Als sie eine Gruppe von Türen erreichten, die im Kreis um eine Säule angeordnet waren, herrschte verdächtige Leere.
"Haben hier alle Angst vor uns?", fragte Baldor.
"Die Etage steht momentan zu großen Teilen leer", erklärte Roy. "Hier war früher mal das Hauptquartier des Sicherheitskorps und des Rates. Mit der Toröffnung wollte hier aber die halbe Zitadelle durch und die sind umgezogen. In die inneren Ringe, nach O1 und U1."
"Und wir sind ausgerechnet in einem Bereich gelandet, der auf Sparflamme läuft?" Sergej klopfte gegen eine Tür und ein hohles Echo antwortete ihm. "Oder warum geht die Tür nicht auf?"
"Merkwürdig." Der Professor musterte die Tür, als sei sie ein unergründliches Experiment. "Ich kann den Aufzug nicht rufen. Ob die Siks diesen Bereich deaktiviert haben, bis die Sache mit Sarah geregelt ist? Vielleicht hätten wir sie zurücklassen sollen."
"Vieln Dank, du Arsch!" Sarah funkelte ihn an. Dann Baldor, der immer noch ihre Waffe hatte.
"Ohne Aufzug können wir den Weg durch die Unterwelt vergessen." Sergej kratzte sich am Kopf und schwarze Schuppen rieselten zu Boden. "Ich könnte zwar die Tür einschlagen, aber ohne Kletterausrüstung oder Fluganzüge kommen wir nicht lebendig runter – zumindest nicht alle."
Sarah rannte durch den runden Raum, an den massiven Türen vorbei, die ebenfalls verschlossen blieben.
"Und jetzt?", fragte Baldor. "Warten wir auf Madun?"
Niemand antwortete. Sergej brummte nur, schlug mit der Faust gegen die Wand des Aufzugs und hinterließ eine Beule. Roy sah ihm nervös dabei zu, dann zu seinem Chef, der immer noch die Tür analysierte. Klara setzte sich auf den Boden und legte ihre Stirn an die ihrer Ratte. Bereitete sich jeder auf seine Weise auf das Ende vor?
Und er selbst? Was sollte er tun? Wenn sie nicht weglaufen konnten, blieb doch nur noch der Kampf. Auch wenn Sergej ihn für unsinnig gehalten hatte, jetzt war er unausweichlich geworden. Er musste mit Nethufia reden. Er musste den Vetis aufhalten. Wenn das nicht ging ... wenigstens die anderen retten. Verdammt, wann hatte er den Moment verpasst, an dem er neben dem Monster auch zum selbstlosen Helden mutiert war?
Er konzentrierte sich auf ein Bild in seiner Erinnerung. Die Küste, seinen Strand, den er noch besser als sein eigenes Zimmer kannte. Er summte, bis das Geräusch in seinem Kopf einem anderen wich. Wellen umspülten ihn und da war es, ihr vertrautes Rauschen. Er legte die Hand an die Stirn, schirmte seine Augen gegen das Sonnenlicht ab und hielt Ausschau. Nach dem Kupferwal, dessen Gestalt Nethufia in seinem Inneren angenommen hatte.
'Baldor', ertönte sein eigener Name melodisch in seinem Kopf. 'Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor.'
"Dabei war es erst gestern. Oder … war es vorgestern? Es ist so viel passiert. Ich denke, ich habe mein Zeitgefühl verloren."
'Das kenne ich. Das eine Mal vergingen Äonen und ich wunderte mich, wie schnell sich die Welt doch in nur einem Augenblick gewandelt hat. Was möchtest du?'
"Ich brauche deine Hilfe. Kannst du meinen Körper verändern? Ich brauche deine Stärke gegen ..." Dann kam ihm eine andere Idee. Eine bessere, als eine heldenhafte letzte Schlacht gegen dieses Monster auszufechten. Es gab einen Weg, ohne sich dabei zu opfern. Dennoch, er benötige Nethufias Unterstützung. "Ich brauche deine Stärke, um meine Freunde zu beschützen. Und … nichts für ungut, aber darf ich die Kontrolle über meinen Körper diesmal selbst behalten? Damit sie am Leben bleiben?"
Nethufia stimmte einen Walgesang und für einen Moment glaubte Baldor, dass sie ihn auslache. Dann packte ihn eine unsichtbare Kraft, riss ihn vom Strand und zog ihn hinaus aufs Meer. Er stürzte dem Wal entgegen. Immer schneller, genau auf den Punkt zu, der zwischen den Augen lag. Baldor kniff die Augen zusammen, wartete auf den Aufprall, doch er kam nicht.
'Viel Glück.'
Er blinzelte. Ein pinker Schleier lag vor seinen Augen. Er blinzelte ein zweites Mal und die verschwommenen Umrisse seiner Begleiter lösten sich aus dem Nebel. Beim dritten Mal sah er sie klar vor sich. Doch etwas war anders.
Sein Körper fühlte sich schwer an. Seine Muskeln zuckten. An Orten, die er nicht sehen konnte. Irgendwo tief in sich drinnen, an einem Ort, der fern seiner Vorstellungskraft lag. Er bewegte einen der Muskeln und etwas stach in sein Schulterblatt.
"Argh!" Er krümmte sich und seine Knie wurden weich. Er tastete nach Ngi, um sich an ihm festzuhalten. Der Arm des Roboters quietschte unter seinem Griff und seine Konturen flackerten. Er hatte nicht gewusst, dass er so fest zupacken konnte. "Sorry, Ngi."
Dann stieß Baldor einen Brüller aus, der die stille Halle erzittern lies, und sein Schulterblatt knackte. Es zerbarst. Etwas durchstieß es und die seine Kleidung, schleuderte sein eigenes Fleisch von sich, wo es mit einem saftigen Klatschen an der Wand landete. Er warf einen Blick nach hinten, auf den riesigen Tentakel, der bedeckt von einer Schicht schwarzen Schleims über seiner Schulter schwebte. Der Schmerz ebbte ab. Nicht komplett, aber er wurde erträglicher – war das Nethufia, die da half? Nur der Geruch von Eisen hing weiter schwer in der Luft.
Roy keuchte und schlug sich die Hände vor Mund und Nase.
"War es nicht das, was ihr sehen wolltet? Da müsst ihr jetzt durch!" Immerhin würde er gleich ihr Leben retten. "Sergej, die Tür! Mach sie auf!"
Sergej nickte. "Leute, geht beiseite."
Wenn Baldors Verwandlung sie noch nicht dazu bewegt hatte, auf Abstand zu gehen, wichen jetzt alle zurück. Sergej schlug auf die Tür ein, die quietschend um Hilfe schrie. Doch es half nichts. Er vergrub seine Faust in der Öffnung und genau, wie Ngi einige Tage zuvor die Raviolidose mühelos aufgezogen hatte, legte er nun den Aufzugschaft frei. Unter einem letzten scheppernden Protest lud er die Tür hinter sich ab.
Baldor blickte in die schwarze Tiefe, lehnte sich hinein und ein Luftzug wirbelte seine Tentakelhärchen auf. Nun war es an ihm, den Rest zu erledigen. Knackend brach ein Tentakel nach dem anderen aus seinem Körper hervor. Tentakel, um sich im Schacht festzuklammern, und einer für jeden seiner Begleiter. Er umschloss sie so fest, dass er sicher sein konnte, dass er keinen von ihnen auf dem Weg nach unten verlor, und zog sie zu sich.
"Das ist widerlich!" Klara verzog das Gesicht, als Blut und Tinte an ihrer frisch gereinigten Kleidung hinabliefen. Das … irgendwie versetzte das Baldor einen Stich, den er nicht zuordnen konnte. Nein, er hatte keine Zeit, sich auch noch darüber Gedanken zu machen.
Jetzt waren nur noch Sarah, der Professor und sein Assistent übrig.
"Tut mir leid", sagte der Professor, "aber keine Chance, dass mich eins dieser Dinger berührt."
"Aber Professor ..:"
Etwas blitzte auf. In Sarahs Hand.
Verdammt, die Pistole! Wann hatte er sie fallen gelassen?
Die Energieladung versank peitschend in ihrem Ziel, ehe Baldor einen weiteren Tentakel vorschnellen lassen konnte, um Sarah daran zu hindern. Rote Farbe fraß sich um das dunkle Loch herum in den weißen Laborkittel. Roy riss die Augen auf, starrte seinen Boss an, der ungläubig an sich herabsah und auf die Knie sackte. Dann zu Sarah, die vom Tentakel in den Aufzug gerissen wurde.
Keinen Moment zu früh.
Pfeifend betrat Madun die Halle. Im Spazierschritt, schnurstracks auf sie zu.
"Oh. Ich hoffe, das klappt jetzt!" Baldor lies sich fallen und das Bild des grinsenden Maduns verschwand. Seine Freunde schrien, dann hielten sie die Luft an.
In ein paar Metern würde er wissen, ob es klappte. Eine Reihe an Schreckensszenarien huschten an seinem inneren Auge vorbei. Wie seine Tentakel an der Wand abglitten. Wie er die Kontrolle über seinen Körper verlor. Ein Aufzug, der ihm erbarmungslos entgegenkam.
Die größte Angst hatte er davor, dass Madun ihnen folgte.
Dessen Stimme hallte durch den Schacht: "Ihr habt Glück. Ich werde nicht so leichtsinnig sein und euch hinterherspringen." Er hämmerte gegen die Innenwand des Schachts und das Echo der Schläge überholte Baldor auf seinem Weg in die Tiefe. "Ich werde dich finden, Baldor, es ist nur eine Frage der Zeit." Seine Stimme entfernte sich, so weit, dass sie wie in einem Traum klang. Ein Albtraum, der hoffentlich nie in Erfüllung ging.
Er stemmte seine Tentakel gegen die Wände. Die Reibung entflammte sie – zumindest fühlte es sich so an. Er hinterließ eine Spur abgerissener Tentakelstücke, doch quietschend wurden sie langsamer. Als sie zum Stillstand kamen, hörte er einen seiner Passagiere nach dem anderen Aufatmen. Dann löste er den ersten Tentakel von der Wand und ein Zittern ging durch seinen Körper. Zwei Meter weiter unten klatschte er erneut gegen die Wand. Einen Schritt nach dem anderen wackelte er nach unten. Es war nicht perfekt, aber es ging. Und erst nach dem vierten Mal, bei dem er abgerutscht und beinahe abgestürzt wäre, fragte Sergej vorsichtig: "Schaffst du das, Baldor? Wir könnten sonst in einer der Etagen aussteigen und den Rest durch die Kanalisationen nach unten."
"Die Kanalisation?", stöhnte Sarah. Baldor verdrehte die Augen. Wie ironisch, dass sie sich um Dreck an ihrer Kleidung Sorgen machte, um das Blut an ihren Händen aber nicht. Sollte Baldor sie einfach fallen lassen? Nethufia gab in seinem Inneren einen zustimmenden Walgesang von sich. Nein, er war stärker. Er war kein Mörder. Er würde sie retten, selbst, wenn sie es eigentlich nicht verdient hatte.
"Ich schaffe das. Ich werde so weit klettern, wie wir müssen. Es wird mit jedem Schritt leichter. Bald habe ich den Dreh komplett raus."
"Okay. Wir müssen bis zum Grund. Es gibt einen Tunnel, der in die Außenwelt führt. Wenigstens gab es einen vor fünf Jahren, als die Thages in die Zitadelle gekommen sind, um uns zu verändern."
Als Sergej das Wort Grund erwähnte, zuckte Sarah zusammen. "Das ist nicht dein Ernst, oder? Am Grund der Zitadelle ..."
"... ist das Monster, das du freigelassen hast. Ich weiß. Hoffen wir, dass es uns nicht fressen will."