Wohin er blickte, nur der Ozean. Nun, würde er sich umdrehen, dann hätte er auch in Klaras strahlendes Gesicht blicken können, doch er hielt seinen Oberkörper lieber gerade und klammerte sich in der Haut des Blauwals fest. Es war ein echter Wal und sie befanden sich auf dem echten Meer. Genauso wenig waren die Wellen eine Illusion, die über den Rücken des Wals, über ihn und Klara schwappten, oder der Wind, der über seine nackten Arme strich und seine Tentakelhärchen zum Tanzen brachte.
Ja, er liebte das Wasser, keine Frage. Trotzdem wurde sein Griff fester, als der Wal tiefer eintauchte. So fest, dass rosafarbene Flecken durch seine rote Haut hindurchschienen. Einen kurzen Moment waren sie unter Wasser und blaue Leere schwebte an ihm vorbei. Er schoss stoßartig empor und Klara jauchzte, so laut, dass ihm die Ohren klingelten. Die Flossen des Wals berührten klatschend die Wasseroberfläche und ein Sprühregen ging über sie hinweg. Klaras Jauchzen wurde zu einem Kichern. Eigentlich sollte es ihn freuen, dass sie so aufblühte, doch das Unbehagen ließ ihn nicht los.
Es war nicht die Angst vor dem Wasser oder dem Ertrinken, immerhin verfügte er über Kiemen. Etwas, das ihm bleiben würde. Vielleicht rührte ein wenig des Gefühls von der Ehrfurcht her, die er diesem gewaltigen Lebewesen gegenüber verspürte. Und dem Meer, das ihm, obwohl es aus denselben Elementen wie das Nethufias bestand, so fremd war. Am größten wog aber der Gedanke, dass Nethufia ihn verlassen würde.
"Wie weit müssen wir noch hinaus?", rief Baldor über den Lärm des Wals hinweg.
"Nicht mehr weit! Ich spüre, dass wir ihr näherkommen."
Und das spürte auch Baldor. Nethufia wurde unruhig und er hatte das Gefühl, dass sie wie eine verirrte Kugel in seinem Kopf hin und her flog. Mit jedem Aufprall an seiner Schädeldecke versetzte sie ihm einen kleinen Schlag.
"Halt dich fest!", riet ihm Klara.
Das würde er sich sicher nicht zweimal sagen lassen und packte so fest zu, wie er konnte.
Das Wasser vor ihnen hob sich in die Luft. Immer höher türmte es sich vor ihnen auf und rollte auf sie zu. Eine Welle, die Baldor liebend gern geritten hätte. Der schwarze Schatten, der unter dem abperlenden Nass in die Höhe schoss, zog einen lang gezogenen Körper hinter sich her. Irgendwo, vielleicht zehn Meter über dem Meeresspiegel, krümmte sich die Flugrichtung wieder in Richtung Wasseroberfläche. Rote Schuppen glänzten nun im Sonnenlicht, nachdem das Tier die meisten Tropfen abgeschüttelt hatte. Eine Seitenflosse, die viel mehr dem schillernden Flügel eines Insekts glich, besprühte sie mit salzigem Meerwasser. Der Kopf tauchte wieder ein und schickte ihnen eine weitere Woge entgegen, von der sich der Blauwal seelenruhig tragen ließ.
Auch wenn er nur diesen kurzen Blick erhascht hatte, war Baldor überwältigt. Der Blauwal war schon groß gewesen, so groß wie die Kupferwale auf Nethufia. Aber das, was er gerade gesehen hatte, war doppelt so lang, wenn das mal reichte. Und filigraner. Wie ein gigantischer Aal oder eine Schlange.
"Was war das?"
"Sie behauptet, sie sei ein Leviathan. Die Letzte ihrer Art und fast so alt wie die Erde selbst."
Also sowas wie eine Verwandte und perfekt für Nethufia. Die bestätigte diesen Gedanken durch erneutes geistiges Umherspringen.
"Wie hat sie so lange überlebt?"
"Wie hat das Nethufia geschafft?", gab Klara zurück.
Nun, das waren Fragen, auf die er ohne ein biologisches oder theologisches Studium keinen Antwortversuch wagen wollte.
"Sie hat sich vor den Menschen versteckt, als diese begannen, die Wale zu jagen. Seither hat sie auf dem tiefsten Grund des Meeres geschlummert."
Der weibliche Leviathan tauchte zu einem weiteren Sprung auf, Baldor hielt sich fest und den Atem an. Erst als das Tier abgetaucht war, traute er sich, wieder Luft zu holen. "Wie hast du sie denn gefunden?"
"Ha, ich habe eben Verbindungen. Uuund ein Gespür für die richtige Information. Als ich die Suche nach dem größten, ältesten und weisesten Meereslebewesen ausrief, konnte ich mich vor Antworten nicht retten. Es waren schließlich die Schildkröten, die sich erinnert und die Geschichte über den Leviathan von Generation zu Generation weitergegeben haben."
Ob es auf Nethufia auch ein Wesen dieser Art gegeben hatte? Nethufia verneinte diese Frage. Nun, sie musste es ja wissen.
"Ist das für den Leviathan in Ordnung, Nethufias aufzunehmen?"
"Sie langweilt sich schon seit Ewigkeiten und das ist eine Abwechslung, über die sie sich freut. Und es muss ja keine Bindung für die Ewigkeit sein. Dich verlässt sie ja nun auch wieder."
Baldor nickte.
"Das ist vielleicht eine Reise gewesen", sprach er zu sich selbst.
'Wie recht du hast', antwortete Nethufia. 'Voller Abenteuer und unerwarteterweise sogar mit einem guten Ende. Für uns beide.'
Baldor lächelte. Würde er sie vermissen, wenn sie ging? Schon möglich. Doch es gab so viel anderes, auf das er sich konzentrieren musste. Seine neue Rolle, als Anführer Neu-Nethufias und das zaghafte Abenteuer, das mit Klara begonnen hatte. Die neue Welt, die ihn umgab und die vielen Geheimnisse, die sie noch für ihn bereithielt.
'Ich werde nun gehen, Baldor. Leb wohl, Präsident von Neu-Nethufia.'
Nach harten Verhandlungen mit dem Rat der Zitadelle, unterstützt von seinen Freunden, von Major Lover und Madun Media, das nun unter der kommissarischen Leitung des geheilten Toby Telegraph stand, besaßen sie nun einen eigenen Flecken Erde und Wasser auf diesem Planeten. Er war groß, denn die Zitadellenstadt war nur theoretisch an Gebiet interessiert, das so weit entfernt lag. Sie standen am Anfang, aber es war ein Anfang voller Hoffnung.
Während er über die Zukunft nachdachte, verließ Nethufia seinen Körper. Er hatte ein Gefühl der Leere erwartet. Das war es gewesen, wovor er Angst gehabt hatte. Doch als er in sich hineinhorchte, hörte er immer noch das Meer und die Tiere, die es bevölkerten. Die Erinnerung an seine Heimat. Allein der große Kupferwal war verschwunden.