Es dauerte nicht lange, bis dem Wal das Lachen verging.
Mit Baldors monströsem Körper packte er das Schweberwrack und riss es wie Algenpapier auseinander. Er schnappte mit den Tentakeln nach den Männern, bekam aber keinen zu fassen. "Schellpisse", fluchte Baldor. "Du verfügst über kein bisschen taktisches Geschick!"
Im Gegensatz zu ihrem Feind. Die Männer manövrierten ihn zuerst nur aus, und als sie seine Geschwindigkeit und Reichweite einschätzen konnten, eröffneten sie das Feuer.
"Geh doch hinter dem Wrack in Deckung und wirf Teile nach ihnen, wenn du schon zu lahm bist, um sie einzuholen!", brüllte Baldor und schlug dem Wal auf den Kopf. Doch der Wal blieb stumm.
Das war ja so deprimierend! Warum musste ausgerechnet diese Kreatur seinen Körper übernehmen? Er stieß einen Brüller aus, der vom Wind davongetragen wurde. Nach dem Verlust seiner Befehlsgewalt über Nethuf und Schell, durfte er nicht einmal mehr seinen eigenen Körper steuern.
Baldor dankte der großen Qualle, dass die Projektile der Männer seinem neuen Körper nichts anhaben konnten. Nun, das dachte er wenigstens, bis sie anfingen, die schweren Geschütze aufzufahren. Einer der Männer schulterte einen klobig anmutenden Apparat und richtete ihn auf ihn aus. Baldor wusste nicht, was das war, trotzdem hielt er es nicht für die schlechteste Idee, wenn sie dem Teil ausweichen würden.
"Weich aus!"
Offenbar verstand der Wal kein Wort – oder wollte es nicht – und rannte stattdessen auf den Schützen zu.
"Das bringt doch nichts! Er ist viel zu weit weg!"
Auf dem Wasserfall bildete sich an der Stelle der Waffenmündung eine Blase, die beim Abfeuern platzte, dann kippte das Bild. Sein Körper hatte den Halt verloren. Der Wal stieß einen Klagelaut aus, während Tentakelreste, Blut und Sand über den aquatischen Bildschirm flogen. Der Wal - und er selbst - war zu Boden gegangen. Der Bildausschnitt wackelte, sein Körper versuchte, wieder auf die Beine zu kommen – oder auf die Tentakel.
Baldor sah am Chaos zappelnder Gliedmaße vorbei, zum Schützen. Er legte ein zweites Mal an. Wie oft würden sie auf ihn feuern? Bis er sich nicht mehr rühren konnte? Bis sie ihn in seiner Ganzheit von diesem Planeten getilgt hatten?
Sein monströser Körper schloss die Augen. Als er sie wieder auftat, war der Mann verschwunden. Seine Stelle hatte ein großes Tier mit braunem Pelz eingenommen. Auf seinen Hinterbeinen war es aufgerichtet, riss das Maul zu einem Brüllen auf und ließ sich auf die Vordertatzen fallen. Baldor durchkramte seine Erinnerungen an die letzte Nacht. Klara hatte ihm so viel über die Tiere erzählt, dass ihm der Kopf qualmte. Braunes Fell, Tatzen, genug Kraft, um einem Menschen die Knochen zu brechen. War das ein Bär? Warum half ihm ein Bär?
Dann verstand er, dass sie gerade dabei war, ihn zu retten. Mal wieder. Natürlich, sie hatten es ihm versprochen. Trotzdem aktivierte der Gedanke, dass sie nur für ihn gekommen waren, seine inneren Lavaquellen und ihm wurde warm ums Herz.
So schnell, wie es aufgetaucht war, trottete das Tier auch schon wieder davon.
Das Wasser zwischen Wal und Wasserfall blubberte und ein Kopf kam zum Vorschein. Eine gewaschene Version von Klara, mit sauberen und unverfilzten, braunen Haaren. Sie sah ungewohnt aus – dennoch freute er sich über ihren Anblick.
"Oh, Baldor du bist auch hier?"
"Na, das ist immerhin mein Kopf, oder?"
Klara schwamm auf ihn zu. "Beim letzten Mal, als dein Körper so aussah, da warst du nicht hier. Es ist überhaupt ungewöhnlich, dass ich mit dir in deinem eigenen Kopf sprechen kann."
"Ja? Warum?"
"Wenn ich dich so anschau, siehst du nicht wie ein Tier aus."
Baldor sah an seinem Körper hinab. Er war nackt. Okay, er hatte nicht erwartet, dass ihn irgendjemand in seinem Traum besuchte. Außerdem war Klara so weit weg, dass sie eh nichts erkennen konnte.
"Ich habe mein Bewusstsein nicht verloren, sondern mitbekommen, wie er die Kontrolle übernommen hat. Vielleicht bin ich deswegen hier. Was die Tiere an geht ..." Er zuckte mit den Schultern.
'Ah, das Mädchen ...', raunte eine Stimme über den Ozean, zeitgleich mit dem Ruf des Wals.
"Hey, mit mir hat er nicht geredet!", beklagte sich Baldor.
'Sie ...'
"Was?", Baldor war verwirrt.
"Es ist kein er, es ist eine sie", erklärte Klara.
"Oh ..." Jetzt fiel es ihm auch auf. Durch das gleichzeitige Dröhnen war ihm die Stimme zuerst männlich vorgekommen.
"Aber ganz ehrlich? Wir haben keine Zeit für eine Vorstellungsrunde. Du musst Baldor die Kontrolle über seinen Körper zurückgeben."
'Muss?' Ein Zischen durch das Atemloch des Wals unterstrich dieses einzelne Wort.
"Ja, wenn du nicht willst, dass ihr beide sterbt. Wir sind zu weit weg, um euch zu helfen. Es ist Baldors Körper. Wenn einer damit umgehen kann, dann er. Egal in welcher Form."
'Muss am Leben bleiben.'
"Oh, wow. Warum ist mir das noch nicht eingefallen?", fragte Baldor ironisch. "Hätte ich gleich die Kontrolle bekommen, würden wir jetzt nicht in Stücken am Boden liegen!"
'Schweig!' Brodeln im Maul des Wals.
"Bitte, wenn nicht für ihn, dann tu es für mich. Ich mag dich und ... ich mag ihn."
War das ein Trick? Wusste Klara, wie dieses Wesen tickte? Oder ... waren ihre Worte am Ende ehrlich gemeint?
'Für dich.'
Baldor wurde von einer unsichtbaren Kraft nach vorne gestoßen, direkt auf den Wasserfall zu. Er verschränkte seine Arme vor dem Gesicht, dann traf er klatschend auf. Doch er war nicht nass. Nein, Sand bedeckte seine Arme. Seine Beine nicht, denn er hatte keine mehr. Wobei ... das, was da durch die Gegend wackelte, konnte man auch kaum noch Arme nennen – es waren riesige Tentakel! Das würde wieder weggehen, oder? Es war ungewöhnlich, keine Beine zu besitzen. Wie brachte er diese Dinge nur dazu, ihn aufzurichten? Was würde er dafür geben, wieder Beine zu haben?
'Warte. Beine.'
Etwas zog an Baldors Unterseite. Er kannte dieses Gefühl. Arme und Beine hatten sich so angefühlt, wenn er als Kind wuchs. Nur nicht so ... intensiv!
Baldor schrie vor Schmerzen und der Schrei wurde zum gurgelnden Röhren eines Ertrinkenden. Sein fremder Körper wurde durch den Sand geschoben, von seinen eigenen, frisch gewachsenen Beinen.
"Ich will es lebend! Betäubt es endlich!" Den Befehl hatte jemand hinter ihm gerufen. Er kannte die Stimme. Der Wissenschaftler, der an ihm herumgesägt hatte. Wut stieg in Baldor auf. Die Lava, die zuvor sein Herz erwärmt hatte, kochte jetzt. Nun hatte er die Macht, sich zu wehren – sobald er stand, zumindest.
Tausend Nadeln bohrten sich in den Bereich, der sich wie sein Rücken anfühlte. Er konnte seinen Kopf nicht drehen, um nachzusehen, wie er aussah. Einen Hals hatte er auch nicht? Was hatte dieses Wesen mit ihm angestellt?
'Schhhh, Beine sind bereit.'
Baldor zögerte keine Sekunde, sie auch zu benutzen. Er wirbelte nach oben und konzentrierte sich auf seine Tentakel. Das war einfacher, als sich die Frisur zu richten, denn es waren nur zwölf. Wie einen Schutzschild verschränke er sie vor seinen Körper, während er auf die Stelle zurannte, aus der die Befehle des Wissenschaftlers kamen. Durch einen Spalt in seinen Tentakeln entdeckte er ihn: Er war hinter dem Wrack und zwischen seinen Männern in Deckung gegangen.
Unglücklicherweise gab es auf seinem Weg nichts, das er werfen konnte. Nichts außer Sand. Dann warf er eben den! Mit den Tentakeln auf der rechten Seite bildete er eine Kuhle, wie mit den Fingern einer Hand, wenn man etwas schöpfen wollte. Im Lauf ließ er die durch den Sand gleiten, nahm so viel davon auf, wie er konnte, und schleuderte ihn die Richtung der Männer.
Der Sand kam nicht an – was hatte er auch erwartet? Doch er bildete eine deckende Wolke, in die er eindrang und nach drei Schritten seitlich wieder ausbrach. Er rannte einen Bogen, von rechts auf die Verteidigungsstellung zu. Ein Kugelhagel prasselte auf die Staubwolke ein und bevor die Menschen ihren Fehler erkannten, fiel Baldor über sie her.
Der Wissenschaftler kreischte, als er ihn erkannte, und reagierte sofort. Er türmte, in Richtung eines der intakten Gleiter, und ließ die verdutzten Männer in Schwarz zurück.
Nun, um die würde Baldor sich jetzt kümmern.
Er erwischte zwei von ihnen, bevor sie ihn überhaupt gesehen hatten. Wie von selbst zerfetzten die Tentakel sie in der Luft. Es war so einfach und er konnte sich nicht bremsen. Wollte er das überhaupt? Sie hätten ihn Stück für Stück auseinandergeschnitten. Ihnen so ein schnelles Ende zukommen zu lassen, war noch gnädig. Moment? Was dachte er da eigentlich? Als der weiße Schweber von einem roten Sprühnebel neu lackiert wurde, stieg Übelkeit in ihm hoch.
Baldor wusste, dass es nicht seine Gedanken waren, auch die Mordlust nicht von ihm ausging – wenigstens nicht komplett. Alles vermischte sich mit den Gefühlen des Wesens.
Die anderen Angreifer gaben das Wrack auf und folgten dem Wissenschaftler. Doch das Wrack würde sie wieder einholen! Baldor hob es mit surrealer Leichtigkeit auf und warf es ihnen hinterher. Die Männer wurden von den Metallklumpen zerquetscht, aber das hielt seine Aufmerksamkeit nicht lange.
Zwei der verbliebenen Schwebern starteten ihre Schubdüsen, brannten schwarze Kuhlen in den Sand und hoben ab. Er rannte ihnen hinterher, so gut das mit diesen neuen Beinen ging. Der Sand tat sein Möglichstes, um das zu verhindern.
Als er die Stelle erreichte, an der sie gerade gestartet waren, befanden sich die Schweber bereits außer Reichweite seiner Tentakel. Doch den letzten Schweber hatten sie zurückgelassen und Baldor packte ihn. Er würde die anderen damit vom Himmel holen. Da tauchte Klaras Stimme in seinem Kopf auf.
'Hältst du das wirklich für eine gute Idee? Den Schweber können wir noch gebrauchen!'
"Ja! Ich meine nein! Ach ... ich weiß auch nicht! Ich habe nicht wirklich die volle Kontrolle. Kannst du ihr das irgendwie klar machen?"
In der Zwischenzeit hatten seine Tentakel sich bereits um die Hülle geschlossen und sie knirschte unter dem Druck. Dann löste sich der Griff und er – nein sie – blickte traurig dem entkommenen Feind hinterher. Baldor Herz hämmerte – das merkte er jetzt erst – und er atmete durch. Klara hatte den Wal in ihm überzeugt.
"So, wie bekomme ich jetzt meinen Körper zurück?"