Sie nahmen Fahrt auf, die Lichter verbanden sich zu einer Linie, verschwammen dann zu Farbstreifen. Klares Blau in der Mitte, das zu den Rändern hin mit dem Grau des Tunnels verschmolz. Der Untergrundtransporter schwebte in seinen festgesteckten Grenzen nahezu lautlos. Wenn Baldor genau hinhörte, vernahm er noch das unterschwellige Brummen – oder sein Kopf spielte ihm einen Streich.
"Das ist das Transportsystem der Konzerne", erklärte Toby und lotste sie zu verführerisch komfortabel aussehenden Sitzen. "So kommen wir innerhalb einer halben Stunde dorthin, wofür ihr zu Fuß und gegen die Widrigkeiten der Stadt Tage gebraucht hättet."
"Großartig", brummte Sergej, ließ ich in einen der Sessel plumpsen und starrte mit verschränkten Armen an die Decke. Er war wohl der Einzige, dem das nicht so richtig zu gefallen schien. Von diesem Transportsystem hatte er nichts gewusst.
"Die Konzernbosse und die VIPs laufen eben nicht gerne zu Fuß", schob Toby hinterher und Sergej verdrehte die Augen.
Klara sank in den Sitz neben ihm. Ihre Augen wanderten unruhig hin und her. Nein, Sergej war nicht der Einzige, der sich nicht wohlfühlte. Sie hatte fast alle ihre Ratten zurücklassen müssen. Eigentlich alle, aber bevor sich die Türen schlossen, hatten sich ein paar von ihnen noch hineingezwängt – ungesehen vom Reporter. Sie kauerten in den Ecken unter den Sitzen.
Mit einer Handbewegung ließ Toby einen fünften Stuhl aus dem Boden wachsen und einen Tisch in der Mitte, gedeckt mit Menschen-Snacks und einer Schale roter Kekse. Baldor schob sich auf den Sessel am Fenster – Sergej und Klara gegenüber –, fischte einen der Kekse heraus und schnupperte daran.
Planktonkekse! Genüsslich biss er hinein.
Ja, genau so kümmerte man sich um den Sohn des Präsidenten! Selbst wenn er einen kleinen Zwischenstopp einlegte, um in dieser Show aufzutreten, waren sie immer noch schneller als auf dem geplanten Weg. Und es war sicherer. Diese Calu-Spinner würden ihn jetzt nicht mehr einholen.
"Wie genau wird diese Show ablaufen?", fragte Baldor und schob sich einige Krümel, die sich auf dem Weg auf seine Lippen verirrt hatten, zurück in den Mund.
"Im Vorfeld führen wir ein ausführliches Interview, in dem wir alle Gebiete abdecken, die in irgendeiner Art interessant sein könnten. Eine Auswahl stellen wir in einem Iveinterview nach. Den Rest schneiden wir in die nachfolgende Reportagen hinein, in denen wir Stück für Stück mehr Informationen über deine Welt, deine Fähigkeiten und deine Sicht auf di Erde zeigen wollen. Du hast nicht zufällig Bildmaterial von deiner Heimatwelt, das wir verwenden können?"
Hatte er gehabt. Sein Korallenkommunikator lag irgendwo im Urwald zwischen der Absturzstelle und der Zitadellenstadt. "Tut mir leid, es ist nichts mehr übrig."
"Das ist wirklich schade. Hmm. Es bestünde natürlich die Möglichkeit, diese Erinnerungen auszulesen, wenn du dich in einen Kältekammer ..."
"Stopp!", fuhr Sergej dazwischen. "Daran braucht ihr gar nicht denken. Überhaupt, wie lange wollt ihr Baldor für den Quatsch festhalten? Wochen?"
"Nein, nein. Uns ist schon klar, dass Baldor ein vielbeschäftigter Mann ist. Ein oder zwei Tage vielleicht, später noch das eine oder andere Interview, je nachdem wie gut er ankommt oder wie sich seine Situation bei uns entwickelt. Im Gegenzug bauen wir für euch ein positives Bild in der Öffentlichkeit auf und stellen Kontakte her."
"Bla, bla. Das ist doch alles vager Quark. Die Einzigen, die wirklich davon profitieren sind die Typen bei Madun Media. Wie wollt ihr garantieren, dass auch Baldor was davon hat?"
"Hey", schaltete Baldor sich ein. "Es ist besser als nichts." Nicht, dass Sergej diese Chance noch kaputt machte, nur weil er das Schlimmste vermutete.
Sergejs zog die Stirn in Falten und ein Schatten legte sich über seinen Augen. Sein Mund wurde zu einem grimmigen Strich. Ja, das passte ihm gar nicht. Würde Baldor sich am Ende mit der Gruppe verkrachen, wenn sich der Medienkonzern oder die Kontakte als ertragreicher herausstellten? Würde er sich von ihnen trennen müssen? Früher hätte er keinen Moment gezögert, aber allein der Gedanke, Sergej und Klara wegzustoßen, nachdem sie ihn bis hierher geholfen hatten, fühlte sich mies an. Er blickte von Sergejs grimmigem Gesicht zu einer langgezogenen Halle, an der sie in Sekunden vorbeisausten. "Die Menschen dort oben müssen tatsächlich die ganzen Strecken laufen, die wir hier entlangdüsen?" Er lenkte das Thema besser in andere Bahnen.
Sergej wollte etwas antworten, aber Toby kam ihm zuvor. "Nicht jeder. Wer einen Schweber besitzt oder sich auf eines der seltenen Reittiere traut, kommt schneller voran. Es gibt aber auch noch andere, unbenutzte Tunnel. Es liegt allein am Rat, ob und wann sie für einen öffentlichen Einsatz erschlossen werden."
"War ja klar", grummelte Sergej, "Alles für die Konzerne. Die Allgemeinheit hinkt hinterher."
"Na, so rosig ist es dann auch nicht. Die kleineren Konzerne müssen sich Strecken teilen, nur die größeren haben eigene Linien. Natürlich gibt es Quer- und Vertikalverbindungen zwischen ihnen. Man kann ja nie wissen, wann ein Konzern mal einen anderen schluckt und sein Netz übernehmen wird."
"Für so einen Fall wurde vorausgeplant?" Baldor war erstaunt.
Der Journalist lachte. "Nein, genau für diesen Fall nicht. Die Querverbindungen sind eigentlich eine Vorgabe des Rates. Sicherheitsbestimmungen und so."
Die Tunnelwände wurden hell. Gleich waren sie am Ziel.
Das war es jedenfalls, was Baldor erwartet hatte, bis er Toby Telegraphs bleiches Gesicht sah.
"Stimmt etwas nicht?"
"Notbremse!", schrie der Journalist.
Eine rote Wand erschien vor dem vor dem Transporter und wölbte sich nach außen, als er hinein raste. Sie wurden ruckartig zum Stehen gebracht und Baldor wurde zuerst gegen den Tisch gepresst, dann zurück in seinen Sessel geworfen. Klara schrie auf – nur kurz, dann wich der Schreck Entschlossenheit. Sergejs künstliche Hand grub sich in die Tischplatte, die unter dem Druck knackte und splitterte. Ngi, der immer noch im Gang stand bewegte sich kein Stück. Sarah kam nicht so glimpflich davon. Ihr Kopf schlug auf der Tischplatte auf, sie taumelte auf den Gang und als alles zum Stillstand kam, sackte sie benommen zu Boden.
"Scheiße! Sarah?" Sergej schob Klara weg, rutschte über die Sitze und kam neben ihr zum Knien. Als sie nicht reagierte, fischte er nach der weißen Tasche, die neben ihr gelandet war, und begann darin zu suchen.
"Was ist los?", rief Baldor dem Journalisten erneut zu.
"Jemand hat vor uns eine Feuerbarriere gelegt." Er hastete zur Frontscheibe des Transporters, lehnte sich mit der Hand dagegen und starrte in den Tunnel. "Die ... Konkurrenz muss mitbekommen haben, dass wir dich für unsere Show gewonnen haben."
"Was? Und jetzt? Wollen die mich entführen, damit ich bei ihnen auftrete? Wie soll denn das funktionieren?"
"Sie töten uns alle und beleben dich danach wieder. Eine kleine Gehirnwäsche und du denkst, alles sei in Ordnung und deine Freunde, die sie gerade umgebracht haben, haben niemals existiert."
Baldor klappte der Kiefer herunter. "Woher ..." Nein, ihm war klar, woher er das wusste. Weil er es genauso machen würde. So schnell war das Gefühl der Sicherheit wieder verflogen.
"Sarah ist außer Gefecht", rief Sergej und klappte die Tasche wieder zu. "Reporter, kannst du kämpfen?"
"Wie du sagst, ich bin Reporter, kein Soldat. Tut mir leid."
Sergej brummte abfällig. "Was solls. Wo ist Ngi?"
Baldor sah zu der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. "Unsichtbar, wie immer, wenn es brenzlig wird."
"Hey, Ngi, trag wenigstens Sarah, wenn du sonst schon nicht hilfst!"
Es verging ein Moment, dann schwebte Sarah auf wundersame Weise durch die Luft. Sergej nickte, halbwegs zufrieden. Toby, dem der Schweiß auf der Stirn stand, tippte auf einem Kontrollpunkt unter der Frontscheibe herum.
"Herr Madun, es tut mir furchtbar leid, Sie stören zu müssen. Ich habe Baldor bei mir, aber wir werden gerade im Transporttunnel angegriffen. Ich weiß nicht, ob ich überleben werde, wollte Ihnen aber Bescheid geben, wie die Lage ist. Einen schönen Abend noch."
"Du bist ja sehr optimistisch." Klara ließ ihre Ratten aus dem Fahrzeug.
"Was tust du da?"
"Wonach sieht es aus? Ich verlasse dein Transportmittel des Todes. Quer- und Vertikalverbindungen? Damit kommen wir hier raus."
"Aber ihr kennt euch doch gar nicht im Netzwerk aus. Das ist wie ein Labyrinth. Ich kenne selbst gerade mal unsere Strecke."
"Ich bin in Tunneln groß geworden. Und habe einen Haufen Kundschafter, die vorschicken kann. Kein Problem, also."
"Sicherheitsschotts ...", murmelte der Journalist. Er war wirklich kein Quell des Optimismus.
"Ha." Sergej streckte seine Prothese zu einem Schlag aus. "Nichts Neues.Wir waren jahrelang in den Abwasserkanälen und der Frischluftversorgung der Zitadelle unterwegs." Er drückte Baldor zwei Dinge in die Hand. Die weiße Tasche und ... Sarahs Pistole. "Auf der rechten Seite ist ein Hebel zum Entsichern. Du musst nur noch auf den Feind zielen und abdrücken. Arme und Beine, wenn es geht, dann können sie im MedCenter wieder zusammengeflickt werden."
"Und warum gehst du davon aus, dass ich schießen kann?" Baldor lachte nervös.
Sergej zuckte mit den Schultern. "Solange du nicht auf uns zielst, kann kaum etwas passieren."
Baldor fand den Hebel und legte ihn um. Ja, als Sohn des Präsidenten hatte er auch Training an Handfeuerwaffen erhalten. Das war nur das erste Mal, dass er es anwenden musste.
Sie sprangen aus dem Wagen hinaus und rannten auf die Lichtquelle zu.
"Äh, warum rennen wir auf das Feuer zu?", fragte Toby Telegraph.
"Hinter uns ist alles blockiert", murmelte Klara. "Viele Männe mit schweren Waffen"
"Was nicht bedeutet, dass der direkte Weg durch das Feuer sicherer ist." Sergej ballte die Faust. "Klara schick eine Ratte durch!"
"Hahaha", Toby klang verzweifelt. "Natürlich ist es nicht sicher, durch Feuer zu laufen."
"Ja, ich schicke eine druch." So wie sie das zwischen ihren Zähnen hindurch presste, gefiel ihr das gar nicht. Aber so ernst, wie die Situation war, würde sie wohl auch eine ihrer geliebten Ratte opfern.
Sie näherten sich dem Feuer und eine Hitzewelle rollte über Baldors Haut. Seine Tentakelhärchen schrumpften instinktiv zusammen. Wie sollte die Ratte da weit genug herankommen, um irgendetwas sehen zu können, das ihnen half?
"Zwei Behälter an den Tunnelwänden, aus denen kommt das Feuer ... okay, Bertie reagiert nicht mehr."
"Sorry." Sergej legte eine Hand auf ihre Schulter. "Ein Synthsystem vielleicht? Wenn das Feuer künstlich am Leben gehalten wird, haben wir eine Chance."
"Wie das?", fragte der Reporter, der noch zwei Meter hinter ihnen im Tunnel stand.
Sergej grinste. "Na, ich gehe hin und mache sie kaputt."
"Aber du verbrennst doch dabei, genauso wie die Ratte."
"Ihr Medienheinis habt keine Ahnung, wer wir sind, oder. Seid so in eurer eigenen Realitätsverdrehung gefangen. Ich bin Sergej Eisenarm, Öffner des Tores in die Außenwelt. Eis kann mich nicht aufhalten, ein bsschen Feuer schon gar nicht!"
"Aber ... das war doch alles eine Show." Der Journalist blickte in Sergejs unbewegtes Gesicht. "... oder nicht?"
Sergej antwortete nicht. Er holte tief Luft, dann rannte er los. Nach ein paar Metern brüllte er den Flammen einen markerschütternden Kampfschrei entgegen. Als wolle er sie allein durch seine Willenskraft in die Knie zwingen. Für einen Moment glaubte Baldor, dass das möglich sei, dass diesen Menschen, die er am Anfang noch für so primitiv gehalten hatte, nichts unmöglich war. Doch das Feuer blieb standhaft, selbst als Sergej seinen Weg schreiend fortsetzte.
Der Schrei erstarb und wich einem Knall. Metall, das mit voller Kraft auf Metall prallte. Das Geräusch wiederholte sich mehrmals, wurde wieder von Schreien begleitet. Keine Wut mehr – Schmerzen. Die Schmerzen eines Mannes, der sich selbst überschätzt hatte und dessen Haut und Fleisch gerade von seinen Knochen schmolzen. Schreie der Verzweiflung ... weil dasselbe seinen Freunden blühte, wenn er versagte. Stille folgte. Mit dem Ausbleiben der Schreie ebbte auch die Hitze ab.
Klara rannte los und Baldors Beine setzten sich ganz von alleine in Bewegung, um ihr zu folgen. Er hielt Sarahs Sanitätsausrüstung fest umklammert, auch wenn er wusste, dass er damit für Sergej nicht mehr viel tun konnte. Wo auf dieser verkohlten Kraterlandschaft seiner Haut, die sich mit weißen Blasen und roten, blubbernden Pfützen abwechselte, sollte er einen Verband anlegen oder eine Salbe auftragen? Als er über ihm stand, schnürte sich seine Brust zu.
Dann bildete sich im Schwarz des verbrannten Kopfes ein weißer Bogen. Sergejs Zähne. Der Mistkerl grinste ihn an und stieß ein heiseres Lachen aus.
"So wie du aussiehst, weiß ich gar nicht, über was du lachst", schimpfte Klara.
"Ach komm", röchelte Sergej. "Mich hat es doch schon schlimmer erwischt." Er atmete ein und der Atemzug wurde von einem ungesunden Pfeifen begleitet. "Weißt du noch, dieser Roboter in der Forschungseinrichtung?"
"Der hat uns überrascht. Aber das hier? War das wirklich nötig?"
"Wie viele Menschen hätten wir verletzen müssen, wenn wir einen der anderen Wege gegangen wären – oder töten?"
"Ach, Sergej." Klara seufzte. "Denk doch mal auch ein bisschen an dich. Irgendwann kommt mal etwas, das du nicht überlebst."
"Er ... überlebt das?" Baldor wollte es glauben, aber bei dem Anblick fiel ihm das nicht gerade leicht.
"Ja, er trägt die Essenz des Kriegers in sich. Er ist unverwüstlich wie ein Fels ... leider genauso intelligent, wenn es darauf ankommt."
"Essenz?"
"Wir haben dir doch erzählt, dass Aliens an uns herumgebastelt haben ..."
Baldor fuhr sich durch die Tentakelhaare. "Na schön. Wenigstens bin ich nicht das einzige Monster in unserer Runde."
"Nein, wir sind alle Monster ... außer dein Kumpel Ngi vielleicht. kann der Sergej auch noch tragen?"
"Nein, bitte", wimmerte Sergej. "Ich kann selber laufen"
"Hör auf zu jammern. Das hast du dir selbst eingebrockt. Ngi?" Sie schwieg kurz, während Ngi ihren Ziehvater über die unsichtbare Schulter warf. "Okay, der Weg vorwärts ist frei. Lasst uns gehen, bevor sie uns einholen." Ihre Stimme war fest und bestimmend. Klara war genauso fähig, den Trupp zu führen, wie Sergej.
Baldor sah auf Ngis unsichtbaren Rücken und die beiden Körper, die daran hinab hingen. Hoffentlich war das der letzte Konflikt – so langsam gingen ihnen die Leute aus. Vielleicht ... "Ich denke, wir sollten nicht direkt zur Zitadelle gehen."
"Nicht?" Klara hielt nicht an.
"Warum?", fragte der Journalist atemlos hinter ihnen. Das hörte sich drei Spuren verzweifelter an, als nach der Feststellung, dass ihnen ein Hinterhalt gelegt wurde.
"Sie wissen doch, wo wir hin wollen. Wenn sie merken, dass wir ihnen entkommen sind, werden sie es auf dem Weg bestimmt nochmal versuchen."
"Er hat recht", pflichtete Klara ihm bei. "Doch zur Enklave?"
"Ja."
"Was wollt ihr denn bitte in der Enklave?" Der Journalist japste panisch. "Die werden euch einfach abschießen, wenn ihr nah genug an ihren Toren seid." Hatte der Journalist mehr Angst um sein Leben oder die Story?
"Nein." Klara schüttelte im Laufen den Kopf und ihr langes Haar schwang gleichmäßig von einer zur anderen Seite. "Wir haben dort alte ... Freunde."
"Wer, bei der Spitze der Zitadelle, seid ihr?"
"Wenn du artig bist und kooperierst", begann Baldor, um Klara zuvorzukommen, "bekommst du später eine Story, die noch viel größer ist!"
"Das kannst du knicken." Klar, Klara konnte die Zitadelle genauso wenig ab, wie Sergej, aber sie hätte wenigstens mitspielen können. Jetzt würden sie den restlichen Weg das Gejammer des Mannes anhören müssen, gemeinsam mit Sergej würde das ein wunderbar schreckliches Duett ergeben.