Der Abend brach an und sie schwammen gegen den Strom der Menschen, die nun in das Vergnügungsviertel drängten. Gekleidet in schlichtem Grau und Braun, in weniger stabilen Sachen als Sergejs und Klaras Rüstungen. Andere hingegen trugen verschlissene Jacken, mit eingearbeiteten Metallstücken. Baldor sah die Pistolen an ihren Gürteln und die Gewehre über den Schultern und zuckte zusammen.
"Pass auf, halt den Kopf unten", raunte Klara ihm zu. "Die einen sind angeheuerte Wachen der Kneipenbesitzer, die anderen Sklavenjäger."
"Sklaven?"
"Es geht immer noch ein bisschen schlimmer", murmelte Sergej. "Keine Sorge, wir passen auf dich auf. Wir und Klaras kleine Armee."
"Hmm ..." Klara fuhr mit den Fingern durch das Fell eines der Tiere. "Wenn so richtig üble Spinner auftauchen, haben meine Ratten natürlich Vorrang."
Er sah sie von der Seite an. Ihr Blick war fest auf die Ratte gerichtet.
"Danke Klara, jetzt hab ich mich gerade sicher ge..." Klaras Mundwinkel zuckte, ihr Mund öffnete sich und legte ihre weißen Zähne zu einem frechen Grinsen frei. "Bei der Großen Qualle," fluchte er und lachte.
"Ihr beiden versteht euch ja immer besser. Was ist nur aus meiner mürrischen, pubertierenden Ziehtochter geworden?"
"Die spart sich ihren Zorn für ihren Ziehvater auf, falls er ihr wieder mal zu sehr auf die Nerven geht."
Sie riss ihre Hände in die Höhe und wankte auf Sergej zu. Der spielte den Angsthasen, versteckte sich hinter Sarah – und bereute es sogleich.
"Bei der Zitadelle", fluchte sie. "Ihr habt echt nichts Besseres zu tun, als rumzualbern? Wer von euch ist eigentlich das Kind?"
"Keiner, du griesgrämige Oma!"
Gerechterweise streckte Klara auch ihr die Zunge raus. Der Einzige, der sie noch nicht zu sehen bekommen hatte, war der schweigsame Ngi. Das war sonderbar. Sonst sparte er doch auch nicht mit Kommentaren und ließ keine Gelegenheit aus, ihn Chef oder Meister zu nennen.
Baldor gab der sonderbaren Eingebung nach, den Roboter nach seinen Gefühlen zu fragen. "Ngi, bedrückt dich etwas?" Verrückt, was er erwartete er schon für eine Antwort? Seine Freunde hätten ihn dafür vor ein paar Tagen noch ausgelacht. Aber ... jetzt waren sie tot, was bedeutete ihm ihr imaginäres Gelächter noch?
"Boss, meinst du, wir schaffen es, hier wegzukommen?"
"Hast du Zweifel?" Er gab sich selbstsicher. Doch wem machte er was vor? Natürlich zweifelte er selbst immer wieder daran. Warum auch nicht? Er war schon so oft in lebensgefährliche Situationen gekommen, dass es nur Glück war, dass er sich jetzt in der Zitadellenstadt befand. Andererseits, wenn dieses Glück anhielt, musste die Suche nach Ersatzteilen und Treibstoff doch ein Erfolg werden, oder? "Sieh mal, wir haben hier drei tolle Freunde," – von denen einer ihn aus der Rauchwolke geschubst hatte – "eine Armee von Ratten und ich trage einen ganzen Planeten in meinem Herzen."
"Boss, wenn sich ein Planet in deinem Herzen befände, wärst du inzwischen tot."
"Ich meine das im übertragenen Sinne. Ich bin mutig, wie ein Planet."
"Das trifft es eher, Chef. Es zeugt schon von Mut, in den Weiten des Alls um einen tödlichen Gaskörper zu kreisen."
"Siehst du! Außerdem bist ja auch du da. Wenn du zum richtigen Zeitpunkt noch kämpfen würdest, wäre unser Erfolg zu 110% garantiert."
"Ich gebe alles, um mein Protokoll zu überwinden, aber irgendwie scheitere ich stets. Tut mir leid, Boss." Ngis Stimme wurde bei den letzten Worten leiser und fast schon erwartete Baldor, dass dem Blecheimer gleich eine Ölträne über das metallische Gesicht rollen würde.
"Schon gut, Ngi, schon gut." Doch ernsthaft, warum kümmerte er sich um die Gefühle eines Roboters? Ein schockierender Gedanke: War er ihm – trotz seiner Mängel – ans Herz gewachsen? Das musste an seiner einsamen Kindheit liegen. Jetzt, da er auf einmal unter Leuten war, sog er ihre Freundlichkeit – war sie nun echt oder eingebildet – wie ein Schwamm auf. Er versuchte, diese Gefühle zu verdrängen. Wenn er wieder an sein Geld kam, wieder der mächtige Sohn des Präsidenten war, dann konnte er es sich doch nicht erlauben, empfänglich für so etwas zu sein.
"Boss, es bedeutet mir echt viel, dass du mich trotz meines fehlerhaften Protokolls noch nicht zum Schrottplatz gejagt hast."
Verdammt! Schon war die Mauer der Isolation noch im Aufbau wieder eingerissen.
"Das Militär hatte mich bereits aussortiert, nur durch den Angriff der Vetis bin ich wieder eingezogen worden, um meiner eigentlichen Bestimmung nachzukommen. Dass ich sogar an der Rettung des Sohns des Präsidenten beteiligt sein dürfte, hätte ich mir nie erträumt, Boss."
Wenn Ngi so etwas sagte, wie würde er ihn je wieder wegschicken können?
Sarah stöhnte. "Das bringt einen ja glatt zum Heulen."
Sie hingegen wegzuschicken, würde ihm in keinster Weise schwerfallen. Obwohl es zwischen ihr und Sergej kriselte und Klara sie nicht ausstehen konnte, war sie immer noch da. Wahrscheinlich hatte sie unter ihrer ekligen Fassade einfach nur Angst, dem Mob allein zu begegnen.
Von dem blieben sie verschont. Die Menschen in diesem Viertel hatten um diese Uhrzeit anderes im Sinn, als sich mit ihnen und den Ratten anzulegen, und sie erreichten den Ausgang des Viertels. Drei Ringe später, standen sie vor einem anderen Problem: das Tor in den nächsten Ring.
Scheinbar gab es so etwas wie eine Sperrstunde. Ab der durfte man die Bezirksgrenzen nicht überschreiten – nicht ohne die entsprechenden Sonderbefugnisse. Besonders nicht, wenn man nicht einmal in der Stadt lebte.
"Müssen wir jetzt wieder durch die Kanäle?" Ein unerträglicher Juckreiz krabbelte bei diesem Gedanken von Baldors Nasenspitze aus über seine Wangen.
"Lieber sterbe ich." Mit einer Handbewegung wischte Sarah diese Idee beiseite und zeigte auf das Tor. "Sergej, kannst du nicht einfach das Tor einschlagen?"
"Nicht, dass ich generell etwas dagegen hätte, ist ja nur die Zitadellenstadt. Aber wenn wir schon auf dem Weg hinein alles in Schutt und Trümmer legen, haben wir gleich das ganze Sicherheitskorps an der Backe. Wenn die sehen, dass wir in die Zitadelle einbrechen wollen, dann bemühen sich sogar die Schnarchnasen aus den Oberweltetagen zur Verteidigung heraus."
"Ist das ein Problem, für so einen starken Kerl wie dich?"
Was hatte sie vor? Selbst Baldor war klar, dass das eine dämliche Idee war.
"Du überschätzt meine Haltbarkeit enorm."
"Willst du hier etwa ein Lager aufschlagen? Am Ende rückt wer weiß wer an, um Baldor zu entführen."
Klar. Als ob sie sich wirklich Sorgen um ihn machte. Zumindest in einem stimmte er ihr aber zu: Er wollte hier auch nicht bleiben. Je mehr Zeit er verlor, desto wahrscheinlicher wurde es, dass er, Pangasius oder das Schiff irgendwelchen Spinnern zum Opfer fielen.
"Vielleicht kann Nethufia uns helfen", schlug Baldor vor.
"Ja, das ist eine phantastische Idee." Sarah warf die Arme hoch. "Ein Monster, das über die Mauer klettert und die Stadt verwüstet? Das ist natürlich tausendmal unauffälliger."
Klara drückte sich Sarah vorbei.
"Hey, was …"
Zwei Ratten stellten sich vor ihr auf und Sarah schluckte den Rest ihrer Beschwerde runter. "Gibt es Frischluftkanäle in der Stadt?", fragte Klara. "Irgendwas außer der Kanalisation?"
"Nein, die brauchen sie nur in der Zitadelle. Hier gibt es nur Kanäle innerhalb der einzelnen Wohnkomplexe." Sergej kratzte sich am Kopf. "Ich bin ratlos. Vielleicht sollten …" Er fuhr herum und legte einen Finger an die Lippen.
Sarahs Hand fuhr zu ihrer Waffe, als eine Gestalt aus dem Schatten neben dem Tor trat. Ein Mann in braunem Mantel, der beschwichtigend die Hände hob.
"Hallo Leute, ich würde es bevorzugen, wenn ihr die Waffen stecken lasst."
"Wer bist du?"
"Ich bin Toby Telegraph, Journalist von Madun Media. Es tut mir aufrichtig leid, aber da ich nichts gegen meine neugierige Natur ausrichten kann, kam ich nicht umhin, bei eurem Gespräch hellhörig zu werden."
"So?" Sergej ließ die Finger seiner Armprothese knacken, doch der Journalist ließ sich davon nicht ablenken.
"Es scheint so, als hätte ihr und ich ein gemeinsames Interesse."
"Den Sturz des Stadtrates?", fragte Sergej verblüfft.
"Ah … auch wenn das viel Stoff für interessante Reportagen liefern würde, meine ich im Moment etwas anderes. Es geht um Baldor."
Baldor hob die Augenbrauen. Klar, gerade hatte er noch daran gedacht, wie schnell die nächsten Spinner auftauchen würden und schon war der erste da. Er musterte den Mann genauer – irgendwie kam er ihm bekannt vor. "Hey, du gehörst doch zu denen, die mich in der Ruine interviewt haben, oder?"
Der Mann lächelte. "Sehr genau. Du scheinst neben deinem unverwundbaren Körper auch noch ein spitzenmäßiges Gedächtnis zu besitzen!"
"Ihr seid schuld, dass sie jetzt überall Jagd auf ihn machen und dann traut ihr euch noch in unsere Nähe?" Klara schob ihr Kinn vor, so wie sie es vorher beim Major getan hatte. Doch die bedrohliche Pose sah mit ihren sauberen Haaren und der gereinigten Rüstung nur noch halb so spektakulär aus.
"Nein, nein, keine Sorge." Er senkte die Stimme. "Um ehrlich zu sein, wurde unser Interview noch gar nicht ausgestrahlt, gerade um zu verhindern, dass du in noch größere Gefahr geraten könntest. Wir sind der Meinung, dass es sinnvoller wäre, damit zu warten, bis du sicher in der Zitadelle angekommen bist."
Sergej brummte. "Und warum sollte gerade euch Medienheinis jucken, dass Baldor irgendwo unbemerkt ankommt?", fragte er argwöhnisch. "Geht euch dann nicht die Story des Jahrtausends flöten?"
"Ich gebe es offen zu: Natürlich ist das nicht vollkommen uneigennützig. Wir wollen exklusiv über Baldor, den Sohn des Präsidenten der untergegangenen Welt Nethufia berichten – und seinen Weg begleiten. Neben den Einschaltquoten sehen wir aber auch den Gewinn, den es für die Bürger haben kann, wenn sie ihn auf die richtige Weise kennenlernen. Vor allem, wenn es dort draußen noch mehr Unbekanntes gibt. Dann ist es wichtig, dem mit der richtigen Einstellung zu begegnen."
"Du meinst, ihr habt Angst, dass eine feindliche Armee anrücken könnte, wenn herauskommt, dass Baldor auf der Erde von einem wütenden Mob an einer Straßenlaterne aufgehängt wurde?"
"Das ist eine nicht ganz unberechtigte Furcht, oder nicht? Also beides. Auch wenn mir durchaus bewusst ist, dass es selbst hier draußen keine Straßenlaternen mehr gibt."
Sergej wollte noch was sagen, aber so langsam hatte Baldor genug davon, über seinen hypothetischen Tod und dessen Folgen zu reden. "Du kannst uns nicht nur durch dieses Tor, sondern auch sicher bis in die Zitadelle bringen?"
Toby Telegraph grinste breit. "Genau dafür bin ich doch hier."