?"
"Was?" Sergej rannte los, krachte unterwegs in einen Betonpfeiler und tauchte schließlich im Lichtkegel auf. Seine zerdrückte Prothese baumelte unkontrolliert an seiner Seite herum. Ja, die war im Eimer. Baldor enthedderte seinen Thron und ließ sich von seinen Tentakel, wie auf riesigen Spinnenbeinen zu Klara tragen.
Klara saß auf einem Trümmerhaufen, hielt einen Stein in den Händen und betrachtete ihn aus verschiedenen Winkeln. Sie schnupperte daran. Ihr Gesicht verzog sich dabei auf eine Weise, die mehr an eine ihrer Ratten erinnerte, statt an einen Menschen. Sie öffnete den Mund und wollte zubeißen. Sergej hielt im letzten Moment ihren Arm fest und schüttelte ihn, bis sie den Stein fallen ließ. Klara knurrte. Ein Grollen, das aus tiefster Kehle kam. Sie schwang sich vom Steinhaufen, streckte die Arme in die Luft und sprang ihn an. Diese Bewegungen hatte er so oft gesehen, wieder und wieder. Das war … wie beim Vetis. Nur fehlten ihr die Flügel, um sie auch in der Luft zu halten.
Sergej streckte die Arme aus, um sie aufzufangen. Seine Prothese war grotesk verdreht und Teile standen daraus ab. Er würde sie nicht fangen können, ohne sie dabei zu verletzen. Baldor warf einen seiner Tentakel nach vorne und fing sie ab, bevor noch einer der beiden Schaden nahm. Zum Dank ließ sie ihre Wut – oder ihren Hunger – nun an ihm aus. Klara warf den Kopf zurück und riss den Mund auf. Spitze Eckzähne blitzten im Scheinwerferlicht auf und sie vergrub sie in Baldors Tentakel.
"Au!"
"Stell dich nicht so, an! Als der Vetis das gemacht hat, war das sicher schlimmer." Sergej machte einen Scherz auf seine Kosten, aber Baldor durchschaute ihn. Klara so zu sehen, machte ihm Angst. Sein Gesicht zuckte. "Das ist schlimm … was hat der Vetis dir angetan."
"Der Vetis?", brachte Baldor unter Anstrengung hervor, während er Klara behutsam hin und her schüttelte. War es wirklich der Vetis gewesen? Er erinnerte sich daran, was in der Nacht geschehen war, dort oben auf dem Baum. "Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich der Vetis war. Zumindest nicht nur."
"Was meinst du damit?"
"Ah … Mist, eigentlich …"
"Raus mit der Sprache, sonst mach ich Sushi aus dir!"
"Ich habe ihr eigentlich versprochen, es nicht zu verraten." Baldor hielt verwirrt inne "Sushi?" Ein erneuter Biss ließ ihn diese Pause bereuen.
"Sushi ist eine Delikatesse aus rohem Fisch, Boss", klärte Ngi ihn auf. Das hatte er bestimmt wieder mal aus irgendeiner Dokumentationssendung der Menschen.
"Ha! Ich werde sowieso schon aufgefressen! Soll ich davor etwa Angst haben?"
Sergej kniff die Augen zusammen, hob seine klapprige Prothese, ließ sie dann aber besiegt sinken. "Bitte. Sag es mir einfach."
"Ich denke, es wird nach einer Weile von alleine verschwinden."
'Das glaube ich weniger', warf Nethufia ein. 'Das war kein normales Tier, sondern ein wahnsinniges Monster, selbst für die Verhältnisse der Vetis. Du solltest ihm die Wahrheit sagen.'
"Woher weißt du denn davon?"
Sergej zog die Augenbrauen hoch. "Ist es so übel, dass sich sogar dein Gast einschaltet?"
'Da war ich zufällig wach. Immerhin hing mein Leben von deinen Kletterkünsten ab. Sie erfährt inzwischen schon Nebenwirkungen, wenn sie ihre Fähigkeit bei einfachen Tieren eingesetzt. Und bei einem Vetis? Möglicherweise kehrt sich der Effekt nie wieder von selbst um.'
"Nie wieder?"
'Vielleicht sollten wir nachsehen, wie ihr Zustand ist, und versuchen, sie zu beruhigen.'
"Und wie soll das bitte gehen?"
"Hey!", protestierte Sergej. "Ignoriert mich nicht!"
'Erklär du deinem Freund, was los ist, und ich überlege mir so lange etwas.'
"Also gut. Ich hoffe, Klara kann mich jetzt nicht hören. Und du musst mir versprechen, dass du ihr nicht verrätst, dass ich es dir gesagt habe."
"Verdammt, wenn wir ihr damit helfen? Dann behalte ich es für mich. Was solls?."
Und so erzählte Baldor, wie er Klara nachgeklettert war und sie vor dem Sturz in die Tiefe bewahrte. Wie sie ihm danach, neben den Geheimnissen der Erde und der Tierwelt auch ihr eigenes Problem anvertraute. Sie versuchte zu fliegen, weil sie mit den Vögeln kommuniziert hatte. Und sie hatte Angst, dass es noch schlimmer werden würde.
"Ha, und schlimmer als das konnte es kaum kommen, was? So ein Scheiß." Sergej rutschte an einem Betonpfeiler zu Boden und warf die Hände in den Schoß. So resigniert hatte er den Helden bisher nicht gesehen. Für ihn ging es doch immer weiter geradeaus, egal wer oder was hinter ihnen her war.
Aber es war auch Baldors eigene Schuld. Er hätte sie stoppen müssen. Hätte sich daran erinnern müssen, was passieren konnte. Jetzt war es an ihm.
"Es tut mir leid", flüsterte er. Hoffentlich hatte Nethufia einen guten Plan. Nicht nur, weil Klaras Bisse weh taten. Sie krallte sich an einem Tentakel fest und Baldor betrachtete sie. Wie wild und gleichzeitig verletzlich sie aussah. Er sorgte sich um sie. Mehr, als er es vor kurzem noch zugegeben hätte.
'Bist du bereit?'
Noch ehe er antworten konnte, saß Baldor einmal mehr auf dem Rücken des gigantischen Kupferwals, Nethufias Inkarnation in seinem Verstand. Um sie herum tobte das Meer. Die Wellen schlugen hoch und der Regen peitsche mit unzählbar vielen, harten Tropfen Baldors Körper. Er vergrub seine Finger tief in den Furchen Nethufias Haut, um nicht ins brodelnde Meer gerissen zu werden. Der Gedanke, dass sich alles nur in seinem Kopf abspielte, half wenig. Was, wenn er hier ertrank? Übernahm Nethufia dann für immer seinen Körper?
Begleitet vom Röhren des Wals brüllte er gegen den Sturm an: "Klara! Hilf mir!"
Immer wieder wiederholte er ihren Namen. Minuten oder Stunden? Vielleicht waren es auch nur Sekunden. So schnell, wie ein Traum verging, der sich ebenfalls wie eine Ewigkeit anfühlte.
Eine Welle schwappte über ihn in hinweg, überraschte ihn und er schluckte salziges Meerwasser. Er prustete, als sein Kopf wieder im Freien war und der anschließende Ruf nach Klara endete in einem grotesken Gurgeln.
Aber sie brauchten den Sturm. Das hatte er sofort verstanden, als in seinem Geist die Augen geöffnet hatte. Klara konnte alle Tiere in ihrer Umgebung wahrnehmen und das geschah selbst dann, wenn sie schlief, vermutlich auch, wenn ihr Verstand ganz woanders war. Dann waren es vor allem emotionsbeladene Eindrücke, die sie erreichten. Die waren viel stärker als alltägliche Gedanken. Mit diesem Wissen und einem Bild war sie zu Nethufia durchgedrungen. Jetzt verließ sich Nethufia darauf, dass es auch bei Klara noch möglich war.
Die Gewitterwolken warfen ihnen zornig Blitze entgegen, doch sie verwundeten nur weit entfernt die Wasseroberfläche. Stattdessen traf sie etwas anderes. Lichtstrahlen, die durch die Wolkendecke brachen. Im stürmischen Schwarz des Himmels war ein Loch entstanden, in dem Nebelschlieren waberten. Eine Gestalt schoss auf sie zu, zog Schlieren durchbohrter Wolken hinter sich her. Setzte sie zum Angriff auf Baldor und Nethufia an? Nein, die geflügelte Gestalt, stürzte auf eine riesige Wasserwand, die auf ihre Position zurollte. Beide prallten aufeinander und eine Schockwelle befeuerte ihn mit tödlichen schmerzenden Wassertropfen.
Nur eine überstand den Zusammenprall.
Das Wasser der Welle war verschwunden. Mit einem einzigen tiefen Schluck hatte ihr vermeintlicher Retter es ausgetrunken. Nun schwebte die Gestalt vor ihnen, von ihren langen Schwingen in der Luft getragen.
Es war Klara. Ihr Körper, fast nicht zu erkennen. Er hatte die blaue Farbe des Vetis angenommen und war mit türkisblauen Federn und kobaltfarbenem Fell bedeckt, wie vor Kurzem ihre Rüstung. Ihr Blick war wild und huschte über die Wogen, bereit, die Schlacht mit jedem weiteren Angreifer aufzunehmen. Bereit, um ihn zu beschützen?
"Klara!"
Sie riss den Kopf zu ihm herum und starrte ihn an. Ihr Gesicht war nun starr. Kein Muskel, der sich bewegte, kein Erkennen in ihren Augen. Die nächste Welle kam und Klara war wieder in ihrem Element. Sie verschlang sie, nur ein feiner Nebel blieb von ihr übrig und senkte sich auf Baldor hinab. Es war wie damals, als er um sein Leben geschwommen war, nur diesmal war er nicht dem Sog des entstandenen Vakuums ausgeliefert.
Seine Sorge, dass er hier sein Leben verlieren konnte, war unbegründet gewesen. Das war sein Verstand und hier herrschte er. Wind und Wetter konnten ihm hier nichts anhaben. Deswegen gebot er ihnen, nun zu ruhen, und befahl den Wolken, sich zu verziehen. Der Himmel klarte in Sekunden auf und die Wellen legten sich. Eine Möwe kreiste über ihnen und verkündete kreischend ihre Verwunderung über den Wetterwechsel. Damit war sie nicht allein.
Auch Klara starrte verblüfft an die Stelle, an der gerade noch eine Welle auf sie zugedonnert war. Das war ihr Plan. Klaras verwirrten Geist nach dem Sturm mit einem Bild der Ruhe zu konfrontieren. In der Hoffnung, dass sie sich ebenfalls beruhigen würde.
"Es funktioniert!", jubelte Baldor.
Ihr Flügelschlag ließ nach, stoppte komplett und sie stürzte ins Meer.
Es funktionierte, aber zu gut.
Baldor raffte sich auf, nahm Anlauf und machte einen mutigen Hechtsprung hinter ihr her. Sie konnte hier genauso wenig sterben, wie er selbst. Hoffte er zumindest. Dennoch war da dieser Instinkt, der ihn dazu drängte, ihm etwas anderes einflüsterte.
Der nicht unberechtigt war.
Als er die Oberfläche durchbrochen hatte und im kühlen Meer seine Augen öffnete, war Klara verschwunden.