Aellia war froh, dass sie den Boten noch erwischt hatte. Die erste Hürde war genommen, nun konnte sie nur hoffen, dass die Rebellen Erbarmen hatten und ihnen, bald zur Hilfe eilten. Als nächstes trommelte sie alle Getreuen der Königin und auch noch einige andere, denen sie vertraute, zusammen. Sie trafen sich, wie abgemacht im untersten Viertel der Stadt. Irisa, welche Trojanas auch schon eine Weile vermisste, wurde zornig, als sie von der Gefangennahme der Equilibrier erfuhr. „Wir müssen sie unbedingt suchen und befreien!“ rief sie aus. Aellia erwiderte: „Ja, das ist sonnenklar. Doch wir müssen auch verhindern, dass Kelana und ihre Anhänger, das Land des dunklen Mondes verlassen. Ich habe schon mit den Drakonier deswegen gesprochen. Sie werden versuchen, die Abreise so lange als möglich hinauszuzögern, aber sie werden keinen Krieg führen.“
„Das übernehmen wir schon!“ meinte Irisa kalt. „Kelana und ihre Getreuen, werden noch bitter bereuen, was sie getan haben! Wir werden bis aufs Blut dafür kämpfen, dass ihre Macht ein Ende findet!“ Einen Augenblick lang, spürte Aellia tiefe Trauer in sich aufsteigen. Kelana war einst wie eine Mutter für sie gewesen. Aellia hatte sie geliebt und verehrt. War davon überzeugt gewesen, dass die Hohepriesterin eine sehr weise, gütige Frau war. Aber nun war diese Frau verschwunden und es gab nur noch Feindschaft zwischen ihnen. Mit einem leisen Seufzer meinte sie: „Irisa, ich möchte dich bitten, mit einigen guten Kämpfern, die Drachenschiffe zu verteidigen. Ihr dürft keinesfalls zulassen, dass jene, die gegen uns sind mit seligen, abreisen können. Ich werde mit einigen anderen, nach Trojanas und dem Rest unserer Freunde suchen und sie befreien. Wenn sie erst frei sind, dann hat Kelana keine wirkliches Druckmittel mehr. Wir werden dann schnellstmöglich zu euch stossen und euch unterstützen. Auch hoffe ich, dass die Rebellen uns helfen, die Kranken unserer Seite zu heilen.“
Irisa schien einen Augenblick widersprechen zu wollen, doch sie tat es nicht. Sie nickte nur knapp und suchte einige sehr gute Kämpferinnen aus. Mit ihnen machte sie sich auf den Weg zu den Drachenschiffen.
Bald stiessen auch noch einige Männer zu ihnen, welche nur sehr einfache Rüstungen trugen. Sie schienen nicht sonderlich erprobt im Kampf, aber sie wollten auch ihren Teil zu den neuen Welt beitragen. Tantalius hatte sie alle mobilisiert. Er war von einem Haus ins andere gegangen und hatte den Männern dort die Situation erklärt. Auch ein paar Frauen waren mitgekommenen, welche ebenfalls nicht mehr hinter den alten Gesetzen den Harpyas stehen konnten oder wollten. Sie hatten nicht selten einen Geliebten, mit dem sie das Leben teilen wollten. Einige hatten sogar Kinder von einem einzigen, auserwählten Gefährten. Sie alle wollten etwas zur grossen Wandlung beitragen.
Während Aellia und einige kriegserprobten Harpyas, die verschiedensten Aufgaben verteilten, gesellte sich auch Tantalius zu ihnen. Ein Bote folgte ihm, mit einem Pergament und einem kleinen Kästchen in der Hand. „Er sagte, er habe eine sehr wichtige Nachricht von den Rebellen“, erklärte Tantalius.
Aellia nahm die Nachricht und das Kästchen sofort entgegen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Würde dies ihre Rettung bedeuten?
Sie überflog den Brief in Windeseile und las dort die erlösende Botschaft:
Wir, die Masculinische Widerstandsbewegung, haben von der grossen Gefahr gehört, die unserem Volke droht. Wir wurden von Euch um Hilfe ersucht, die Kranken, in den Kreisen der Königin und Eurer Delegation zu durch unsere Heimittel zu heilen, damit die neuen Gesetze von Frieden und Gleichberechtigung, auch in unserem Lande Einzug halten können. Aus sicheren Quellen wissen wir, dass es Euch damit wirklich ernst ist und sich das Leben der Männer nur verbessern kann, wenn euer Vorhaben gelingt. Wir haben deshalb ein Kästchen mit dem Heilmittel mitgeschickt, damit ihr jene heilen könnt, die unsere Sache unterstützen. Wir hoffen, auf die baldige Genesung selbiger.
In der Göttin vereint.
Die Masculinische Widerstandsbewegung
Aellia jubelte, als sie die kleinen Fläschchen mit dem lilafarbenen Inhalt sah. „Wir müssen sie sofort verteilen! Okeana, würdest du das bitte übernehmen? Die junge Harpya, welche schon immer eine gute Freundin von Aellia gewesen war und sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte, nickte, nahm die Fläschchen und machte sich auf den Weg zu den vielen Kranken.
„Wie gehen wir weiter vor?“ fragte Valensios, der sich nun mit einigen Duzend Männern zu ihnen und Tantalius gesellt hatte.
Aellia fragte: „Wie erprobt sind eure Leute im Kampf?“ „Es gibt einige sehr gute Kämpfer unter uns.“ Er deutete auf eine Handvoll Männer. „Die andern, sind noch unerfahren, doch ihr Wille ist stark. Sie kämpfen für eine gerechte Sache und sie werden über sich hinauswachsen, davon bin ich überzeugt.“
Aellia runzelte etwas die Stirn, als sie sah, wie wenig wirklich gute Kämpfer, ihr eigentlich zur Verfügung standen. Immerhin waren wenigstens die Frauen, die sie zusammengerufen hatte, alle auf die eine oder andere Weise im Kampf erprobt. „Auch die Greife werden kommen, “ fügte Tantalius hinzu. „Ich habe sie sie um Hilfe gebeten. Sie müssten bald hier sein.“
„Das ist sehr gut. Sie sollen erst über der Stadt kreisen und warten bis wir sie rufen.“ Tantalius nickte und sandte durch seinen Geist die Botschaft an die Tiere weiter.
Aellia schaute in die Runde und sprach: „Ein Teil unserer Leute, wird mit mir kommen. Es ist sehr wichtig, dass wir die Geiseln befreien. Ausserdem, werde ich Kelana erneut zum Kampfe herausfordern. Die andern müssen zu den Drachenschiffen, um unsere Gegner davon abzuhalten, sie zu besteigen. Dies ist lebenswichtig, denn wenn wir versagen, wird grosses Elend über Equilibria kommen und… auch über uns. Sollte Kelana siegen, dann wird es auch keine neuen Gesetze geben und keine Gleichstellung von Mann und Frau. Denkt immer daran, Männer aus dem Reich des dunklen Mondes, euer Schicksal hängt von unserem Siege ab!“ Gejohle erhob sich unter den Masculinas. „Ja!“ riefen sie „Wir werden alle unser Bestes geben!“
„Das ist gut! Ein neuer Tag bricht nun für euch und für alle geflügelten Völker an. In diesem Kampfe werdet ihr den Frauen bereits gleichgestellt sein. Wir alle kämpfen als Ein Volk! Wir kämpfen für eine neue Welt und für die Göttin!“
„Für eine neue Welt und die Göttin!“ riefen alle laut aus und hoben ihre Waffen.
Nannios Körper wurde immer und immer wieder von Fieberkrämpfen und Erbrechen geschüttelt. Es war schrecklich und er musste aufpassen, dass sein Geist klar blieb und nicht selbst in den dunklen Wellen des Leidens versank. Das brauchte seine ganze Willenskraft. Dann endlich! Nach einer, endlos scheinenden Zeit der Qual, öffnete sich die Tür und die Wächterinnen stürzten herein. Er hörte ihre Stimmen, wie durch einen Nebel hindurch, aber deutlich genug. „Was um alles in der Welt ist mit ihm?“ hörte er die eine ängstlich fragen. „Es scheint als hätte er diese Seuche erwischt. Aber so schlimm, war es noch bei niemandem bisher.“ Sie versuchten ihn aufzurichten, doch seine Beine versagten den Dienst. Er erbrach sich erneut, bis es ihm gelang, die aufgewühlten Magensäfte für einen Moment lang zu beruhigen.
„Was sollen wir nur tun?“ fragte die eine Wächterin. „Ich weiss auch nicht… er braucht dringend einen Heiler. Wollen wir ihn ins Lazarett bringen?“
„Es wäre sicherer, wenn wir einen Heiler hierherholen würden.“
„Aber…es könnte auch viel länger dauern. Bis dahin kann er uns schon weggestorben sein. Die Heiler haben im Augenblick so viel zu tun. Wir bringen ihn lieber gleich ins Lazarett.“ „Bitte…“ stöhnte Nannios „helft mir! Ich kann nicht mehr!“ Wieder erbrach er sich.
Die beiden Wächterinnen wichen angeekelt einen Schritt zurück. „Okay,“ meinte jene die zuletzt gesprochen hatte. „Wir bringen dich ins Lazarett.“ Sie löste seine Fesseln und die beiden Frauen zogen ihn mit vereinten Kräften auf die Beine.
Nannios Gang war schleppend. Das Fieber und das Erbrechen, schwächten ihn sehr. Doch zugleich klopfte sein Herz in freudiger Erwartung. Der beste Fall war eingetreten: er wurde ins Lazarett gebracht!
Die Heiler waren wirklich sehr beschäftigt. Sie eilten von einem Kranken zum andern. Als sie Nannios erblickten, rief Mediora: „Da ist Nannios! Wir haben dich sehr vermisst!“
„Es hat ihn auch erwischt“, erklärten die Wächterinnen knapp „und das sehr schlimm. Ihr müsst ihm sofort helfen!“
Die Heilerin trat sofort zu Nannios und begann sich um ihn zu kümmern. Als sie den magiedämmenden Halsreif sah, runzelte sie die Stirn. „Was ist das da? Er kann ja gar nicht richtig atmen. Entfernt das Ding!“
Die Wächterinnen strafften sich und fassten an ihre Schwerter. „Er muss den Reif anbehalten!“ sprachen sie mit bedrohlichen Mienen.
„Das ist doch Blödsinn! Wozu soll das gut sein!“ empörte sich Mediora und Nannios hätte sie am liebsten umarmt. Noch einmal legte er sich richtig ins Zeug, um die anderen von seinem schlechten Zustand zu überzeugen. Dann gönnte er sich wieder eine kleine Ruhepause und stiess hervor: „Dieser Halsreif, er hindert mich daran, meine Selbstheilungskräfte zu entfalten.“
Mediora war entsetzt. „Warum legt man ihm so etwas an? Das ist doch unmenschlich! Entfernt es endlich. Ich kann ihn sonst vermutlich nicht mehr retten, wenn man seinen schlimmen Zustand bedenkt. Wollt ihr für seinen Tod verantwortlich sein?!“
Die Wächterinnen schienen verwirrt und dachten einem Moment lang angestrengt nach. Sie waren verantwortlich für diese Geisel. Kelana hatte ihnen eingeschärft, dass Nannios von enormer Bedeutung sei, da er der Sohn der lunarischen Hohepriesterin war. Konnten sie riskieren, dass er ihnen wegstarb? Wie konnten sie vor den Heilern begründen, weshalb Nannios diesen magiedämmenden Reif trug, der ihn an der Selbstheilung hinderte?
Mediora schaute die beiden Kriegerinnen beschwörend an: „Ihr müsst ihm diesen Reif abnehmen, sonst kann ich für nichts garantieren!“
Die Wächterinnen, zögerten noch einen Moment, dann holte die eine einen Schlüssel hervor und… öffnete das Halsband! Nannios konnte sein Glück kaum fassen.
„Danke!“ flüsterte er. Der Blick der Harpyas verfinsterte sich. „Wir bleiben aber hier und wenn du wieder gesund bist, dann wirst du mit uns zurückkommen.“
„Das werden wir dann noch sehen!“ meinte Mediora resolut und begann mit kalten Umschlägen, um den vom Fieber glühenden Körper des Lunariers, zu kühlen. Die Wächterinnen blieben noch einen Moment unentschlossen stehen. Als die Heilerin ihnen jedoch mit einem finsteren Blick bedeutete, dass ihre Anwesenheit hier nicht mehr erwünscht war, zogen sie sich ziemlich missmutig in den hinteren Teil des Lazaretts zurück.