Aresios meinte: „Wir müssen ihn festbinden! Wenn er erwacht, wird er sich umso heftiger wehren. Wer auf diesem Schiff hat eigentlich die Gabe, ein so mächtiges Tier zu bändigen?“ Artemia trat bescheiden vor.
Aresios lächelte vielsagend. „Natürlich, die Hohepriesterin der Lunarier. Das hätte ich mir denken können.“
Einen Moment lang spürte Aellia einen winzigen Anflug von Neid. Diese Magie… sie war ihr gänzlich fremd. Ihre eigenen Zauber waren eher dazu gemacht, zu zerstören. Sie besass weder Heilkräfte noch so eine enge Verbindung zur Natur. Doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass es im Reich des dunklen Mondes auch nicht viel Gelegenheit gab, sich mit der Natur und ihren Geschöpfen auseinander zu setzen. Es gab ja kaum Leben in dieser Welt… Sie blickte sich um und auf einmal spürte sie ein seltsames Gefühl der Befremdlichkeit, wenn sie diese, von Zwielicht und Kargheit erfüllte Welt betrachtete. Sie hatte auf Equilibria so vieles gesehen, so wundervolle Dinge. Besonders im Reich des Silbermondes pulsierte alles vor Leben und Vielfalt.
Sie sehnte sich plötzlich zurück zu den fruchtbaren, bewaldeten Hügeln, den vielen Flüssen und Wasserfällen. Und…sie wusste nun ganz sicher, dass sie mit Nannios dorthin zurückkehren würde, wenn ihre Arbeit hier getan war.
Sie beugte sich zu dem mächtigen Greif herunter, dessen befiederter Vorderkörper, im matten Schein glänzte wie schwarzer Obsidian. Sein Atem ging regelmässig und sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich dabei. Aellia streichelte nachdenklich und zärtlich über das weiche Gefieder.
Nannios kauerte sich neben sie und fragte: „Und was tun wir jetzt mit diesem Greif?“
Aellia blickte zu Aresios und Artemia herüber, welche nebeneinander standen und das grosse Tier ebenfalls nachdenklich betrachteten. „Wir sollten ihn erst einmal mitnehmen, “ sprach der Drakonier „wie ich sagte, ist er vermutlich der letzte und einzige seiner Art.“
„Nein, das ist er nicht“, widersprach Nannios Mutter. „Ich habe es gefühlt. Er hat sich mit einem andern Greif gepaart. Das habe ich in seiner Gedanken gesehen. Darum hat er uns auch so heftig angegriffen.“
„Es gibt also noch ein zweites, solches Geschöpf?“ erwiderter Aresios mit einer Mischung aus Unsicherheit und Freude.
„Ja, es sieht ganz so aus.“
„Das…würde ja bedeuten, sie können sich wieder vermehren.“
„Ja“, meinte Aellia, in deren Kopf ein verwegener Gedanken Gestalt annahm. „Wir…könnten sie züchten, wie die Solianer ihre Löwen und… dann hätten wir endlich auch Reittiere. Das wäre eine grosse Bereicherung für unser Volk. Wir könnten ganz neue Horizonte erschliessen, wenn wir nicht alles selbst fliegen müssten und es könnte die Völkerverständigung um einiges erleichtern.“
„Es wird aber nicht einfach sein, diesen Greif zu zähmen“, gab der drakonische Magier zu bedenken „und noch schwieriger wird es, das Weibchen ausfindig zu machen. Es ist sicher genauso wild, wie das Männchen.“
„Dennoch…, ich möchte es gerne versuchen“, gab die Harpya zur Antwort. „Es wäre schade, wenn man die Chance ungenutzt liesse, meinem Volke so herrliche Reittiere zu schenken. Wie steht ihr dazu?“
Sie schaute Nannios und auch Artemia fragend an.
Artemia meinte: „Ich habe dabei etwas gemischte Gefühle. Ich denke, man sollte diesen edlen Tieren nicht ihre Freiheit nehmen. Besonders nicht denen, die in der Wildnis aufgewachsen sind.“
„Es wäre ja nur vorübergehend, bis sie sich gepaart haben und den Nachwuchs würden wir dann zu Reittieren ausbilden.“
„Nun gut, das ginge noch eher. Dennoch… es wird recht schwierig. Dieser Greif hier, wird sich mit all seinen Kräften gegen eine Gefangenschaft wehren. Er ist sehr intelligent, noch viel intelligenter als die solianischen Löwen, so ähnlich wie die Pegasosse.“
„Tatsächlich?!“ Eine noch grössere Erregung ergriff von Aellia Besitz, als sie sie bisher empfunden hatte. Der Gedanke so wundervolle, überaus intelligente Reittiere zu haben, gefiel ihr ausserordentlich. Vielleicht liessen sich die Greife ja auch davon überzeugen, dass es einem guten Zweck diente, wenn sie zu den Reittieren der Harpyas wurden. Aresios meinte:
„Wie auch immer! Tatsache ist, dass dieser Greif der erste ist, der nach vielen Jahrzehnten wieder in diesem Reich aufgetaucht ist. Ich weiss nicht, woher er genau kam oder ob er sich einfach gut versteckt hielt. Aber wenn wir es schaffen würden das Weibchen zu finden und es Nachwuchs gäbe, könnte man diese Tiere auch wieder neu hier ansiedeln. So wie es aussieht, haben sich die Lebensbedingungen für sie wieder verbessert. Vielleicht weil die vulkanischen Aktivitäten im Land des dunklen Mondes langsam abnehmen und die Luft wieder klarer und besser wird? Ich weiss es nicht.“
„Du sagst meine Heimatwelt verändert sich?“ fragte Aellia.
„Ja, das tut sie tatsächlich. Wir erforschen das seit langem und… es sieht ganz so aus, als würde sich das Land des dunklen Mondes zum Besseren verändern.“
„Das heisst… wir könnten vielleicht eines Tages wieder alle hier leben?“ fragte Nannios.
„Ja, das kann gut sein. Doch es bedarf noch einiger Zeit.“
Aellia und auch die anderen, welche die Worte des Drakoniers hörten, waren sehr berührt, von dieser Vorstellung.
„Das wäre natürlich wunderbar!“ sprach Nannios und Aellia nickte zustimmend. Der junge Priester schaute erneut hinab auf den schlafenden Greif, dann meinte er: „Ich finde auch, wir sollten die Chance nutzen und dieses Tier mit uns nehmen. Irgendwie werden wir das Weibchen ausfindig machen und dann, werden wir die Greife züchten können. Einen Teil können du und dein Volk dann zu Reittieren ausbilden Aellia, und die anderen, kann man wieder in die Freiheit entlassen. Auch diesen hier, würde ich baldmöglichst wieder freilassen.“
„Ja, “ gab Artemia zurück, „das denke ich auch.“ Sie wandte sich an Aellia.
„Ich werde dich und dein Volk mit meinen Fähigkeiten so gut ich kann bei deinem Vorhaben unterstützen. Ich werde versuchen mit dem Greif weiter zu kommunizieren und ihn zu beruhigen, so gut ich kann. Lange jedoch können wir ihn nicht festhalten, gerade weil er so intelligent ist.“
„Das ist mir klar. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass der Wille der Götter uns dieses Tier gesandt hat.“
„Es sieht ganz so aus“, lächelte Nannios und dachte an die Pegasosse und seinen geliebten Indarimos. Dieser hatte sich ihm vollkommen freiwillig als Reittier angeboten und vielleicht, gelang das ja auch bei den Greifen.
„Dann also ist es beschlossen? Wir nehmen das Tier mit?“ fragte Aellia.
Aresios und die andern nickten. Die junge Harpya sprach: „Ich werde mich um ihn kümmern und versuchen sein Vertrauen zu gewinnen.“
„Ja und ich helfe dir dabei!“ gab Artemia zurück.
Die junge Harpya erhob sich und blickte nach Norden. Die vielen grossen und kleinen Planetenscherben, schwebten lautlos im weiten Raum ihres Heimatreiches. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie diese Welt einst verwandelt werden würde. Sie reiste weit in die Zukunft, wo es keinen Krieg mehr unter den verschiedenen Rassen gab, keine Benachteiligung irgendwelcher Völkergruppen mehr. Sie sah ihr eigenes Volk, stolz, mächtig und glücklich. Sie sah die Reichtümer, die die Natur ihnen irgendwann, auch an diesem seltsamen Ort der Leere und Dunkelheit, wieder schenken würde. Sie sah die Göttin in ihrer ganzen Pracht, ihre Zyklen, in deren Einklang die Harpyas leben würden und sie sah, wie die wundervollen Greife sie auf ihren Rücken trugen und sie in neue, wundervolle Welten brachten… War dies nur ein Traum, oder vielleicht gar eine Vision, die einst wahr werden würde?