Graue Mauern hoben sich links und rechts in die Höhe und ließen nur Platz für einen schmalen Streifen blauen Himmels. Neben den anderen fühlte sich Baldor wie eine Sardine – eingepfercht und in der Gefahr, jederzeit von einem hungrigen Menschen herausgepickt zu werden. Obwohl sie hier an der der frischen Luft waren, war der Weg durch die Außenbezirke der Zitadellenstadt genauso deprimierend, wie die Gänge in der Basis oder Calus Keller.
An die Wände und in die Nischen klammerten sich dicht gedrängte Hütten aus Schrott. Metallplatten, ehemalige Teile von Landfahrzeugen der Menschen. Holzabfälle, die von der Ernte am Stadtrand übrig geblieben waren. Davor hockten teilnahmslos Frauen, Männer und Kinder. Manche blickten kurz auf, wenn die seltsame Gruppe vorbeikam, dann schnell zurück auf den Boden vor sich. Einige wenige trauten sich an sie heran.
Ein Kind – mit so großen Augen, dass sie ihm eigentlich aus dem Kopf fallen mussten – hielt vor Baldor die Hände auf. Bevor er überlegen konnte, was es von ihm wollte, fauchte es hinter ihm und ein anderes Kind rannte schreiend davon.
"Bettler und Diebe." Klara seufzte. "Mit etwas Pech wäre ich heute an ihrer Stelle."
Die Ratte, die den kleinen Dieb vertrieben hatte, huschte wieder in die Schatten, von denen es hier viel zu viele gab.
Sie kamen an einem weiteren der gigantischen Medienpanels vorbei, die hier überall an den Mauern hingen und Unterhaltung auf die darunter versammelte Menge ergossen. An den Rändern des Platzes kassierten Schläger Gebühren in Form von Naturalien bei jedem, der unbeschadet in den Genuss der Bestrahlung kommen wollte.
Einer von ihnen kam mit einem Lächeln auf ihre Gruppe zu. Als sie nur noch zwei Meter trennten, stieß Sergej seine mechanische Faust in die Mauer neben ihnen. Das Lächeln verschwand, der Mann folgte seinem Lächeln und tauchte in der Menge unter. Sergej zog mit einem zufriedenen Grinsen die Faust aus dem Loch. Baldor fragte sich, ob sein heldenhafter Begleiter in Wirklichkeit nicht viel besser zum Verbrecher taugte.
Je weiter sie kamen, desto dichter drängten sich die improvisierten Hütten aneinander, und desto größer wurden die Ansammlungen um die Medienpanels. Auch die Art der Menschen, die sich hier versammelt hatten, veränderte sich. Grimmiger, schmutziger und – bewaffnet.
Primitive Schusswaffen hingen an ihren Seiten – primitiv selbst für den Maßstab der Erde. Grobschlächtige Knüppel und Stangen lagen in ihren Händen.
"Ist das eine Bande?" Sarah ließ ihren Mund einen winzigen Spalt offen und sog kaum hörbar die Luft ein.
"Sollte es innerhalb der Stadtmauern eigentlich keine geben." Sergej fuhr sich mit seiner menschlichen Hand über die winzigen Stoppeln am Kinn. "Lover hat nicht übertrieben, dass ihnen die Situation hier über den Kopf wächst. So viel zu meiner Aussage, dass sich hier drinnen kaum etwas für die Menschen geändert hat. Scheiße, es ist sogar schlechter geworden." Er klang, als hätte er gerade eine niederschmetternde Niederlage erlitten.
"Hey, das ist nicht deine Schuld!" Sarah legte eine Hand auf seinen Rücken, versuchte, ihn aufzumuntern. Nein, es war nicht seine Schuld. Nein, wenn Baldor das vorher richtig verstanden hatte, war Sarah selbst nicht ganz unschuldig am Unglück der Menschen hier. Trotzdem schien Sergej eher wie der Typ, der die Schuld auf sich nehmen würde, bevor er seine Freundin dafür verurteilte.
Vor diesem Medienpanel hatte sich ein in synthetische Lumpen gehüllter Mann aufgebaut. Von einer Metallkiste herab und eine schwer anmutende Keule schwingend sprach er zu den versammelten Menschen, die ihm mit zustimmenden Schreien antworteten. Da sie an ihm vorbei mussten, ergossen sich seine Worte unweigerlich auch über sie.
"... in den Tiefen und nun Monster dort draußen? Wie weit soll es noch mit uns kommen, Brüder und Schwestern, bis wir die Wahrheit sehn?"
Zustimmendes Raunen.
"Der Rat verschließt seine Augen und die Siks verkriechen sich in ihren Bunkern. Sie warten darauf, dass wir gefressen werden und unsere Stimme verstummt. Wollt ihr untergehen, wie unsere Brüder in den Tiefen?"
Der Chor der Menge antwortete in einem schallenden: "Nein!"
"Wenn uns das Sicherheitskorps nicht verteidigen will, sollten wir unseren Schutz dann nicht selbst in die Hand nehmen?"
"Ja!", antwortete der Chor.
"Etwa mit Knüppeln und Platzpatronen?" Fragend hob er seine Keule mit beiden Händen in die Luft und erntete die erwartete Reaktion.
"Sollten wir den alten Mann warnen?" Klara gab sich nicht einmal Mühe, zu flüstern, dafür war die Menge viel zu laut. "Nicht, dass sie seine Waffenkammer stürmen."
Bevor jemand ihre Frage beantworten konnte, ging ein Raunen durch die Menge. Das Medienpanel war zum Leben erwacht. Baldor warf einen flüchtigen Blick darauf und wurde von einem bekannten Bild begrüßt.
'Die Faust des Calu', die in ihrem Anzug durch finstere und verfallene Gänge rannte und schließlich in einer Höhle zum Stehen kam.
"Nachdem ich neulich gegen den schrecklichen Tentakoloss den Kürzeren ziehen musste, habe ich aufgerüstet", dröhnte seine Stimme aus den Lautsprechern. "Leider hat er auf meine Anfrage auf eine Revanche nicht geantwortet. Bis er sich aus dem finsteren Loch traut, in das er sich verkrochen hat, kümmere ich mich um eins der anderen Übel. Hier in den Tiefen der Zitadelle."
Sarah blieb ruckartig stehen und sah zum Medienpanel. "Oh, nein ..."
Die Scheinwerferkegel Calus Kameradrohnen blieben an einem unförmigen Klumpen hängen, der das Licht hellblau reflektierte. Eine Gestalt, die mit dem Rücken zu den Zuschauern saß. Ein Stahlträger ragte aus ihrem Rücken, hatte sie durchbohrt.
Die Kameras und Calu näherten sich der Gestalt, der Winkel änderte sich und es wurde klar, dass sie keinesfalls durchbohrt war. Sie hielt den Stahlträger in der Hand und kaute darauf.
"Nein, nein, nein!", wiederholte Sarah ihre Worte. "Hau ab, du Idiot!". Sie brüllte das Medienpanel an, als ob sie hoffte, dass Calu oder die Gestalt sie hörten. Ein paar der Zuschauer drehten sich zu ihr um, dann wieder zurück zum Medienpanel, um nichts zu verpassen. Einer musterte Sarah etwas argwöhnischer, aber nur für einen kurzen Moment länger als der Rest.
Calu drehte sich in die Kamera und hielt einen seiner Arme ins Bild, an deren Ende eine großkalibrige Killerwaffe grünlich schimmerte. "Daran habe ich heute Nacht gebastelt und damit werde ich das Monster gleich zerlegen!"
Lang und breit erklärte er die Funktion seiner Superwaffe und bemerkte so nicht, wie das Monster seinen Kopf drehte. Unerwartet machte es einen Satz, der überhaupt nicht zu seiner massigen Figur passte und spannte seine Flügel ab. Sie füllten das Kamerabild aus und ein Windstoß trieb die Drohnen zurück. Mit einem Flügelschlag stürzte es sich auf Calu.
Das bemerkte nun auch der, riss seine Kanone herum und feuerte.
Ein grüner Blitz erhellte die Höhle, hüllte Betonpfosten in seinen Schein und für einen Augenblick glaubte Baldor, dass der Boden mit Schädeln gepflastert war. Das Monster zuckte in der Luft, stürzte vom Himmel und schlitterte durch den Schutt auf Calu zu. Dort blieb es als lebloser Fleischsack zu seinen Füßen liegen.
Die Menge jubelte, doch Sarah schüttelte nur den Kopf. Sie murmelte etwas vor sich hin, das Baldor nicht verstand. Plötzlich verstummten die Freudenschreie und die Menge stöhnte auf. Die Menschen blickten entsetzt auf das Medienpanel, also sah auch er wieder hin.
Da saß das Monster, direkt vor der Kamera und hielt einen schwarzen Arm in der Hand. Eines der Kamerabilder kippte, schwenkte über den massigen Körper des Monsters. Es wackelte und blieb schließlich fest auf die Decke ausgerichtet. Die Aufnahmen der beiden Kameradrohnen liefen weiter und zeigten, wie das Monster den Anzug packte.
Erschrecktes Raunen ging durch die Menge und eine Mutter neben ihnen hielt einem Kind die Augen zu. Was hatte das hier überhaupt zu suchen?
Gelbe Zähne kratzen über die Panzerung und beim Qietschen, das sadistisch aus den Lautsprechern drang, zuckten Baldors Tentakelhärchen unkontrolliert. Es knirschte, die Zähne gruben sich in die Rüstung. Als wäre Calu nicht mehr als ein Algenburger, biss das Monster ein Stück aus seinem Torso heraus. Die Anzeige des Anzugs flackerte rot auf und zeigte den Schaden an. Piepsende Warnmeldungen vermischten sich mit Panzerplatten und Knochen, die im Maul dieser unwirklichen Kreatur zerrieben wurden.
Ein weiterer Biss und die Anzeige fiel aus.
Das Medienpanel fror ein und der Redner wetterte los: "Das ist vor einer Stunde passiert. Wer soll uns schützen, jetzt wo 'Die Faust des Calu' tot ist?"
Die Menge blieb still.
"Richtig. Da ist niemand mehr ... niemand außer uns selbst." Die letzten Worte flüsterte er, aber in der Stille hätte man auch einen Goldfisch atmen hören können.
"Also", setzte er an. Sicher, um zum Sturm auf das Hauptquartier des Sicherheitskorps aufzurufen. Doch er sprach nicht weiter. Starrte vor sich hin. Hatte er etwas entdeckt, das ihn so sehr aus der Fassung brachte, dass er den Rest seines Satzes vergaß?
Hatte er. Ihre Gruppe.
Er senkte seine Keule in ihre Richtung. Die Menschen drehten sich einer nach dem anderen zu ihnen um. Den meisten war anzusehen, dass sie etwas Bekanntes sahen. Hatten sie ihn erkannt? Klar, seine Tentakel waren hier einzigartig, also ...
"Das ist doch Dok Wu!", kam es von irgendwo.
Er atmete auf.
"Und der Tentakeljunge!"
Schellpisse!
"Sie hat das Monster erschaffen! Sie hat bestimmt auch Tentakoloss ...", fing einer an, doch sein Satz ging unter dem Schrei des nächsten unter.
"Tötet sie!"
Die Menge griff den Ruf auf, der Redner stieß seine Keule in die Luft und die Meute begann vorzustürmen.
"Ach du Scheiße", zischte Klara."Wer hatte die bescheuerte Idee, hier stehen zu bleiben?"
"Hör verdammt noch mal auf zu fluchen! Renn!" Sergej packte sie am Arm und zog sie hinter sich her. Sarah hatte bereits reagiert, als sie ihren Namen das erste Mal gehört hatte, und war ihnen bereits ein paar Schritte voraus. Ngi hatte das getan, was er am besten konnte – sich in Luft aufgelöst. Nur Baldor brauchte einen Moment länger als alle anderen. "Hey, wartet auf mich!"
Die anderen kamen nicht weit, ehe Baldor aufholte. Ihr Weg hatte sie in eine Sackgasse geführt.
"Mist!", rief Sergej und bremste.
"Tut mir leid, Sergej." Klara wand sich aus seinem Griff und rieb ihr Handgelenk. "Du hast mir keine Zeit gelassen, meine Kleinen zum Auskundschaften vorzuschicken."
Das Toben der Menge hallte an den Wänden der Gasse wieder und gemeinsam drehten sie sich ihnen entgegen.
Sarah zog ihre Waffe. "Kannst du dich verwandeln, Baldor?"
"Bist du bescheuert?", fuhr Klara sie an. "Weißt du, wie groß er wird? Ich dachte, Doktoren sind schlau."
"Seh ich aus wie ein Doktor der Zoologie? Andere Ideen? Sonst machen wir es auf die altmodische Art."
Die Vorhut des Lynchmobs bog um die Ecke und ließ keine Zeit für eine Antwort. Sarah legte an – so als hätte sie das schon tausend Mal getan – an und brannte dem Ersten ein qualmendes, muschelgroßes Loch in den Schädel. Das brachte die beiden Männer hinter ihm ins Stocken – und Sergej zum Japsen.
"Du hast ihn getötet! Sarah! Wir sind doch die Guten!"
"Komm mir jetzt nicht mit so einem Scheiß! Die wollen uns umbringen! Nicht nur mich. Dich, den Jungen und deine Kleine auch. Das sind Mons –"
"Sergej!", rief Klara dazwischen. "Kanalisation, unter uns!"
"Was?" Sergej war vom plötzlichen Themenwechsel überrumpelt.
"Schlag – zu!", betonte Klara die beiden Worte deutlich, damit er diesmal verstand, was sie wollte. Die Botschaft kam an.
Die Blicke der Männer vor ihnen, die sich noch vom Schock des Schusses erholten, folgten Sergejs Arm mit großen Augen. Den reckte er knisternd in die Höhe. Dann sauste er auf den Boden zu, zertrümmerte ihn und die Schwerkraft riss sie in einen blubbernden Kanal, dessen Gestank Baldor instinktiv die Luft anhalten ließ.