Eine halbe Stunde lang führte Klara sie zielsicher durch das Labyrinth der Tunnel, bis sie vor einer Wand zum Stehen kamen. Eine Sackgasse?
"War irgendwie klar", kommentierte Toby emotionslos.
Klara streckte unbeirrt eine Hand aus, die in der Wand verschwand. Ein Trugbild?
"Das ist ein geheimer Eingang, der in den zweitinnersten Ring führt. Ab hier kenne ich mich wirklich wieder aus." Sie verschwand in der Wand, gefolgt vom Rest.
Dahinter führte eine Treppe zurück an die Oberfläche. Die Wände der Mauern und Gebäudekomplexe fluoreszierten in grünen Farben und warfen ein fast vertraut wirkendes Flimmern auf die Straße. Wäre die Straße mit einer Schicht aus Wasser bedeckt gewesen, hätte Baldor beinahe geglaubt, durch sein Anwesen auf Nethufia zu spazieren.
"Der Teil dieses Rings, den die Enklave besetzte, zieht sich nicht vollkommen um die Zitadelle." Toby Telegraph konnte sich nicht von der Gruppe lösen, da er sonst seine Story verlor, und so hatte er ihn die Strecke über mit Informationen zur Stadt überhäuft. Offenbar seine Methode, um die Nervosität zu bekämpfen. "Damals, als die Zitadelle errichtet wurde, blieb dieser erste Ring unvollendet. Autonom und bis auf wenige Verbindungsgänge von der Zitadelle abgeschottet, war er der ideale Abladeplatz für Kriminelle."
"Und für alle, die den Mächtigen unangenehm wurden", ergänzte Sergej trocken. "Ich frage mich, was sie jetzt mit denen machen." Nach ein paar Minuten auf Ngis Rücken war er wieder so kräftig gewesen, dass er sich befreit hatte, und lief inzwischen schon wieder selbst. Die schwarze Kruste, die sein Gesicht bedeckte, bröckelte langsam ab und darunter kamen Muskelgewebe und rohes Fleisch zum Vorschein. An einigen Stellen bildete sich bereits zarte, neue Haut.
"U139 wurde zum Gefängnistrakt umgebaut. Verschwörungstheorien sind allerdings nicht mein Fachgebiet, deswegen kann ich nichts darüber sagen, wo deine ominösen Mächtigen ihre Widersacher verschwinden lassen."
"Ja, ja, da haben wir sie wieder, die Ignoranz der Oberwelt!"
Der Journalist war inzwischen sichtlich genervt von Sergejs ständigen Einwürfen. "Liefert Beweise dafür! Dann wird sich jeder Medienkanal darum prügeln, den Skandal aufzudecken!"
"Es gibt Beweise!", antwortete Klara bestimmt. "Sie liegen der Abteilungen des Rates vor, die die Öffnung des Tores und den Tod des damaligen obersten Rates untersuchen."
Tobys Augen blitzen auf. Ein Hoffnungsschimmer, heute gleich noch eine gute Geschichte an Land gezogen haben? Doch Sergej machte die zunichte.
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass die breite Masse je etwas davon erfährt. So, wie Ereignisse der Toröffnung umgedichtet wurden oder die Scheinprozesse gegen die ehemaligen Insassen des Rings. Da hängen auch die großen Medienkonzerne drin. Aber Madun Media ist eher ein kleine Licht, oder?"
"Wenn du meinst", quittierte Toby diese Aussage mit demselben Interesse, das er schon den anderen Verschwörungstheorien entgegengebracht hatte.
Sie passierte ein Warnschild des Sicherheitskorps. "Sie verlassen nun den überwachten Bereich", las Baldor vor. So wie er das verstanden hatte, machte das aber kaum einen Unterschied. Alles, was er bisher von den Gesetzeshütern zu Gesicht bekommen hatte, verbarrikadierte sich in ihrem Kommandobunker.
Die Beschaffenheit der Mauer veränderte sich. Der Abschnitt, der hier begann, war älter und trug die Zeichen der vergangenen Jahrzehnte. Die Wände mussten irgendwann einmal weiß gewesen sein, wie einzelne, durchscheinende Flecken verrieten, waren aber jetzt wahlweise grau, braun oder grün von Pflanzenwachstum und Moosbefall. Er ließ seine Finger hindurchgleiten und spürte darunter kaltes Metall. Er hatte sich bei der weißen Farbe nicht getäuscht. Niveum, ein Metall, das sicher nicht von der Erde stammte. Seine Finger rutschten ab und stießen mit einem hohlen Klang auf ein anderes Material. Ein großes Fenster, drei Mal so hoch wie Baldor und einige Schritte breit. Es ließ einen Blick in das dunstige Innere zu. War da ein Wald im Inneren des Gebäudes?
"Wozu sperrt ihr die Bäume ein?"
"Bis vor einem Jahr haben alle geglaubt, dass hier draußen", Sergej machte eine ausholende Geste, die alle äußeren Ringe der Zitadelle einfasste,"eine Eiszeit herrscht. Die Zitadelle umfasst viele Biotope und Agraretagen."
"Hmm, Wir kamen an einem Info-Satelliten vorbei. Es gab wirklich eine Eiszeit. Als Waffe der Vetis."
"Gibt es auch außerirdische Verschwörungstheoretiker?" Der Journalist lachte. "Die Vetis sind doch eine Erfindung der Medien. Ein Sinnbild des Winters. Die Helden in der Inszenierung haben die Vetis besiegt. Das symbolisiert den Sieg der Menschheit über die Eiszeit."
Klara stöhnte. "Glaubst du den Mist wirklich, den du da erzählst?"
"Hey, pssst. Er scheint nicht so weit oben in der Nahrungskette seines Konzerns zu stehen", flüsterte ihr Sergej unter vorgehaltener Hand zu.
"Ich kann euch sehr gut hören! Wollt ihr mir wirklich erzählen, dass die gesamte Zitadelle keine Ahnung hat, was um sie herum geschieht, aber ihr beiden schon?"
"Ja." Sergej nickte. "Schau, du weißt, dass Baldor ein Außerirdischer ist, oder?"
"Ich denke schon. Ich meine, er sieht nicht wie ein Mensch aus und er ist auf der Suche nach Ersatzteilen für sein Raumschiff."
"Könnte aber auch nur eine Sache sein, die wir uns ausgedacht haben, damit wir in die Zitadelle kommen. Könnte eine Verkleidung sein oder ein Experiment der Konzerne."
"Ich habe das Video von der Faust des Calu gesehen. Das spricht doch für sich selbst."
Sergej zog seine Stirn in Falten. Wahrscheinlich wollte er die Augenbrauen hochziehen. Stattdessen rieselte eine Prise schwarzer Flöckchen vor seinem Gesicht dem Boden entgegen. "Bei deinem Job müsstest du das doch hinterfragt haben, oder nicht? Einen Beweis haben, dass er sich wirklich in ein Monster verwandeln kann."
Toby Telegraph blieb stumm.
"Siehst du? Du kannst nur das glauben, was du erlebt hast. Wir waren es, die das Tor in die Außenwelt geöffnet haben. Weil wir wussten, dass die Eiszeit schon vierzig Jahren lang nur noch ein Betrug war. Ein Betrug der Vetis, die genauso außerirdisch sind, wie Baldor, genauso wie Teile in unserem Körper. Was denkst du, warum ich in das Feuer gehen konnte und immer noch lebe? Oder warum Klara nur mit dem Kopf nicken muss und eine Armee von Ratten über dich her fällt?"
"Okay ... du kannst dich wirklich in ein Monster verwandeln und der Rest von deiner und ihrer Story stimmt?"
Baldor sah dem Journalisten seine Erschöpfung an. Er war gerade dabei, aus seiner Höhle zu treten und zu erkennen, dass es eine ganze Welt gab, die er nicht kannte.
"Natürlich. Ich bin der Sohn des Präsidenten, warum sollte ich mir das ausdenken? Was ihr Menschen glaubt, könnt ihr übrigens unter euch ausmachen, ich will nur weg von hier."
Der Journalist nickte müde. Wahrscheinlich war ihm klar, dass er, selbst wenn er Klara und Sergej mit ihren Infos in seine Show bekam, ihm niemand sonst glauben würde.
Eine Bewegung lenkte Baldor von dieser Feststellung ab.
Zwei von diesen Drohnen schossen aus einem Vorsprung hervor und richteten Rohre und Antennen auf sie. "Unbekannte Eindringlinge, dies ist Gebiet der Enklave! Identifizieren Sie sich!", schallte es blechern aus ihren Lautsprechern.
"Ich bin Eisenarm!", rief Sergej.
Eine rote Linie zitterte über seinen verkohlten Körper.
"Optische Identifizierung fehlgeschlagen - initiiere Säuberung des Areals."
"Scheiße!"
"Hey, was ist mit mir?", beklagte sich Klara beleidigt. "Will mich denn niemand identifizieren?"
"Geh in Deckung, sonst identifizieren sie nachher nur deine Überreste!", brüllte Sergej, während er versuchte, hinter einer Barrikade in Deckung zu gehen. Dass Sergej in das Feuer gerannt war, erschien jetzt als noch viel dümmere Idee als bisher.
Baldor hatte es bereits in Sicherheit geschafft, entsicherte Sarahs Waffe und feuerte auf die Drohnen. So weit daneben, dass er nichts von Bedeutung traf. Nah genug, dass er nun ihre volle Aufmerksamkeit besaß. Wenigstens würden sie jetzt nicht Sergej in einen schwarzen Schwamm verwandeln und auch Sarah, die auf den unsichtbaren Armen Ngis durch die Luft schwebte, war außer Gefahr. Während er sich noch überlegte, was er mit der neu gewonnenen Aufmerksamkeit anfangen sollte, wurde er Zeuge einer kleinen Zirkusvorstellung. Drei von Klaras Ratten bildeten eine Treppe, die eine vierte als Sprungbrett benutzte und eine der Drohnen aus der Luft fischte. Krachend, quiekend und Funken sprühend machten Tier und Maschine Bekanntschaft mit kaltem Beton.
Er war so fasziniert, dass er die Drohne, die sich vor seiner Barrikade in die Höhe hob, erst bemerkte, als sie ihm in die Augen blickte. "Fremdartiges Lebewesen entdeckt. Identifizierung läuft ..."
"Fremdartiges Lebewesen? Na danke!" Er hob die Waffe und drückte ab. Von hier konnte nicht mal er sie verfehlen und die Drohne schlitterte knisternd über die Straße.
"Yay, schlag ein!", rief ihm Klara zu und streckte einen Arm in die Höhe. Was sie wohl von ihm wollte? Sie lächelte verlegen und senkte ihre Hand wieder. "Ich glaube, du bist wirklich ein fremdartiges Lebewesen. Moment! Du hast da Tentakel an deinem Kopf. Wie konnte ich das bisher nur übersehen?"
"Sehr witzig." Er wollte sie schubsen, da bemerkte er, dass sie von einem Trupp Menschen in weißen Rüstungen umzingelt waren.