"So werdet ihr nie aus der Zitadelle entkommen", zerschlug Professor Rigot ihre Hoffnungen. Sergej hatte gerade ihre Fluchtroute durch E0 erläutert, die Ebene, die sich auf Höhe der restlichen Stadt befand.
"Warum nicht?", wollte Sergej wissen. "Gibt es einen Fehler in meinen Daten?"
"Nein, aber ihr habt Dok Wu dabei. Dank ihr werdet ihr nach ein paar Sekunden aufgehalten, festgenommen und stundenlang verhört."
"War es so schlimm, was sie angestellt hat?", fragte Baldor.
Sarahs Finger zuckten und ihre Hand ging hinab zu ihrer Waffe. War sie kaltblütig genug, um ihn umzulegen und am Sprechen zu hindern? Sicher. Doch ihr Holster war leer. Baldor drückte ihre Waffe hinter seinem Rücken an sich. Die würde er ihr sicher nicht wiedergeben.
"Beherrsch dich", knurrte Sergej sie an."Ich will es wissen, und wenn du nicht redest, erfahre ich es eben von ihm."
"Mein Assistent Rob wird es erklären. Er kennt die Details besser als ich."
"Roy, Professor. Mein Name ist Roy." Der Assistent schielte vorsichtig zu Sarah hinüber, und erst als sich Sergej schützend zwischen die beiden stellte, begann er zu erzählen. "Dok Wu war damals in der Hypothermieabteilung beschäftigt. Dort war sie so gelangweilt, dass sie sich mit diversen, gut gebauten Männern des Sicherheitskorps in den vermeintlich leer stehenden Laboren auf ihrer Etage vergnügt hat."
Sarahs Gesicht wurde ausdruckslos. Niemand hörte gern Geschichten über die eigenen Verfehlungen, oder wenigstens das, was die Öffentlichkeit darüber wusste oder zu wissen meinte. Er dachte an den Mann, den sie ohne zu zögern erschossen hatte. Vielleicht entwickelte sie hinter ihren kalten Augen gerade einen Plan, wie sie den Professor und seinen Assistenten auf besonders schmerzvolle Art loswurde.
Doch war er selbst besser? Auch Baldor hatte getötet. Aber das war nicht er gewesen. Nicht wirklich. Für Nethufia bedeutete es vermutlich nichts, ein Leben zu nehmen. Immerhin endeten jeden Tag so viele Existenzen auf ihrer Welt und begannen neu, dass der Tod seine Bedeutung verlor. Außer ihrem eigenen natürlich. Sie hatte ihr Leben so sehr geschätzt, dass sie sich bei ihm eingenistet hatte. Purer Egoismus – nicht anders, als bei ihm selbst. Doch er änderte sich gerade. Das glaubte er wenigstens. Galt das auch für Nethufia? Und könnte es auch für Sarah einen Weg zur Umkehr geben, Absolution für was auch immer sie verbrochen haben mochte?
"Aus welchen Gründen diese Labore auch immer verlassen wurden, es befanden sich noch immer Werkzeuge, Reagenzien oder vergessene Experimente in ihnen. Dok Wus Fall begann, als sie unglücklicherweise solch ein Labor für eines ihrer Abenteuer auswählte."
"Ich hoffe, du schmückst deine Erzählung jetzt nicht mit schlüpfrigen Details aus, sonst kotz ich!", unterbrach ihn Klara und steckte sich dabei demonstrativ einen Finger in den Hals.
"Keine Sorge, Kleine –"
"Ich zeig dir gleich, wer hier klein ist!"
"Okay, du bist der Boss, ich habe es verstanden."
Eine Ratte tauchte aus einem der Schatten auf und huschte an der Gruppe vorbei. Es hatten welche überlebt? Er freute sich für Klara.
"Im Labor, das sie sich an diesem Tag ausgesucht hatte, befanden sich Proben für die Erschaffung eines Vetis in seiner Urform."
"Bei der Großen Qualle", stöhnte Baldor. "Wer erschafft bitte freiwillig einen Vetis?"
"Jeder, der sich der Illusion hingibt, mächtig genug zu sein, dass er einen kontrollieren kann", mutmaßte Sergej.
Der Assistent schüttelte den Kopf. "Wer das war, ist nicht herausgekommen. Gab schließlich einen Sündenbock, auf den die ganze Schuld abgewälzt werden konnte. Irgendwie schaffte Dok Wu es, das Experiment zu starten. Sie konnte es nicht bändigen und hatte die großartige Idee, es einfach über einen der Aufzüge in der Unterwelt zu versenken."
"Woher sollte ich auch wissen, dass das Mistvieh so einen Sturz überlebt? Können wir jetzt aufhören, darüber zu reden?" Sie warf dem Assistenten einen Blick zu, der den Job ihrer Pistole übernahm – er brachte ihn zum Schweigen.
Sie erreichten ein Tor, das sich unspektakulär öffnete, als Professor Rigot darauf zutrat. Eine neue Welt empfing sie. Farbige Wände! Dieser Raum war in einem blassen Rot gehalten. Ein Medienpanel hing an der Wand und zeigte Männer und Frauen in Uniformen des Sicherheitskorps, wie sie voller Entschlossenheit den Außenring im Wechsel gegen Dinosaurier, Banden und Killerroboter verteidigten und von den Bewohnern der Stadt dafür gefeiert wurden. "Schließen Sie sich noch heute der Außenweltabteilung an und werden auch Sie zum Helden ihrer Mitbürger!" Baldor kannte solche Propagandafilme aus seiner Heimat, nur waren sie dort Bestandteil des Lehrmaterials über die dunkle Vergangenheit Nethufias gewesen.
Hinter einem Schalter saßen zwei Siks und starrten sie mit großen Augen an, als hätten sie noch nie einen Nethuf gesehen. Der eine hielt einen Becher in der Hand, der ihm im Seeschneckentempo aus seiner Hand glitt, als er die Neuankömmlinge musterte. Erst das Platschen seines Inhalts riss die beiden aus ihrer Starre. Der eine kramte ungeschickt nach seiner Pistole, die abwechselnd auf Dok Wu, Baldor und Sergej und Ngi richtete, unschlüssig, wer von ihnen die größte Gefahr war. Ngi tauchte aus dem Nichts auf und verschwand sofort wieder, als die Pistole zu ihm schwenkte. Baldor konnte seiner Mimik nicht entnehmen, ob der Sik besorgt war, dass Ngi unsichtbar war oder erleichtert, weil er sich nur noch zwischen drei Zielen entscheiden musste.
"Ich bin Professor Rigot von der Kanter-Gruppe. Meine ID zeigt meine Spezialbefugnisse in Verbindung mit einem Projekt höchster Wichtigkeit an. Diese Leute sind Bestandteil des Projektes. Machen sie keine Dummheiten, stecken Sie die Waffe weg und lassen sie uns passieren."
Der zweite Sik tippte auf seinem Medienpanel herum, nickte langsam, doch dann runzelte er die Stirn. "Ich sehe ihre Befugnis, Dr. Rigot. Mich beunruhigt das Fehlen der IDs bei Ihren Begleitern. Und diese Frau dort ..." Er nickte zu Sarah. "Sie steht ganz oben auf der Fahndungsliste."
War ja klar, dass so etwas passieren würde. Sergej verlagerte sein Gewicht, schob seine Stiefel quietschend in eine andere Position. Der war bereit, um über den Schalter zu springen und die beiden Männer platt zu machen.
"Ja, ja, ich weiß", antwortete Professor Rigot. Er sah gelassen zu Sergej hinüber, bewahrte selbst einen kühlen Kopf. "Wissen Sie, Sie sind jetzt der fünfte oder sechste der das erwähnt. Mein Projekt befasst sich mit den Folgen ihres Verbrechens. Da ich sie gerade erst aufgespürt habe, wird die Datenbank noch nicht aktualisiert worden sein. Es ist von äußerster Dringlichkeit, dass wir dieses Problem lösen." Er zuckte mit den Schultern. "Wenn es Ihr Gewissen und Ihr Pflichtgefühl beruhigt, dann setzen Sie eine weitere Meldung an das Hauptquartier ab. Nun, da sie sich in der Zitadelle befindet, kann sie ohnehin jederzeit aufgespürt werden."
Sarah wurde blass. "Du Arsch!", presste sie zwischen den Zähnen hervor, nicht hörbar für die beiden Siks.
Der Sik hinter dem Medienpanel nickte und machte eine Notiz, dann winkte er die Gruppe durch.
"Was sollte das, Dominique?", fuhr sie ihn an, als sie wieder in einem Gang standen und die Türen sich hinter ihnen geschlossen hatten.
"Liebes, wir werden ganz andere Probleme bekommen, wenn dieser Madun uns folgt. Sobald er uns hier drinnen attackiert, werden sie sowieso alle IDs überprüfen. Ich habe mit dem Unvermeidlichen nur unser Weiterkommen beschleunigt."
"Oh, ihr kennt euch also wirklich", stellte Sergej fest. "Nun, ich ... nein, will nicht mehr wissen. Es gibt andere Probleme. Durch den Haupteingang werden wir jetzt nicht mehr entkommen."
Das Gesicht des Professors hellte sich auf, als er vorschlug: "Ihr könntet in meinem Labor Unterschlupf finden. Das ist scannerfreies Gebiet."
"Haha, klar." Sergej bedachte ihn mit einer zweifelnd hochgezogenen Augenbraue. Vielleicht war das die Art Humor, die unter Wissenschaftlern verbreitet war. Nein, Baldor zweifelte, dass diese besseren Metzger überhaupt über irgendeine Art des Humors verfügten.
"Danke, aber nein danke. Wir werden durch die Unterweltetagen entkommen", bestimmte Sergej mit entschlossener Stimme und gab die Marschrichtung vor. "Draußen wird uns Madun nicht mehr aufspüren können. Baldor, wir werden auch dort Zeug für dich finden. Moritz ist tot. Auch wenn das beschissen ist und ich es ihm wirklich nicht gewünscht hätte, jetzt braucht er sein Techniklager nicht mehr. Dort muss irgendwas dabei sein, das dir hilft. Wir müssen nur noch ein Team auftreiben, der dein Schiff repariert."
"In der Enklave habe ich jemand Passendes gefunden", steuerte Ngi bei.
Sein Metallkörper schälte sich aus der Unsichtbarkeit und lief mit klackenden Schritten neben ihnen her. Falls das stimmte, würde er die Erde wirklich verlassen können? Baldor hatte dem Roboter Unrecht getan. Selbst wenn er für den Kampf ungeeignet war, hatte er sich inzwischen doch als nützlich erwiesen. Ihm sogar das Leben gerettet.
"Danke, Ngi", flüsterte Baldor. So ganz brachte er es trotzdem nicht über sich, ihm richtig zu danken.
"Wie soll das funktionieren?", fragte Rigot. "Ich meine, das ist das Blödeste, das ich je gehört habe. In der Unterwelt seid ihr so weit vom Ausgang entfernt, wie es nur geht. Mal abgesehen von dem Monster, das dort unten lauert."
Sergej setze sein Monstergrinsen auf. "Ich hatte heute bereits ein Gespräch mit einem Oberweltler, der glaubte, alles zu wissen. Ich erspare mir bei dir unnötige Erklärungen. Folgt mir einfach."