Obwohl sich die Tür mit dem sanften Rauschen eines Windhauchs öffnete, zuckte Professor Rigot zusammen. Jedes Öffnen der Tür, mochte es noch so unhörbar anmuten, jagte ihm einen Schauer den Rücken hinunter. Sie hatten alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, dennoch erwartete er, dass jeden Moment zwei Männer des Sicherheitskorps im Gleichschritt herein stapften, um ihn abzuführen. Einem ungewissen Schicksal entgegen.
Nein, verbesserte er sich, das Schicksal würde sehr gewiss sein. So war es seinem Vorgänger ergangen, von dem er dieses unselige Projekt geerbt hatte.
Es stellte sich heraus, dass es lediglich einer seiner Assistenten war. Rob oder Roy, er hatte sich den Namen nicht bewusst eingeprägt. Irgendetwas mit R war es auf jeden Fall. Die ersten zwei Wochen, seitdem er die Leitung des Projektes übernommen hatte, galt es wichtigere Aufgaben zu lösen. Sich die Namen der – jederzeit austauschbaren – Assistenten zu merken, stand auf seiner Prioritätenliste ziemlich weit unten.
»Professor Rigot?« Er zuckte wieder zusammen. Der Job machte ihn paranoid.
"Ja?", seufzte er. "Ist es etwas Wichtiges?"
"Ich denke, das könnte Sie interessieren." Der Assistent hielt ihm sein weißes Angeber-Medienpanel unter die Nase. Wollte er ihm irgendein lustiges Video zeigen? In Gedanken rutschte die Aufgabe, genau diesen Assistenten auszuwechseln, in die TOP 10 seiner Prioritätenliste. Er wischte das Medienpanel beiseite, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen.
"Professor, bitte", kam es flehend von seinem Assistenten. "Das kann unser Projekt retten … und unsere Hälse."
Das weckte allerdings seine Aufmerksamkeit und er griff nach dem Medienpanel, riss es aus den Händen des verzweifelten Mannes, noch bevor dieser die Wiedergabe starten konnte. Diese wichtige Aufgabe führte er besser selbst durch.
Es war der Kanal dieses berüchtigten Verbrechers, 'Die Faust des Irgendwas', der dort draußen hauste und sich unter den einfacher gestrickten Bürgern der Zitadelle einer gewissen Beliebtheit rühmte. Er jagte irgendjemanden durch die Ruinen. Aha, der Assistent hatte die Aufnahme bereits bearbeitet, denn das Gesicht seines Opfers wurde herangezoomt. Falls dies nicht dem Projekt diente, würde er ihm einen Tadel für verschwendete Arbeitszeit ausstellen. Oder er warf ihn direkt raus. Weniger Papierkram, weniger verletzter Stolz, den er ertragen musste. Die Assistenten waren ohne Ausnahme eitel und nachtragend.
Obwohl es zur Zeit der Aufnahme noch Nacht oder kurz vor der Dämmerung war, konnte Rigot das Gesicht klar erkennen. Der Verbrecher setzte eine hervorragende Videotechnik ein, auch wenn das schon alles war, was ihn auszeichnete. Das Gesicht wirkte menschlich, aber statt Haaren bedeckten Tentakel seinen Kopf. Auch die Hautfarbe passte mit ihrem Rot nicht wirklich in das Schema Mensch. War das ein Experiment eines anderen Labors?
Als sich das Tentakelwesen unter den Schüssen des Jägers in seine Einzelteile auflöste, verlor diese Frage an Wichtigkeit. Langsam wurde er ungeduldig. Der Assistent hatte es bereits gewagt, eine Minute und dreiundzwanzig Sekunden seiner Zeit zu verschwenden, zusätzlich zu der Zeit, bevor er dieses Video gestartet hatte.
Die nachfolgenden Geschehnisse änderten seine Meinung erheblich.
"Das ist genial!", rief Rigot aus.
Dem Assistenten, dem dicke Schweißperlen auf der Stirn standen, und der inzwischen so flach atmete, dass Rigot seine Anwesenheit fast vergessen hatte, fiel sichtlich ein Stein vom Herzen.
"Wenn wir den in die Finger bekommen, schaffen wir es wirklich, unser Projekt zu retten … oder ihm eine ganz neue Richtung zu verleihen!" Er löste seinen Blick vorsichtig vom Medienpanel und tastete sich auf seinen Labortisch vor, der mit Reagenzien, Proben und emsig arbeitenden Gerätschaften gefüllt war. Von dort sprang er mutig zu einem der mannshohen Glasbehälter.
Professor Rigot versank tiefer in seinem Schwebesessel. Als erwartete er, dass die zusammengekauerte Versuchsperson, die dort in der blauen Flüssigkeit schwebte, seine Barriere zerschmettern und ihn anfallen würde. Es war natürlich ein Freiwilliger. In Folge dessen, was mit anderen Freiwilligen geschehen war, war diese Angst dennoch nicht unbegründet.
Nachdem er seine anfängliche Furcht überwunden hatte, konnte er mit ansehen, wie das Bein der Versuchsperson Millimeter für Millimeter nachwuchs. Wie sich erst Knochen bildete, der anschließend von all den Schichten überdeckt werden würde, die einen menschlichen Körper funktionieren ließen.
Es schien perfekt. Diesem Schein jedoch Glauben zu schenken, hatte Rigots Vorgänger einen grausamen Tod beschert. Dem war vor einigen Monaten ein Durchbruch im Gebiet der Regeneration gelungen. Zuvor war es lediglich möglich gewesen, die natürliche Wundheilung des Menschen zu beschleunigen und das zu reparieren, was noch da war. Nun konnten selbst verlorene Körperteile nachwachsen lassen.
Tragischerweise hatte diese Methode eine psychologische Nebenwirkung auf ihren wichtigsten Patienten gehabt, den jüngsten Sohn der Familie Kanter. Diese Familie war eine der mächtigsten in der Zitadelle und ihr unterstand auch dieses Labor. Der Patient hatte ein Tagebuch über das Experiment geführt und seine Freundin hatte es dem Sicherheitskorps nach seinem Selbstmord zugespielt.
Professor Rigots Vorgänger war ein Bauernopfer des nachfolgenden Prozesses geworden, hatte den Prozessauftakt jedoch nicht überlebt. Ein fanatischer Biotech-Gegner sollte es gewesen sein. Aber sie alle wussten, dass der Auftrag für seinen Tod von der Familie kam. Die Labore wurden im Geheimen verlegt und so hatte er die Leitung über das Projekt erhalten.
Rigot war in der Rangordnung zu schnell aufgestiegen. Er musste zu ehrgeizig gewesen sein und irgendein Kollege weiter oben hatte ihn als Gefahr gesehen. So musste es sein, denn dieses unheilvolle Projekt war ein Weg, ihn schnell und für immer loszuwerden. Genauso standen schon andere Kollegen bereit, mit dem Messer hinter ihrem Rücken. Sie warteten darauf, dass er einen Fehler beging und sie zustechen konnten. Dass dieses Projekt für sie keine Aufstiegsmöglichkeit, sondern ebenso ihr Ende sein würde, ahnten sie natürlich nicht.
Jetzt hatte er einen Strohhalm gefunden, einen Weg, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Nicht nur das, er würde sogar an denen vorbeiziehen, die ihn in diese Lage gebracht hatten! Und sich dafür revanchieren, wenn er den Schuldigen ausgemacht hatte.
Der Nebeneffekt ihrer Regenerationsmethode lag darin, dass das Gehirn der Menschen irgendwann nicht mehr daran glaubte, dass es wirklich das eigene Bein oder der eigene Arm war, der da nachwuchs und diese Körperteile, oder gar der ganze Körper, nicht mehr reagierten. Dem jungen Kanter war genau das widerfahren und es hatte ihn in den Wahnsinn getrieben.
Dieser Junge mit den Tentakeln schien sich aber vollkommen ohne äußere Einwirkungen und in beiden seiner Gestalten von den schlimmsten Verletzungen erholen zu können. Irgendwo in seinen Genen oder seiner Psyche musste der Schlüssel liegen, um das Projekt zu vervollständigen. Dieser eine Hinweis, der ihm das Leben retten würde.
Er nickte seinem Assistenten zu. "Fordern sie ein Einsatzteam der Familie an. Wir müssen dieses Subjekt sicherstellen."
Ein Einsatzteam anzufordern war zwar riskant, im Vergleich zu einem misslungenen Projekt aber ein annehmbares Risiko.
Der Assistent verließ den Raum und das Rauschen der Tür ließ ihn erneut zusammenzucken. Er hoffte, dass er diese Furcht eines Tages wieder loswerden konnte.
Etwas anderes fiel ihm ein und lenkte ihn von seinem schwachen Nervenkostüm ab. Etwas, das, ohne diesen Zwischenfall gerade, für immer im Archiv seiner unbeachteten Nachrichten verstaubt wäre. Eine junge Kollegin, die er von früher aus der Hypothermieabteilung kannte, hatte ihm doch eine Nachricht geschickt. Per Gedankeninterface beförderte er die Oberfläche des ComNets auf sein Medienpanel. Er hatte seitdem Tausende andere Meldungen erhalten und versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Sie war Doktor der Hypothermie gewesen. Das schränkte die Anzahl der Nachrichten ein, sodass er es sich leisten konnte, die Benutzerbilder neben den Nachrichtenanfängen anzuzeigen, ohne dabei bis zum Ende der Zeit scrollen zu müssen.
Dank des hübschen Gesichts erkannte er sie. Ja, Doktor hyp. Sarah Wu. Sie hatte ihm einst einen Korb gegeben, weil er angeblich nicht ihr Typ gewesen war. Er war eben kein muskulöser, dafür dämlicher Sik. Sie hatte die Zitadelle vor einer Weile verlassen müssen, weil sie irgendein Experiment der Familie versaut hatte. Nun wollte sie mit seiner Hilfe zurückkehren und vielleicht sogar noch einen guten Posten absahnen.
Sie besaß Informationen über die Tentakelwesen, die ihrer Nachricht nach von einem anderen Planeten stammten. Nun, Rigot würde die Information über den Aufenthaltsort ausreichen. Allerdings war Sarah noch ehrgeiziger als er selbst. Das war gefährlich. Für sie stellte er nur einen Trittstein nach oben dar. Doch das machte nichts. Er würde ihre Informationen trotzdem annehmen, befürchtete aber, dass ihr bald schon ein kleiner Unfall widerfahren würde.
Er versuchte, eine Verbindung zu ihr aufzubauen, die sie aber nicht annahm. Wahrscheinlich befand sie sich in der Nähe des Wesens. Er hinterließ ihr also eine Nachricht.
'Liebste Sarah,
die Arbeit stand mir die letzten Tage bis zum Hals.
Ich bin sehr an deinen Informationen interessiert. Zufällig weiß ich von einem Projekt, das wie gemacht für dich scheint, und habe bereits ein gutes Wort für dich eingelegt. Wenn du mir eine Position und Zeit zukommen lässt, an der ich deinen neuen Freund kennenlernen kann, leite ich alles Weitere in die Wege.
Ich freue mich auf unser Wiedersehen,
Dominique'
Das würde ausreichen, falsche Hoffnungen in ihr zu wecken und ihr andeutungsweise ein falsches Bild über seine eigenen Hoffnungen zu geben. Falls sie sich tatsächlich in der Gesellschaft des Wesens befand, benötigte er ihre Information sowieso nicht. Es gab da noch jemanden im Sicherheitskorps, der ihm einen Gefallen schuldete, und der würde die Position ihres ID-Chips orten. Dann diente seine Nachricht nur dazu, um sie in Sicherheit zu wiegen.
Den Mann des Sicherheitskorps erreichte er sofort. Rigot war erfreut, wie bemüht er sich zeigte, seinem Wunsch nachzukommen. In Kürze würde dem Professor ein geheimer ComNet-Kanal zur Verfügung gestellt werden, mit dem er Sarahs Position auf Schritt und Tritt verfolgen konnte.
Er sah seinen Erfolg bereits vor sich, und als die Tür seines Labors sich das nächste Mal öffnete, um den Einsatzleiter einzulassen, war er von Zusammenzucken geheilt.