Podargia die Königin der Harpyas, hatte nach dem damaligen Gespräch mit ihrem Lieblingsmann Iquitos, ihren Harem, welcher nun ja nur noch aus drei Mitgliedern bestand, nicht mehr zu sich gerufen. Sie brauchte Zeit zum Nachdenken und das alles ging ihr näher, als sie es je für möglich gehalten hätte. Man hatte die beiden Verräter Tartaios und Baccaius an den Zinnen der Obsidian Stadt aufgeknüpft, gut sichtbar und als Warnung für alle, die mit dem Gedanken spielten, ebenfalls Verrat an der Königin zu begehen. Podargia hatte dabei sein müssen, als man zwei ihrer Männer durch den Strick hinrichtete. Sie waren still gestorben, mit einer Entschlossenheit in ihrer Augen, welche ihr Angst machte.
Sie schienen keine Reue zu empfinden. Gleich nach dieser Hinrichtung, hatte sie sich zurückgezogen und geweint, ganz im Stillen. Eine Harpya weinte sehr selten und dann, liess sie im Normalfall niemanden daran teilhaben. Auch diesmal war niemand an ihrer Seite, um mit ihr den Schmerz zu teilen, der ihr Herz wie ein schwerer Stein zusammendrückte. Sie stellte sich viele Fragen, Fragen auf die sie einfach keine richtige Antwort fand. Warum war das geschehen? Was hatte die Männer dazu bewegt, ihr den Tod zu wünschen? Hatte Iquitos womöglich recht mit dem was er sagte? Wollten die Masculinas einfach mehr Anerkennung? Aber sie lebten doch schon so lange so und sie Podargia hatte sich, seit ihrer Herrschaft, stets darum bemüht, allen ein einigermassen gutes Leben zu ermöglichen. Dennoch war für sie stets ausser Frage gestanden, dass die Frauen das Recht auf die Herrschaft innehatten, weil ein Mann niemals auf gute Weise hätte herrschen können. Es entsprach dem Willen der Göttin, dass die harpische Gesellschaft so organisiert war. Und doch… da waren plötzlich leise Zweifel, die sich, seit dem Anschlag, in ihr Bewusstsein eingeschlichen hatten. Sie brauchte dringend einen geistigen Rat und darum beschloss sie, sich mit Kelana ihrer Hohepriesterin zu treffen. Vielleicht wusste sie ja, was zu tun war.
So bat sie um eine Audienz bei der Hohepriesterin und diese wurde ihr auch sogleich gewährt. Die beiden Frauen trafen sich in den etwas kleineren Räumlichkeiten des Palastes, wo sie sich ungestört unterhalten konnten.
Kelana sass in einem dunklen Sessel mit hoher Lehne, als die Königin auf sie zu schwebte. Die beiden Frauen waren sich sehr vertraut, kannten sich schon seit vielen Jahren. Kelana hatte Podargia oft unterstützt, auch als jene das Königsamt antrat. Die Königin schätzte den Rat, der älteren Priesterin. Diese lächelte ihr zu, als sie hereinkam und forderte sie auf, in einem bequemen, mit samtenen Kissen bezogenen Sessel, Platz zu nehmen, welcher ihr gegenüberstand. Wenn sie allein waren, redeten sie jeweils wie Mutter und Tochter miteinander.
„Podargia, es ist schön, dass du kommst. Wie geht es dir? Du siehst irgendwie bekümmert aus.“
Die Königin setzte sich und schwieg einen Moment lang nachdenklich, während sie auf den, aus schwarzem Stein gefertigten Boden, starrte.
Schliesslich begann sie langsam zu sprechen. „Ich weiss nicht, wo ich anfangen soll Kelana. Ich mache mir wirklich sehr viele Gedanken in letzter Zeit.“
„Ist es wegen den Männern, die wir hinrichten mussten, weil sie dich umbringen wollten?“
„Ja, zu einem grossen Teil. Ich kann einfach nicht verstehen, warum sie mich so gehasst haben. Ich… war doch immer gut zu ihnen.“
Kelana nickte mitfühlend und sprach: „Ja, sie hatten ein wahrlich schönes Leben bei dir.“
„Dennoch… scheinen die Männer meines Harems, grundsätzlich nicht wirklich glücklich zu sein.“
Die Hohepriesterin furchte die Stirn. „Warum denkst du das und… seit wann wirft dich so etwas so schnell aus der Bahn? Du weisst, viele Masculinas kommen und gehen in unserem Leben. Wir haben von unserer Göttin gelernt uns nie zu sehr an einen Mann zu binden.“
„Jaja, ich weiss…“ wieder senkte Podargia den Kopf. „Darum…weiss ich auch nicht, warum mir das so nahe geht. Ich vergesse einfach die Worte nicht, die Baccaius und auch Iquitos zu mir sagten.“
„Was haben sie denn gesagt?“
„Baccaius hat mir vor seiner Hinrichtung gesagt, dass ich keine Liebe von meinen Männern erwarten darf, weil ich ihnen auch nie wirkliche Liebe entgegengebracht hätte und… Iquitos, der mich vor dem Mordanschlag bewahrt hat, sagte mir… dass er mich sehr liebe, aber er auch nicht wirklich glücklich sei und es eine Veränderung in unserer Welt geben müsse.“
„Er hat dir das einfach so gesagt? Wie konnte er sich das erlauben!“ rief Kelana empört.
„Ich…habe ihn gebeten ehrlich zu sein und nun ja… er war dann auch ehrlich. Ich vertraue ihm auch vollkommen. Ich weiss, dass er mir niemals Schaden zufügen würde. Aber glücklich ist er dennoch nicht.“
„Seit wann, macht sich eine Harpya solche Gedanken! Die Masculinas haben keinen Grund sich zu beklagen. Es geht ihnen bei und sehr gut und sie befolgen den Willen der Göttin, wenn sie uns dienen.“
Podargia schüttelte langsam den Kopf. „Ja, das dachte ich auch, doch… seit dieser Sache, nun ja, es quälen mich solche Gedanken, solche… Zweifel.“
„Zweifel? An was denn?“
Die Königin hielt einen Moment inne, als suche sie die passenden Worte, um ihre Gefühle zu beschreiben.
„Ich kann es auch nicht richtig sagen. Es sind Zweifel an so vielem, Zweifel an der wirklichen Richtigkeit unseres Tuns, Zweifel daran, dass unsere Welt richtig funktioniert, so wie sie ist. Immerhin haben wir dieses Männerproblem und das kommt nicht von ungefähr. Wir haben vielleicht… doch ein paar Dinge falsch gemacht.“
Kelana schaute sie etwas erschrocken und verständnislos an. „Aber…mein Kind, dir ist doch klar, dass du damit auch unsere Göttin in Frage stellst und alles was sie uns einst lehrte? Es ist uns bestimmt, hier in dieser Welt zu herrschen. Es ist uns nicht bestimmt, einem Masculina wahre Liebe entgegenzubringen, etwas Zuneigung… ja vielleicht, aber niemals Liebe! Du weisst, die Liebe macht schwach und bringt schlussendlich grosses Elend mit sich, gerade weil wir tun müssen, was wir tun. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Welt aus den Fugen gerät, dadurch dass ein Mann an die Macht kommt oder zu viel Macht über unsere Herzen gewinnt und uns schlussendlich unterjocht.“
„Aber…vielleicht wollen uns ja gar nicht alle Männer unterjochen. Ich glaube Iquitos z.B. nicht. Er liebt mich und er steht zu mir.“
„Iquitos!“ die Hohepriesterin sagte dieses Wort mit einem verachtenden Unterton in der Stimme. „Woher kommt es, dass du dich so von ihm- von einem Masculina, auf diese Weise einwickeln lässt? Das ist einer Tochter des dunklen Mondes nicht würdig!“
Podargia spürte auf einmal Zorn in sich aufsteigen, doch sie blieb ruhig. „Ich…lasse mich nicht von ihm einwickeln. Ich überlege mir nur, ob das was er sagte, möglicherweise wahr ist. Warum sonst, hätte es so einen Mordanschlag auf mich gegeben?“
Kelana schnaubte: „Du weisst, dass jeder Herrscher seine Neider und seine Feinde hat. Es ist nie möglich, dass alle zufrieden sind. Es gibt stets jene, die irgendetwas auszusetzen haben.“
Podargia erwiderte etwas heftiger als beabsichtigt: „Aber diese Anschlag kam aus meinem engsten Kreis, aus meinem Harem, wo es den Männern wirklich an nichts fehlt.
Baccaius hat ja auch ganz klar gesagt, dass sie gegen die Unterdrückung durch die Frauen kämpfen wollen. Ich glaube ich werde selbst mal nachschauen, wie es beim einfachen Volk so zugeht und ob es wirklich so viel Grund zur Klage gibt, vielleicht kann man ja einiges doch noch verbessern.“
„Aber, du kannst dich nicht einfach so unters Volk mischen, schon gar nicht, nachdem was gerade geschehen ist!“
„Aber ich werde es trotzdem tun!" erwiderte die Königin, mit Trotz in der Stimme. „Du bist nicht meine Mutter, auch wenn du wie eine Mutter zu mir warst und ich dir wirklich sehr dankbar für alles bin. Doch das hier ist meine Aufgabe, ich muss darum bemüht sein, dass es allen, unter meiner Herrschaft, gut geht.“
„Aber was gedenkst du zu tun?“ fragte Kelana. „Willst du wirklich, dass die Masculinas dieselben Rechte haben wie wir? Das ist nun mal von unserer Göttin nicht so bestimmt. Sie hat sich einst gegen das männliche Regime aufgelehnt und ist ihren eigenen Weg gegangen. Sie hat uns diese Welt gegeben, du kannst es in unseren heiligen Schriften nachlesen. Lilithia hat sich nie von einem Manne beherrschen lassen!“
„Ich habe auch nicht im Sinn, mich von den Männern beherrschen zu lassen, ich möchte einfach sicher sein, dass es ihnen sonst wenigstens an nichts fehlt, dass sie ein gutes Leben führen können, auch wenn wir weiterhin die Herrschaft behalten und den Gesetzen unserer Göttin Folge leisten werden.“
„Aber, wenn du anfängst sie zu sehr zu verwöhnen, werden sie immer mehr wollen. Es liegt ausserdem in der Natur der Männer, dass sie stets über die Frau herrschen wollen. Irgendwann wird es so weit kommen, dass… ein König auf unserem Thron sitzt und keine Königin mehr. Irgendwann werden sie nicht mehr zufrieden sein, egal wie gut es ihnen sonst geht. Und…“ sie schwebte ganz nahe an Podargia heran, in ihren Augen lag grosse Sorge und Mütterlichkeit „wenn…du dich auch noch in einen Masculina verliebst, dann… wird es unweigerlich so weit kommen, dass sie uns erneut unterjochen werden. Vertraue keinem von ihnen zu sehr, du siehst, dass zwei deines Harems, dich mit eisiger Kälte hintergangen haben und vielleicht… wird Iquitos das einst auch tun, wenn du ihm zu viele Freiheiten, zu viele Rechte zugestehst. Du bist drauf und dran, dich ganz in seine Hände zu geben, wenn du diese Gefühle nicht baldmöglichst wieder vergisst! Du bist unsere Königin und du musst deine Gefühle noch mehr unter Kontrolle haben als alle anderen. Ausserdem ist es sehr wichtig, dass wir unsere Welt erhalten, dass wir sie schützen, denn sie wurde uns einst von unserer Göttin Lilithia anvertraut. Und Lilithia ist nun mal eine Göttin der Frauen, nicht… der Männer.“
„Aber, ist das nicht irgendwie grausam? Liebt Lilithia nicht unser ganzes Volk? Immerhin stammen auch die harpischen Masculinas, schlussendlich von ihr ab.“
Kelana schüttelte ernst den Kopf.
Podargia wusste, dass die Hohepriesterin dieses Gedankengut als sehr fremd empfand.
„Ich weiss nicht, was mit dir los ist, mein Kind“, sprach diese nun. „Es sollte dir, wie auch mir, doch vollkommen klar sein, dass die Masculinas allein dazu geboren sind, um uns zu dienen und unseren Nachwuchs zu zeugen. Ihre Stellung ist in den Augen der Göttin nun mal niedriger. Sie müssen sich den Frauen unterwerfen, so steht es auch in den alten Schriften.“
„Aber, vielleicht sind diese Schriften ganz einfach veraltet!“ rief Podargia aus. Sie spürte erneut grossen Zorn in sich, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, warum eigentlich. „Vielleicht war das früher so. Es waren andere Zeiten, aber vielleicht muss es mal einen Wandel geben, wie Iquitos sagte.“
„Iquitos! Immer wieder Iquitos!“ rief nun Kelana, ebenfalls mit Zorn in der Stimme. „Willst du zulassen, dass er dich dazu bringt, den Gesetzen der Göttin nicht mehr zu gehorchen? Die Worte in den heiligen Schriften haben heute wie damals ihre Gültigkeit. Es ist das Wort der grossen Lilithia selbst. Sie hat es uns gegeben und nichts, gar nichts, steht über diesem Wort! Willst du dich tatsächlich von der Göttin abwenden, ketzerischen Gedanken folgen, wegen eines… Masculinas?!“ Ihre Augen schauten die Königin durchdringend an.
Diese spürte auf einmal ein schlechtes Gewissen in sich aufsteigen und senkte den Kopf. Dann sprach sie leise: „Nein… das will ich natürlich nicht.“ Sie fühlte sich auf einmal wie ein schuldbewusstes Kind unter dem gestrengen Blick der Hohepriesterin. In diesem Moment war sie keinen Königin mehr, nur noch eine Tochter, welche bei ihrer Mutter in Ungnade gefallen war.
Kelanas Ausdruck wurde nun wieder sanfter: „Das dachte ich mir doch. Ich möchte einfach, dass du aufpasst und… dich nicht zu sehr beeinflussen lässt, besonders nicht von einem Masculina und auch nicht… von diesem hinterhältigen Mordanschlag. Wie ich dir sagte, haben alle, welche so ein hohes Amt bekleiden, ihre Feinde. Das ist einfach so, wir dürfen uns davon nicht zu sehr aus der Bahn werfen lassen, auch wenn diese Feinde aus unserem engsten Kreise kommen. Gerade das sollte dir zeigen, dass man nur sich selbst und der Göttin wirklich vertrauen kann.“
Podargia nickte in leiser Zustimmung.
Die Hohepriesterin legte den Arm um ihre Schultern und meinte „So und nun komm etwas zur Ruhe mein Kind! Bedenke, dass die Göttin stets an deiner Seite ist und dich stärkt. Du bist eine gute Königin und alles ist gut, so wie es ist!“
„Dennoch, möchte ich mich etwas mehr unters Volk mischen“, gab Podargia zur Antwort. „Ich muss einfach besser darauf achten, wie es allen geht. Lilithia ermahnte uns auch zur gewissenhaften Pflichterfüllung. Es ist meine Pflicht als Königin, mich über alles auf dem Laufenden zu halten.“
Kelana seufzte: „Nun gut, wenn du meinst… das kann ich nicht verhindern. Doch, achte gut auf dich und sei sehr vorsichtig mit deinen Gefühlen!“
„Ja, das werde ich. Ich glaube ich ruhe mich jetzt wirklich erst mal etwas aus, dann sehen wir weiter. Danke für das Gespräch… Mutter.“
„Es war mir eine Freude mein Kind. So leb denn wohl und die Göttin sei mit dir!“ Sie machte eine segnende Handbewegung und Podargia verliess nachdenklich die Räumlichkeiten der Priesterschaft.