Das Gedudel einer der neuen Brick & Log Bands weckte ihn aus einem unruhigen Schlaf – die Zitadelle stand immer noch.
Diese unselige Musikrichtung hatte sich gebildet, nachdem die ersten Medienberichte aus der Außenwelt eingetroffen waren. Jeder Jugendliche, der im letzten Jahr dem Irrglauben aufsaß, Musik machen zu können, hatte es mit dieser Stilart probiert. Eine Abwendung von synthetischen Sounds, zurück zu natürlichen Klängen von echten, handgefertigten Instrumenten. Sie klangen alle verschieden und hatten doch eine Gemeinsamkeit: Keiner dieser Möchtegern-Musiker hatte je selbst seinen Fuß vor die Tore der Zitadelle gesetzt. Und heute Abend würde wieder eine dieser bedeutungslosen Bands bei ihm in der Show auftauchen. Doch die Zitadelle legte andere Maßstäbe an und stand auf sie.
Amrak Madun, der sich ruhigen Gewissens zu einem der zwanzig mächtigsten Männer in der Hierarchie der Zitadelle zählen konnte, schaffte es, Morgentoilette und Frühstück hinter sich zu bringen – und die Zitadelle stand immer noch. Natürlich konnte er sie einfach verlassen, aber das würde ebenfalls bedeuten, die Macht aufzugeben, die er hier erlangt hatte.
Es lag nicht in seiner Natur, Macht aufzugeben.
Vor ihm öffnete sich der Eingang in seine Trainingshalle. Nun folgte das Ritual, das er jeden Morgen absolvieren musste, um sein chaotisches Inneres zu besänftigen und so die Zitadelle und seine Macht zu bewahren.
Ein massiver Metallklotz versperrte seine Sicht auf den Rest der Halle. Im gedimmten Licht musste man schon zweimal hinsehen, um die Trittstufen und Griffe sehen zu können, die bis zu einer Plattform führte, von der man die ganze Halle überblicken und all den Hindernissen, die sie füllten. Es war ein Parcours, den er nicht alleine bewältigen würde. Heute waren sie zu sechst.
Der Erste von ihnen machte sich bemerkbar, als Amrak aus der Deckung trat. Ein Schuss – er traf ihn am Kopf. Die Spitze zerfiel zu Staub und einen Moment später wehten die Reste der ganzen Kugel an seinem Gesicht vorbei.
Ein guter Schütze, doch er hätte einen Schalldämpfer verwenden sollen. Nun kannte er seine Position und sprintete los. Gleich würden sie nur noch zu fünft sein. Er saß auf einer der Plattformen, von der es nur zwei Wege hinab gab. Klettern oder ein Sprung zu einer der anderen. Keines von beiden würde ihn retten.
Amrak erreichte den Quader, von dem ein junges Gesicht hinabblickte. Ein Rekrut des Sicherheitskorps vielleicht? Gut auf dem Schießstand, sonst ohne Erfahrung. Nun würde keine mehr sammeln können. Amrak legte seine Hände auf das kühle Metall und zog. Nicht im körperlichen Sinn, auch wenn der Effekt in der materiellen Welt sichtbar sein würde. Mit dem Sog nahm er der Plattform ihre Stabilität und glich das Chaos aus, das in seiner Seele herrschte. Feiner Metallstaub rieselte auf ihn herab, gefolgt vom Schreien des Rekruten, der in seinen Tod stürzte. Der Ton seines Aufpralls und die nachfolgende Stille ließen keinen Zweifel zu. Amrak würde nicht überprüfen müssen, ob er noch lebte.
Warum es jeden Morgen aufs Neue Teilnehmer gab, die sich mutig daran versuchten, ihn zu töten? Es war einfach. Sie hielten es nur für eine Show. Wie so vieles andere, wurde auch hier die Wahrheit in Form von Unterhaltung getarnt. Die Siegerprämie tat den Rest.
Keiner wusste, dass Amrak Madun, Besitzer des Medienkanals Madun Media, an seiner eigenen Show teilnahm. Nicht einmal seine eigenen Mitarbeiter. Doch nur so konnte er seinen Hunger nach Stabilität stillen. Den Hunger, den er mit all der anderen Amraks in all den anderen Universen teilte. In einer Zeit des vermeintlichen Friedens war das ein Unterfangen, das sich als nicht gerade leicht zu bewältigen herausstellte.
Als er und die anderen Vetis vor Jahrzehnten die Zitadelle betraten, stillte er dieses Verlangen an den Bewohnern der Unterwelt. Um nicht aufzufallen, musste er über die Jahre immer neue Methoden finden. Mit seinem Aufstieg in der Hierarchie wurde es leichter. Heute kam seine Nahrung freiwillig zu ihm.
So freiwillig, wie der Hüne, der ihn von hinten anfiel. Er schlang seine Arme um Amraks Kopf und zerrte daran – er wollte sein Genick brechen. Er konnte Amrak keinen Schmerzensschrei entlocken, nicht einmal einen Laut der Verwunderung. Stattdessen schrie er selbst. Körperlich blieb der Mann unversehrt – in seinem Inneren zerbrach er. Dort konfrontierte Amrak ihn mit seinen größten Ängsten und zerfleischte ihn.
Das war seine Fähigkeit – und sein Fluch. Alles, das nicht lebte, konnte er in seine Bestandteile zerlegen. Mit ihnen stärkte er seinen Körper. Lebewesen raubte er ihre mentale Robustheit, um seinen eigenen Geist zu stählen – und nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Für ihn und all die anderen Amraks.
Er ließ den wimmernden Mann zurück, um sich auf die Suche nach den verbliebenen drei zu machen. Nach dieser Mahlzeit fühlte er sich unbesiegbar. Das war er, solange er wachsam war. Kein Mensch und keine Waffe konnte seinen Körper berühren, wenn er es nicht wollte. Wie jeder Krieger stählte er seine Sinne, und in den Jahrhunderten, die er schon in den Universen existierte, hatte er sich unzählige Arten des Kampfes angeeignet und perfektioniert. Selbst in seiner aktuellen Lage, vielleicht gerade, weil er diese Rolle spielen musste, war er besonders für dieses Training dankbar.
Die anderen drei fielen genauso schnell wie die ersten beiden und so beendete er sein Mahl. Seine Ebenbilder der anderen Universen würden nun für einige Zeit Ruhe geben. Denn mit jedem der Männer, die er in diesem Universum Welt ausgelöscht hatte, hatte er auch ihre Abbilder in den anderen vernichtet. Unermesslich viel Energie, wenn er sie nicht hätte teilen müssen.
Es war ein Nebeneffekt der Energiegewinnung, die seine Vorfahren vor Äonen entwickelt hatten. Warum nur das eigene Universum anzapfen, wenn man seine Arme noch viel weiter ausstrecken konnte? Es war die Strafe für ihre Gier.
Dennoch, die Vetis konnte anderen Rassen wie Götter erscheinen. Götter, die innerhalb kürzester Zeit verhungern konnte. Deswegen war er inzwischen der Letzte auf der Erde. Das war der Grund, warum er den wirklichen Sinn der Kampfshow verbergen musste. Denn auch hier gab es jene, die es wagten, sich gegen Götter aufzulehnen, und das nicht nur mit roher Gewalt versuchten.
Amrak zog den Knoten seiner Krawatte zu, prüfte den Sitz von Jackett und die Symmetrie seiner schwarzhaarigen Frisur, die sein wohlgeformtes Gesicht einfasste. Dem Maßstab der Menschen nach hatte er ein perfektes Aussehen. Die Wahl seines Körpers, bevor sie vor über vierzig Jahren in die Zitadelle eingedrungen waren, war ideal gewesen. Und nur ihm allein war es zu verdanken, dass er und die anderen Vetis so weit gekommen waren.
Ihr Plan war es gewesen, diesen armseligen Planeten zu plündern, doch die anderen Rassen hatten es herausgefunden. Und das, obwohl sie die Aktion als Naturkatastrophe getarnt hatten. Das führte zu einem Bruch in den eigenen Reihen. Die meisten beschlossen, die Erde zu verlassen, ließen dabei ihn und die anderen elf auf der Erde zurück, die sich für das Fortsetzen ihrer Mission ausgesprochen hatten. Am Ende bekamen sie es mit der gesammelten Streitkraft der Zitadellenstadt zu tun. Die er allein in die Knie zwang. Um sich von diesem Schock zu erholen, hatten die Menschen vierzig Jahre gebraucht. Vierzig Jahre, in denen sie sich vor den Vetis in ihrer Zitadelle eingeschlossen hatten, ohne zu ahnen, dass sie sich mitten unter ihnen befanden – und über sie herrschten.
Er wusste nicht mehr, wann und wie die anderen gestorben oder verschwunden waren, doch inzwischen war er der Letzte von ihnen.
Im Eingangsbereich von Madun Media angekommen, nickten ihm seine Mitarbeiter freundlich zu. Er war ein guter Arbeitgeber und stets selbst freundlich. Sie waren eine liebende Familie, die dem Rest der Zitadelle gemeinsam das Blaue vom Himmel erzählte.
Amrak schaffte es in sein Büro, ohne mit wichtigen Fragen aufgehalten zu werden. Das war einer dieser guten Tage, in denen alles wie von alleine lief. Er ließ sich in seinen bequemen schwarzen Bürosessel sinken, dessen Leder zufrieden unter seinem Gewicht knartschte. Mit einem Fußstoß schwang der Sessel herum und er genoss den Anblick der künstlichen Felswände, die im Halbdunkel des Raums mit langsamer Frequenz blau pulsierten.
Auf seinem Schreibtisch, dessen Oberfläche ein großes Medienpanel bildete, leuchtete eine Vielzahl von Hinweisen auf. Die Fragen, die ihm im Gang erspart geblieben waren, würden sich ohne Frage darunter befinden. Das meiste war unbedeutend, Gästeauswahlen für die verschiedenen Shows, die er einfach nur noch abzusegnen brauchte. Man lud einfach ein, wer gerade oben auf der Beliebtheitswelle mitschwamm, oder wer es bald würde, weil Madun Media nachhalf.
Ein Bericht, den er genehmigen sollte, erweckte dann doch seine größere Aufmerksamkeit. Einer seiner Reporter hatte ein Interview mit diesem Tentakeltypen geführt, der wegen seines furiosen Auftritts im privaten Kanal 'Die Faust des Calu' für Aufsehen gesorgt hatte. Das Team von Madun Media war als Einziges vor Ort gewesen, auch wenn sich die Reporter der verschiedenen Sparten um den Erfolg für das Interview und ihren Zusammenschnitt stritten.
Es war nicht unbedingt der Junge an sich, um den sich sein Interesse drehte. Er war nur eine weitere Kuriosität neben den Monstern der Außenwelt oder den selbst ernannten Helden, die immer wieder für Aufsehen sorgten. Nicht einmal, dass er vorgab, ein Außerirdischer zu sein, war spektakulär – zumindest nicht für Amrak. Immerhin war er selbst einer und es gab eine Handvoll Leute, die zu den Thages gehörten oder denen wenigstens einige ihrer Gene eingepflanzt worden waren. Ein Großteil der Tierwelt und der Pflanzen dort draußen kam ebenfalls nicht von der Erde.
Spannend war seine Aussage, dass er nach Ersatzteilen für sein Raumschiff suchte. Er besaß also ein Vehikel, mit dem es möglich war, die Erdanziehungskraft hinter sich zu lassen und das Tor zu erreichen, das dort draußen schwebte? Der einzige Grund, warum Madun und seine Artgenossen später nicht auch die Erde verlassen konnten, war das Fehlen eines weltraumtauglichen Fluggeräts. Die Menschen hatten gerade genug damit zu kämpfen, um am Leben zu bleiben und noch kein Interesse, erneut ins All aufzubrechen. Vielleicht geschah das die nächsten hundert Jahre nicht. Und ganz allein, ohne Mitarbeiter mit dem entsprechenden Wissen, hatte ein Weltallprojekt selbst mit all seinem Geld keine Erfolgschancen.
Bis sie anfingen, selbst zu forschen, oder die passenden Leute auftauten, so lange wollte er nicht warten. Selbst wenn er seine Macht hier genoss, die Macht, die er im Kreis der Vetis innehatte, war um ein Vielfaches größer. Und er würde sich im Kollektiv mit den anderen auch mal wieder richtig satt essen können, ohne um seine Existenz fürchten zu müssen.
Mit einer Berührung ihrer Symbole auf dem Display holte er das verantwortliche Reporterteam zu sich. Er würde den Jungen einladen, zu einem Auftritt in seiner Show. Zumindest sollte er das glauben. Wenn er sein Raumschiff freiwillig hergab, ließ er ich vielleicht sogar am Leben.
Die Reporter erschienen artig und scharrten nervös mit den Füßen. Passierte nicht jeden Tag, dass sie persönlich in sein Büro zitiert wurden. Amrak Madun setzte ein warmes Grinsen auf und sie entspannten sich.
"Ich habe Ihre Berichte über Baldor, den Außerirdischen gesehen."
Den Satz ließ er in der Luft hängen, bis er auf jedem Gesicht die Frage lesen konnte, was das nun für sie bedeutete. Die Anspannung, die er ihnen genommen hatte, war wieder da. Er konnte nicht nur mit seiner Berührung für emotionales Chaos sorgen, auch wenn es einfacher war.
"Und ich bin begeistert!" Und schon waren sie wieder entspannt. "Ich habe mich zwar noch nicht für einen Bericht entschieden, aber ich möchte mehr über ihn wissen. Findet ihn, befragt ihn über sein Raumschiff und die Welten dort draußen."
Die Reporter machten sich Notizen und nickten.
"Und vor allem ...", Amrak ließ eine bedeutungsschwere Pause, "... möchte ich, dass ihr ihn in meine Show bringt. Findet heraus, was ihn heißmacht und lockt ihn damit. Lasst es die Konkurrenz nicht wissen … auch wenn sich das von selbst versteht. Es ist absolut wichtig, dass wir das Ganze weiterhin exklusiv bringen können."
Das Nicken seiner Reporter wurde immer emsiger und Amrak fürchtete, sie könnten ein Erdbeben in der Zitadelle auslösen. Also scheuchte er sie aus seinem Büro.
Sie verschwanden und er genoss er wieder das beruhigende Pulsieren der Wände. Sein inneres Verlangen machte sich erneut bemerkbar. Er würde vor der Show gut speisen müssen, damit es ihm keinen Strich durch die Rechnung machte.
Nun, welchen der Beiträge sollte er auswählen? Er ließ sie alle auf der Warteliste. Immerhin konnte es noch andere in der Zitadelle geben, die am Raumschiff interessiert waren. Die Gefahr, ihnen einen Hinweis zu geben, war zu groß. Falls es einer seiner Reporter wagte, nachzufragen, was er nicht glaubte, dann würde er ihm sagen, dass sein Beitrag im Umfang der Show gezeigt werden würde.
Dann hielt er es nicht mehr aus und setzte einen spontanen Aufruf nach Kandidaten für seinen Parcours auf. Er war sich sicher, dass sich welche einfinden würden, noch bevor Baldor ihn erreichte.