Nach einer Weile gab Baldor auf. Die Kommunikation war zusammengebrochen. Über die Satellitendatenbanken sah er sich einige alte Clips zur Tentakelpflege an, betrachtete belustigt wie Wonda, eines der Supermodels Nethufias, versuchte, in einer Anleitung wiederzugeben, wie sie ihre Gewinnerfrisur zur Miss Nethufia hinbekommen hatte. Das war eine Live-Übertragung gewesen und irgendjemand hatte es aufgenommen und für immer im SpaceNet verewigt. Nun für immer war relativ, falls auch die Datenbanken gefressen wurden.
Er lenkte sich von diesem Gedanken ab und konzentrierte sich auf sein Abbild in der Mikrokorallenanzeige. Er griff sich seinen Schopf Tentakelhaare, hob sie in einem 45-Grad-Winkel hinter seinem Kopf nach oben und konzentrierte sich auf einige Härchen, die er ausgelassen hatte. Die wickelten sich um den Rest und hielten ihn in Position. Das verlangte nur geringes Training der Tentakelhaare, die bei ungeübten Nethufs ein instinktives Eigenleben führten. Meister ihres Fachs – zu denen Wonda offensichtlich nicht gehörte – konnten nach Jahren der Übung wahre Kunstwerke mit ihren Haaren anstellen. Es gab sogar Leute, die das total auf die Spitze trieben. Torri Tausendarm hatte sie zum Beispiel derart unter Kontrolle, dass er mit tausend Miniaturbällen gleichzeitig jonglieren konnte. Das war ansonsten zwar total nutzlos, hatte ihn aber reich gemacht.
"Diese Meerschweine!", fluchte Captain Koi, der aus einem der Fenster starrte. Baldor wischte über die Anzeige, trat neben ihn und teilte den schrecklichen Anblick auf der anderen Seite der Scheibe. Er sah vier schwarze Flecken, die wie Bakterien unter einem Mikroskop auf der Kugel umherkrabbelten, die sie eben noch ihre Heimat genannt hatten. Jedes Mal, wenn sie sich weiterbewegten, fehlte ein Stück Nethufias.
"Warum tun sie das?", flüsterte Baldor. Das Ganze war ein Wirklichkeit gewordener Albtraum.
"Wir wissen nicht viel über sie. Nur, dass es Räuber sind. Sie plündern Systeme und stehlen die Rohstoffe. Aber dass sie einen ganzen Planeten buchstäblich fressen? Hätte mir das jemand noch vor drei Stunden erzählt, ich hätte ihn ausgelacht." Koi lachte bitter. Wenigstens so lange, bis sich ein Schatten zwischen ihr Fenster und die Überreste Nethufias schob.
"Pan? Pan!", rief Baldor. "Gib Stoff! Sie sind hinter uns her!" Er stürzte neben sie, als ob allein seine Anwesenheit dazu führte, dass Pan sie dann schneller rettete.
"Bleib ruhig, Kleiner. Ich tu, was ich kann. Wir müssen nur das Sprungtor erreichen, dann sind wir in -" Etwas knallte und die Hülle ächzte. In was sie dann auch immer sein mochten, wenn sie das Tor erreichten, der Schlag, der das Schiff traf, verhinderte, dass er es verstand – oder es glaubte.
"Passagiersektion 0 ist beschädigt. Wir haben jetzt definitiv weniger Passagiere an Bord, falls dir das ein Trost ist", erklärte Pan trocken.
"Danke, dass du mich für so einen Arsch hältst."
"Du bist ein Arsch und das weißt du selbst. Das hat man dir anerzogen, also was soll's? Und dass du jetzt die letzten Minuten deines Lebens weißt, dass ich auch weiß, dass du einer bist, macht zwischen uns kaum einen Unterschied."
"Nein, macht es nicht, da hast du recht, Pan."
Baldor klammerte sich an Pans Sitz fest und schloss die Augen. Er bereitete sich darauf vor, in wenigen Sekunden die bereits verstorbene Verwandtschaft im großen Meer wieder zu treffen. Doch die Sorge war verfrüht.
"Hey!", rief Koi. "Da kommt die Kavallerie!"
Baldor riss die Augen wieder auf und folgte dem ausgestreckten Arm des Captains. Ein Dutzend Raumjäger, die an ihnen vorbeizogen, direkt auf die drohende Gefahr zu. Mutige Männer, die sich heldenhaft in den sicheren Tod warfen, um den Sohn ihres Präsidenten zu retten. Baldor versuchte, die Kennungen an ihren Fliegern auszumachen, damit sie nach ihrem Tod geehrt werden konnten.
Es war ein epischer Anblick, der nur von einem winzigen Detail getrübt wurde. Einer der Jäger verhielt sich merkwürdig, fiel zurück, schlingerte und nahm dann wieder Kurs auf den Schatten. Es war ein Kollisionskurs! Dann umgab seine Pilotenkanzel ein grauer Nebel. Eine Fehlfunktion? Heute war scheinbar kein guter Tag für Nethufia.
Der Jäger trat aus dem Nebel aus, aber ohne Pilotenkanzel. Die schwebte gemächlich in eine andere Richtung davon. Er entdeckte noch ein drittes Objekt und das nahm Kurs auf ... sie?
"Was ist das?", fragte Baldor.
"Der Pilot?", mutmaßte Koi. "Es scheint, als bekämst du Ersatz für deine verlorene Fracht."
"Wenn du wie Pan anfängst, habe ich keine Hemmungen, ihm deinen Platz zu vermachen!"
"Vielleicht sollten wir eher dich rauswerfen?" Kois Miene verfinsterte sich und er machte einen schweren Schritt auf Baldor zu. "Dann wird die Reise für uns alle entspannter."
"Sicherheitssystem", sagte der Bedrohte trocken. Eine Luke an der Decke sprang auf und eine fluoreszierende Qualle schwebte hinein. Gut, dass die Schell einen Raum weiter waren und nicht sahen, wozu die Nethuf ihre Vorfahren einsetzten. Nun, falls sie denn an die Evolution glaubten.
Koi wich zurück und Baldor wollte bereits den Befehl zum Braten des aufmüpfigen Captains geben, da prallte etwas gegen die Scheibe neben ihnen. Außerhalb musste das einen unglaublichen Lärm machen, hier drinnen kam es nur als Klicken an. Doch es reichte aus, um die Aufmerksamkeit der beiden Kontrahenten von ihrem bevorstehenden Duell wieder auf das Weltall zu lenken.
Vor dem Fenster schwebte ein Roboter, der dem Körperbau eines Nethuf nachempfunden war. Er hielt sich mit einer Hand irgendwo über dem Fenster fest und gestikulierte mit der anderen wild.
"Was er wohl will?", fragte Baldor.
"Na sicher will er herein", antwortete Koi. Ihr Konflikt war ob des sonderbaren Schauspiels erst einmal vergessen.
"Blöd nur, dass der Teil mit der Luftschleuse gerade weggesprengt wurde."
"Ja zu doof." Koi verdrehte die Augen. "Gut, dass er nicht atmen muss und ihm das Vakuum nichts anhaben kann."
"Wie hält er sich eigentlich fest?", stellte Baldor die nächste Frage. Nicht unbedingt, weil er sich um den Roboter sorgte, sondern aus ehrlichem Interesse am Mechanismus, der dahinter steckte.
"Magnete, denke ich."
Der Roboter hatte aufgehört, herumzuzappeln, und starrte sie nun entgeistert an.
"Das ist echt faszinierend, wie viel Energie die Männer damals im Krieg in die Mimik der Kampfroboter gesteckt haben", stellte Baldor anerkennend fest. Tatsächlich waren diese Roboter einer der letzten Trümpfe gewesen, die sie gegen die Schell ausgespielt hatten. Sie hatten ihnen die Fähigkeit gegeben, ihre Mimik zu verändern, um den Feind finster anschauen zu können. Ein psychologischer Trick. Leider wussten sie damals nicht, dass die Wahrnehmung der Schell ganz anders funktionierte.
Baldor gestikulierte jetzt seinerseits. Er streckte seine Arme nach oben, öffnete und schloss seine Hände. Er hoffte, dass der Roboter verstand, dass er sich gut festhalten musste, wenn er überleben wollte. Er erntete dafür den Todesblick, der eigentlich für die Schell gedacht war. Trotzdem kletterte er über das Fenster und drei weitere Töne ließen vermuten, dass er jetzt auch den zweiten Arm und die Beine angedockt hatte. Er gab den Blick wieder auf den Schatten frei, der in der Ferne kleiner und kleiner wurde. Die anderen Piloten hatten sie gerettet.
"Okay, wir haben das Tor erreicht", informierte sie Pan. "Ich muss nur noch die Koordinaten eingeben, dann geht es ab zum ... oh!"
"Was, oh?", fragte Baldors besorgt. So kurz vor dem Ziel konnte wohl nicht noch etwas schief gehen. Oder doch?
"Es nimmt die Koordinaten nicht an. Das Bankenzentrum nicht, die Hauptsysteme der großen Reiche auch nicht. Ich glaube, die wollen nicht, dass irgendeines der großen Völker mitbekommt, was hier passiert."
"Beeil dich lieber, einen Weg zu finden!", drängte Koi. "Die Vetis kommen wieder näher! Gibt es denn überhaupt eine Koordinate, die funktioniert?"
"Ja, wir hätten hier -"
"Egal, nimm sie einfach!", befahl Baldor.
"Du bist der Boss", trällerte Pan und ließ ihre Finger über die Tastatur sausen.
Zwischen dem Ring aus reinem, weißen Niveum, aus dem alle Tore gebaut waren, flackerte ein genauso purer weißer Spiegel auf. Der zeigte erst den Blick auf ihr eigenes Schiff und formte sich dann zu einem Tunnel, von dessen Rändern das Licht in das Innere floss. Diese Tore führten zu den Schnellstraßen zwischen den Systemen oder öffneten verborgene Pfade zu längst vergessenen Welten.
Das Schiff wackelte erneut, doch die Vetis würden sie nicht kriegen. Nicht heute. Pans Hand sauste krachend auf den Auslöser für den Tunnelantrieb. Nethufia und die Schatten, die diese einst schöne Welt umgaben, wurden in die Länge gezogen und verschwanden mit einem Blitz in der Ferne.