Mit klopfendem Herzen, verliess Irisa das Schiff. Was nur würde sie erwarten? Würden die Hohepriesterin und die Königin mit sich reden lassen? Würden sie…verstehen?
„Meine liebe Tochter! Du bist zurück!“ rief Kelana und umarmte die jüngere Frau. Irisa erwiderte die Umarmung, jedoch mit sehr gemischten Gefühlen. „Komm doch herein! Stärke dich und dann musst du uns alles erzählen, was du erlebt hast!“
Sie schaute zur Königin herüber und diese nickte. Dabei vermied Podargia geflissentlich, Kelana anzuschauen. Es schien, als läge eine Spannung zwischen ihr und der Hohepriesterin.
Ein seltsames Gefühl beschlich Irisa. Sie wusste die Situation noch nicht so richtig einzuschätzen und hoffte einfach, dass sie mit ihrer Nachricht nicht noch Öl, in ein bereits loderndes Feuer, goss. Sie sandte ein Stossgebet zur grossen Göttin, welche mittlerweile ihre Bahnen am tiefschwarzen, nächtlichen Himmel zog.
Während die drei Harpyas sich auf dem Weg ins Innere des Tempels machten, liess sich Irisa nochmal alles, was sie sagen wollte, durch den Kopf gehen. Sie und Aellia hatten abgesprochen, was Irisa sagen sollte und was sie besser noch verschwieg, bis die Delegation hier ankam.
Kelana und Podargia führten Irisa in einen hohen Raum der von den üblichen Säulen mit den Schlangen- und Vogelsymbolen, getragen wurde. Ein grosser Tisch stand in seiner Mitte. Die Königin hatte bereits ihre Befehle erteilt und einige Angestellte, begannen alles für ein Mahl vorzubereiten. Ein bescheiden gekleideter, männlicher Diener, mit einer unterwürfigen Haltung, deckte ein. Sein und der Blick von Irisa trafen sich für einen kurzen Moment und die Harpya lächelte und bedankte sich mit einem freundlichen Kopfnicken. Der Diener, ein eher älterer Mann, war deswegen so überrascht, dass er beinahe gestürzt wäre. Irisa packte ihn geistesgegenwärtig und mit festem Griff am Arm und half ihm auf den Füssen zu bleiben. Der Diener stammelte ein „Danke!“ und ging dann seltsam beschwingt aus dem Raum.
Kelana beobachtete das Schauspiel argwöhnisch und mit gerunzelter Stirn. Auch die Königin schien überrascht, ihr Gesicht jedoch drückte keinen Argwohn aus, eher Neugier. Sie schaute einen Moment die Hohepriesterin an. Ihr Blick war eine Mischung aus Ermahnung und Spott. Was hatte das zu bedeuten? Konnte es sein, dass die Königin sich, einer neuen Ordnung gegenüber, offener zeigen würde, als die von Irisa stets so verehrte Hohepriesterin?
Einen Moment lang breitete sich peinliches Schweigen aus. Dann jedoch nahm Kelana das Gespräch auf. Irisa merkte, dass sie sehr darum bemüht war, zwanglos zu wirken. Aber es gelang ihr nicht so wirklich.
„Also meine Tochter? Was hast du uns Neues zu berichten? Hast du…Aellia gefunden?“ Es erstaunte Irisa nicht, dass dies die erste Frage war, denn sie wusste wie sehr Kelana an Aellia hing und dazu tendierte, sie zu ihrer Nachfolgerin zu erwählen. Sie würde traurig darüber sein, wenn sie erfuhr, dass Aellia im Reich des Silbermondes mit Nannios zusammenleben wollte. Das jedoch… sollte ihre Schwester selbst erzählen. Irisa wollte noch nicht zu viel preisgeben, einfach nur die allerwichtigsten Dinge.
„Ja, Mutter. Ich habe Aellia gefunden. Ihr habt mir das ja auch aufgetragen. Sie ist bereits unterwegs hierher. Vermutlich kommt sie Morgen an.“
Kelanas Gesicht erhellte sich. „Dann geht es Aellia gut? Wie hat sie diese schlimmer Verletzung und den schrecklichen Sturz überlebt?“
„Dank eines Drakoniers namens Mangios. Er hat… sie aufgefangen, als sie… hinabstürzte auf eine Welt, jenseits der unsrigen.“
„Eine Welt, jenseits der unsrigen?“ fragte nun Podargia und Aufregung spiegelte sich in ihrem Gesicht.
„Ja, meine Königin.“
„Dann gibt es also tatsächlich noch andere Welten, neben dem Land des dunklen Mondes?“
„So ist es. Eine wunderschöne und vielfältige Welt, noch dazu. Man nennt sie Equilibria. Sie hat sehr fruchtbare Gegenden, mit grünen Wiesen und Wälder, welche bis zum Horizont reichen. Es gibt dort Wasser in rauen Mengen, Tiere und Pflanzen, schöner als ihr es euch jemals ausmalen könnt. Man kann dort ein Leben im Überfluss leben. Es gibt eine leuchtende Sonne, welche am Tag scheint und ein Mond, so wie unsere Lilithia, nur silbern schimmernd.“
„Eine Sonne?“ fragte Podargia und ihre Aufregung steigerte sich noch mehr.
„Ja, ein leuchtender Ball, der strahlen hell ist. Er trägt dazu bei, dass so viel Leben existieren kann. Er ist das Symbol des grossen Gottes Heliosus, der dort, neben der Göttin- die durch den Mond versinnbildlicht wird, verehrt wird. Zumindest ist das so… im Reiche der Lunarier.“
„Lunarier?“ fragte Podargia.
„Ein Gott namens Heliosus?“ rief Kelana aufgebracht.
Doch sie wurde von einem strengen Blick der Königin in die Schranken gewiesen. Irisa staunte, dass die Hohepriesterin schwieg, denn eigentlich war sie das geistiger Oberhaupt der Harpyas und besass genauso viel, wenn nicht sogar noch mehr Macht, als Podargia. Dennoch sie beherrschte sich, auch wenn noch nicht alles gesagt war, das spürte Irisa.
„Ihr habt also… andere Völker gefunden?“ wollte Podargia wissen.
„Ja, das haben wir. Genaugenommen sogar zwei Völker. Die Lunarier leben in der fruchtbaren, wasserreichen Landschaft, direkt unter dem Reich des dunklen Mondes. Das andere Volk, sie nennen sich Solianer, leben mehr im Süden, in einer trockeneren Welt, wo es viel rotgoldener Sand und schroffe Berge gibt.“
Podargia erhob sich begeistert. „Aber… das hiesse ja, dass unser Volk doch noch nicht ganz verloren ist! Haben sie… kooperiert?“
„Ja, das haben sie. Tatsächlich ist bereits eine Delegation der unterschiedlichen Völker, hierher unterwegs. Aellia hat diese ins Leben gerufen hat, um mit uns Verhandlungen zu führen.“
„Verhandlungen, was für Verhandlungen?“ fragte Kelana verärgert.
„Verhandlungen, über ganz verschiedene Dinge. Es ist das Ziel der Delegation, dass die geflügelten Völker, von dieser und jener Welt sich zusammenschliessen und sich gegenseitig unterstützen. Die Solianer und vor allem Lunarier, bieten an, uns hinsichtlich unseres Männermangels zu helfen. Die Solianer ihrerseits, haben ein Frauenproblem und sie bräuchten wiederum Hilfe von uns.“
„Und was wird dann aus dem Nachwuchs?“ fragte Kelana. „Nehmen sie die Söhne und wir die Töchter?“
„Das…müsste dann noch im Detail besprochen werden. Das grösste Problem ist, dass wir hinab nach Equilibria gehen müssten, denn die andern Völker können hier nicht überleben. Es ist für sie zu lebensfeindlich hier.“
„Aber…du sagtest doch gerade, dass einige von ihnen bereits zu uns unterwegs sind?“ fragte Podargia nun und setzte sich wieder, während die Angestellten und Diener ein, für harpische Verhältnisse sehr reiches Mahl auftischten.