- Einige Zeit zuvor -
Das monotone Piepen des ComNets riss sie aus dem Schlaf. Das Bild, wie Sergej mit hoch erhobener Faust und seinem typisch grimmigen Gesicht auf sie niedersprang und zuschlug, verblasste und machte seiner Stimme Raum, die ihr irgendetwas Wichtiges mitteilen wollte. Sie unterbrach ihn.
"Du hast wieder gemordet, oder?" Das hatte ihr der Traum gezeigt, der mehr gewesen war als nur ein Traum.
"Ist es dir lieber, dass die Siedler verhungern?", rechtfertigte sich Sergej verdutzt. Er hatte wohl erwartet, sich mit einer Sprachnachricht aus der Affäre ziehen zu können.
Die blöden Siedler! Klara blähte die Nasenflügel auf. Die waren an ihrer Lage doch selbst schuld. Genau wie mit Tieren musste man auch mit der Technik behutsam umgehen. Jetzt sollten sie sich gefälligst selbst aus dem Schlamassel ziehen, ohne dass Sergej Tag für Tag seinen Hals für sie riskieren musste. Er war immerhin der Letzte ihrer Freunde, der ihr geblieben war – ihrer menschlichen Freunde. "Die können doch auch Wurzeln essen, warum musst du dafür das Leben unschuldiger Tiere auf so brutale Weise beenden?"
"Wurzeln? Alles klar. Kannst du dich noch an Simeon erinnern, den Jungen, der tatsächlich einmal Wurzeln gegessen hat?"
"Vage", antwortete Klara, konnte dem Namen aber nicht wirklich ein Gesicht zuordnen.
"Weißt du noch, wie lange es gedauert hat, all die Käfereier wieder aus seinem Bauch rauszuoperieren?"
Ah, an die Käfer erinnerte sie sich und an ihre Schreie, als ihr Brutplatz zerstört wurde. Das würde Sergej nicht verstehen – wie auch, er war in seinem Kopf allein –, aber sie sprach es dennoch aus: "Das war für die Käfer sicher auch nicht schön!"
"Siehst du? Wenn die Siedler einfach in den Wald gehen und irgendwas essen, leiden deine Tiere genauso." Sergej hatte ja nicht unrecht. Wenn man den Siedler einfach freie Hand ließ, würden sie alles um sie herum zerstören. Vielleicht sollte man sie irgendwo einsperren. Ja, das war eine gute Idee.
Er hielt ihr noch einen kleinen Vortrag über Teamwork, und dass sie ihn unterstützen sollte. Sie hörte schon nicht mehr zu.
"Hab's ja kapiert. Ich leide halt mit. Das kann ich nicht so einfach abstellen." Das war ihre Fähigkeit. Sie konnte mit Tieren reden, ihre Gedanken lesen und den meisten von ihnen auch Befehle geben – nun, sie wenigstens davon abhalten, sie zu fressen.
"Das weiß ich und ich hoffe, dass sie diesen blöden Nahrungssynth bald repariert bekommen."
Es war für ihn auch nicht leicht. Sie wusste es, vor allem, weil sie es ihm nicht leicht machte.
"Ich auch. Ich würde dir gerne bei dem Signal helfen, hab hier aber noch ein kleines Problem, ich komm dann nach."
"Ein Problem?", hakte Sergej nach. Er wollte das Gespräch in die Länge ziehen, das war klar. Darauf hatte Klara keine Lust und klinkte sich aus.
Ihr Problem bestand darin, dass ihre Fähigkeit seit kurzer Zeit gewisse ... Nebenwirkungen zeigte. Sie warf einen flüchtigen Blick nach unten und seufzte. Sie nahm immer mehr Verhaltenszüge der Tiere an, mit denen sie sprach und die sie kontrollierte. Sie wusste nicht mehr, mit welchem Tier das zuletzt der Fall gewesen war. Nur so viel: es war eines, das hohe Bäume zu lieben schien.
Von einem starrte sie jetzt geschätzte hundert Meter in die Tiefe, die sacht unter ihr hin und her wiegte. Es war eines dieser außerirdischen Riesendinger, die mit den riesigen ledrigen Blättern. Ein Glück, dass die stabil genug waren, um das Gewicht eines dreizehnjährigen Mädchens zu tragen. Eines, das sich dort letzte Nacht – ohne Rücksicht auf die Höhe – zum Schlafen zusammengerollt hatte.
Was würde ihr Körper das nächste Mal im Schlaf anstellen? Wenn sie davor etwa einen Vogel um eine Information bat? Würde sie dann versuchen, zu fliegen? Das wäre richtig ärgerlich, denn die Vögel stellten das beste Informationsnetz dar, das ihr zur Verfügung stand. Sie sahen praktisch alles und konnten nichts für sich behalten.
Veränderte sich ihre Fähigkeit genauso wie ihr Körper? Was hatten sich diese blöden Aliens auch dabei gedacht, so eine Fähigkeit in ein kleines Mädchen einzupflanzen? Hatten die keinen Plan, was Pubertät war? Gab es so etwas auf ihrem Planeten nicht?
Sie schob die Unterlippe ein Stück vor und sah Äste und Stamm des Baumes misstrauisch an. Na, wenn sie hier heraufgekommen war, würde sie es auch wieder nach unten schaffen. Sie verzog das Gesicht und schwang sich über den Rand des Blattes. Sie klemmte den Stamm zwischen die Füße und ließ sich herunterrutschen, bis sie nächsten Blätter erreichten. Ein Windstoß packte ihren Körper, pfiff ihr um den Kopf und ließ ihre verfilzten Haare hin und her schwingen. Ein empörtes Piepsen meldete sich in ihrem Kopf: 'Hey, das schaukelt aber!'
"Tut mir leid Bip, aber der Abstieg wird noch etwas dauern."
Bip war eine Treowanische Heckenlaus, die bei ihr Unterschlupf gefunden hatte. Sie musste siebenunddreißig kleine Kinder versorgen und Klara brachte es einfach nicht übers Herz, sie vor die Tür zu setzen.
'Warum bist du überhaupt da hochgeklettert? Das ist ja lebensgefährlich.'
Die Laus zog 'lebensgefährlich' dramatisch in die Länge und Klara musste kichern.
"Ich glaube, ich habe gestern zu viel mit den Eichhörnchen gespielt."
'Und die haben dich abgefüllt?'
Klara pustete sich einen Haarstrang aus dem Gesicht, den der Wind dorthin geschoben hatte, und zog die Augenbrauen hoch. "Ich weiß ja nicht, wie das bei euch Läusen so ist, aber in der Zeit, in der ich geboren wurde, durften Mädchen in meinem Alter noch keinen Alkohol trinken. Nein, irgendwie kann ich mir gar nicht vorstellen, was so ein Tier wie du überhaupt über Alkohol wissen kann."
'Oho! Als ich noch jung war und ...'
"Ich will das gar nicht hören!", unterbrach sie ihn. "Die Geschichte mit dir und der Filzlausdame neulich hat mir schon gereicht." Klara warf einen prüfenden Blick nach unten, wie weit sie noch vom Boden entfernt war – und es war noch weit. "Wenn es okay ist, würd ich jetzt auch ohne Stimme im Ohr runterklettern. Denn wenn ich falle, lande ich so, dass du dich zwischen mir und dem Boden befindest!"
Das brachte Bip tatsächlich zum Schweigen.
- Einige Zeit später, aber immer noch zuvor -
"Du tust was?" Klara war sich nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte.
"Ich will eine Gruppe Außerirdischer retten, die auf der Erde abgestürzt sind", erklärte Sergej ihr es noch einmal – diesmal langsamer.
"Und du bist dir wirklich sicher, dass es keine Vetis sind?"
"Ich denke nicht."
"Wie, du denkst nicht? Du denkst nicht, dass es Vetis sind, oder denkst du gerade generell nicht und könntest möglicherweise einer Horde Vetis zur Hilfe eilen, die zur Zitadelle wollen? Na immerhin gäbe es dann ein paar, von denen wir wüssten, dass es wirklich Vetis sind." Das war fies, das wusste sie, aber Außerirdische waren einfach ein wunder Punkt. Die einen wollten sie umbringen und die anderen mit ihnen experimentieren.
"Hey Kleine, komm mal etwas runter. Die Außerirdische war komplett verstört, als wir sie gefunden haben und wir können nur in Zeichensprache mit ihr kommunizieren. Wäre sie eine Vetis gewesen, hätte sie uns sofort mit Blicken in Eisklumpen verwandelt."
"Wäre ja nicht das erste Mal gewesen, dass uns das passiert. Okay. Nehmen wir an, dass es keine gierigen Monster sind, die auf unseren Planeten scharf sind, wie soll ich dir helfen?"
"Es ist wichtig, dass wir wissen, wo sie hin sind. Du weißt ja, wo sie landen können, wenn sie falsch abbiegen."
Ja sie wusste es. "Moritz ..." Er war einer ihrer Freunde gewesen. Nach der Öffnung der Zitadelle war jeder von ihnen mit ihren Verlusten anders umgegangen. Sergej hatte sich immer schützend vor die Gruppe gestellt und versuchte jetzt, andere Menschen zu finden, für die er stark sein konnte. Versuchte, eine Familie zu gründen. Klara schnaubte. Wenn die Frauen, mit denen er das versuchte, nicht alle so strohdoof wären.
Vorausschauend, wie sie war, hatte sie dafür gesorgt, dass er keinen Fehler machte, den er später bereuen würde. Sie war sie alle mithilfe irgendwelcher Tierplagen losgeworden. Seine neueste Flamme, diese Sarah, Doktorin der bescheuerten Hypothermie, war da eine härtere Nuss. Sie hatte schon so einiges bei ihr versucht, ohne sie zu beeindrucken. Spinnen, fleischfressende Ameisen, diebische Waschbären. Sie war schlauer als ihre Vorgängerinnen und Schlimmeres gewohnt. Und sie hatte ihr klar gemacht, dass sie über Leichen gehen würde, um Sergej zu behalten. Sie meinte Tierleichen, was schon übel genug war, Klara traute ihr auch Schlimmeres zu. Allein schon deshalb musste sie Sergej helfen. Dann konnte sie auf ihn aufpassen. Außerdem war er ihr einziger Freund in der Welt der Menschen. Captain Lover vom Sicherheitskorps, der ihnen manchmal Aufträge zukommen ließ, zählte nicht. Bei dem Gedanken, dass sie Sergej an diese Hexe verlieren konnte, zog sich etwas in ihrer Brust zusammen.
Sie wischte diesen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Wenn die Außerirdischen in Moritz Gebiet gerieten und er sie entdeckte, dann wären sie tot, keine Frage. Seine Art, mit den Verlusten umzugehen, lag darin, Vetis zu jagen. Und wie Sergej und sie herausgefunden hatten, war keines seiner Opfer wirklich ein Vetis gewesen. Sein Zorn richtete sich allgemein gegen jeden, der fremd war und jeden, der ein Verbrechen begangen hatte – egal, wie unbedeutend es war. Inzwischen war ihnen klar, dass er einfach nur verrückt war. Und doch feuerten ihn die bescheuerten Bürger der Zitadelle an, denn es lieferte ihnen Unterhaltung.
Sie seufzte. Wenn sie selbst jetzt auch jeden Fremden verdächtigte, ein Vetis zu sein, war sie nicht besser als er.
"Okay, ich frage nach, was die Tiere mitbekommen haben."