Eine unruhige Nacht neigte sich dem Ende zu. Aellia hatte kein Auge zugetan, obwohl sie den Schlaf dringend gebraucht hätte. Doch sie musste immer wieder an das Gespräch mit der Königin und ihrer einst so verehrten Hohepriesterin denken. Letztere hatte sie bitter enttäuscht. Sie hatte sie und auch die anderen, zutiefst beleidigt und Aellia als Verräterin beschimpft. Noch nie hatte die junge Harpya solchen Fanatismus gesehen, ausser damals bei Solianas und das, machte ihr grosse Angst. War es wirklich möglich, dass Kelana nochmals mit sich reden liess, oder endete das alles womöglich in einem Desaster. Das Schlimmste, war für Aellia der Gedanke, dass die Lunarier und Solianer unverrichteter Dinge, wieder zurück nach Equilibria fliegen würden, ohne die Harpyas an ihrer Seite. Das würde der Untergang für ihr Volk bedeuten. Ihre Augen brannten, von bisher noch ungeweinten Tränen, während sie auf dem Balkon der mächtigen Pyramidenstadt sass und zusah, wie Lilithia, ihre geliebte Göttin, wieder ihren Blicken entschwand und dem rötlichen Tageslicht Platz machte, dass von irgendeiner unsichtbarer Sonne erzeugt wurde. Zu diesen frühen Morgenstunden, war alles besonders still, denn das harpische Volk waren ja vorwiegend nachtaktiv und schlief bis lange in den Tag hinein.
Die Mauern und Zinnen aus glänzendem Obsidian, fingen das matte Licht ein und es war, als würde ein leichtes Glühen von ihnen ausgehen. Planetenscherben schwebten darum herum, von einigen floss Lava herab, die sich als feuriger Strohm in der Unendlichkeit verlor. Alles war still und friedlich. Ein trügerischer Frieden, so erschien es Aellia. Nannios schlief noch, sie beneidete ihn um seine Gelassenheit. Doch… sein Volk war ja auch nicht vom Untergang bedroht, wie ihres. Und die Unvernunft von Kelana, führte die Harpyas, nicht die Lunarier, ins Elend. Sie konnte jetzt nur noch hoffen, dass die Hohepriesterin doch noch zur Vernunft kam und alles sich zum Guten wenden würde.
Die Stunden zogen sich schleppend dahin. Aellia zeigte Nannios und den anderen noch etwas die Stadt, erklärte ihnen dies und das. Es ging jetzt nur noch darum abzuwarten. Die Obrigkeit der Harpyas, hatte sich auf Wunsch der Königin erneut versammelt, darunter jetzt neben letzterer und Kelana auch noch ein paar andere Mitglieder aus den einflussreichsten Kreisen, deren Meinung ebenfalls von grossem Gewicht war. Das Ganze zog sich wirklich sehr in die Länge.
Schliesslich beschloss Aellia, auch um sich etwas abzulenken, den Greif zu besuchen. Sie wollte, mit Hilfe von Artemia, nochmals versuchen, ihn zu füttern und sein Vertrauen zu gewinnen.
Als sie jedoch zu dem alten Gebäude mit eisernen Gittern vor den Fenstern kamen, welches einst als Gefängnis gedient hatte und nun zum Stall umfunktioniert worden war, stutzte die Frau. Vor dem einen Fenster schwebte ein Mann mittleren Alters. Es war eher unscheinbar und schlaksig gebaut, mit kurzem Haar, einen herzförmigen Haaransatz und einem gänzlich schwarzen Gefieder. Er schien leise und beruhigend auf den Greifen einzureden. Aellia schwebte, zusammen mit Artemia und Nannios, etwas misstrauisch näher und der Mann wandte sich ihnen nun zu. Auch sein Gesicht war unscheinbar, doch er hatte ganz besondere Augen, die wie dunkelgrüne Oliven aussahen. Seine Ausstrahlung war erstaunlich charismatisch, trotz seinem unscheinbaren Äusseren. „Ich glaube… er erwacht gerade wieder,“ meinte er mit eine freundlichen, etwas dunklen Stimme und lächelte entschuldigend. „Ich…wollte nur mal nach ihm sehen. Ihr müsst wissen…ich kenne mich etwas mit Greifen aus.“
„Ihr kennt euch mit diesen Tieren aus?“ fragte Aellia nun sichtlich interessiert.
„Ja, ich habe sogar gelernt, mit ihnen zu kommunizieren.“
„Tatsächlich?“ fragte Artemia und warf einen prüfenden Blick in den Innenraum der provisorischen Stallung. Der Greif hatte nun tatsächlich wieder die Augen geöffnet, war aber immer noch eher apathisch.
„Ich beherrsche sonst auch die Gabe, mit den unterschiedlichsten Tieren zu kommunizieren, aber bei dem Greifen ist es mir bisher kaum gelungen. Ich konnte ihn zwar etwas beruhigen, indem ich sein Nervenzentrum stimuliert habe, aber reden wollte er bisher nicht mit mir.“ „Das ist auch verständlich“, meinte der Fremde nun mit einem etwas vorwurfsvollen Ton in der Stimme. „Er ist sehr intelligent und immerhin habt ihr ihn gefangen genommen und hier eingesperrt. Das ist kein Leben für einen Greif!“
„Hat er euch das gesagt?“ fragt Aellia neugierig.
„Ja, in gewisser Weise. Doch ich kenne mich da, wie gesagt, ziemlich gut aus. Dieser Greif ist frei geboren und man kann ihn nicht einfach so einsperren. Irgendwann wird es sich gegen eure Beruhigungszauber auflehnen und von hier fliehen.“
„Aber… wir haben doch eigentlich vor, ihn baldmöglichst wieder freizulassen“, rechtfertigte sich Aellia. Wir glauben nur, dass er vermutlich das letzte, männliche Exemplar seiner Art ist. Es soll da draussen noch ein Weibchen geben, das hat Artemia gesehen. Aber dieses Weibchen müssen wir erst finden.“
„Warum wollt ihr es denn unbedingt finden?“ fragte der Mann, welcher sich als Tantalius vorgestellt hatte.
„Nun…weil wir die Greife züchten und neu hier ansiedeln wollen. Ausserdem…“ fügte sie beinahe etwas schuldbewusst hinzu „wir wollen einen Teil der Jungen, wenn irgend möglich, zu unseren Reittieren ausbilden.“
Tantalius nickte nachdenklich und mit einem undefinierbaren Leuchten in den Augen. Etwas an ihm wirkte zugleich beunruhigend und faszinierend. Er schien sehr schlau zu sein und er schien auch mehr zu wissen, als er bisher preisgegeben hatte. „Das ist ein nicht so einfaches Unterfangen, denn diese freigeborenen Greife, lassen sich nicht so einfach in Gefangenschaft halten. Sie müssen sich, wenn ihr sie züchten und gar zu Reittieren ausbilden wollt, freiwillig dazu entschliessen und sie müssen die Möglichkeit haben, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen beliebt.“
„Aber dann werden wir nie Nachwuchs von ihnen bekommen,“ gab Aellia zu bedenken. „Doch… es gibt eine Möglichkeit, denn… ich habe das Weibchen. Es ist sein Weibchen. Sie haben sich bereits gepaart.“
„Ich habe mir fast so etwas gedacht, als ich das Weibchen in seinen Gedanken sah,“ sprach Artemia. Sind die beiden noch die einzigen Greife?“
„So viel ich bisher weiss, ja. Kethia hat mir nie von andern Greifen erzählt nur… von ihm hier. Ich nenne in Ketios, auch wenn ich ihn bisher nie persönlich zu Gesicht bekommen habe. Kethia allerdings ist sehr zahm und… sie hat bereits Eier gelegt.“
„Sie hat… Eier gelegt?!“ rief Aellia aus.
„Ja, das hat sie. Es war auch meine Idee den Nachwuchs einst als Reittiere auszubilden, da haben wir einiges gemeinsam. Wir müssen jetzt einfach noch die beiden Greife zu eine Kooperation mit euch oder uns bewegen. Bei ihm hier, wird das aber eher schwierig sein. Ihr hattet nicht gerade den besten Start mit ihm.“ Tantalius Stimme klang etwas spöttisch.
Aellia meinte: „Er hat unser Schiff angegriffen, vermutlich weil wir in sein Revier eingedrungen sind und er wohl seine Gefährtin und die Eier beschützen wollte. Die Drakonier haben uns dann geholfen, ihn gefangen zu nehmen.“
„Ach so, die Drakonier? Seid ihr also mit den Schiffen gekommen, die dort hinten so zahlreich vor Anker liegen?“
„Ja, wir sind in einer besonderer Mission hier“, gab Aellia etwas ausweichend zur Antwort. „Ich hörte, ihr seid von einem fernen Planeten?“ fragte der Fremde, an Artemia und Nannios gewandt. „Ja, das stimmt, wir wollen eine Allianz, zwischen allen geflügelten Völkern schliessen.“
„Und was bringt das für Vorteile?“ wollte Tantalius ahnungslos wissen.
„Einige! Besonders für die Männer“, erwiderte die Harpya. „Wenn alles so läuft wie wir es uns erhoffen, werden alle hier bald ein besseres Leben haben.“
„Das klingt sehr verlockend. Wenn das gelingen würde, dann würde ich euch meine Dienste natürlich umso lieber anbieten. Ich helfe euch dabei, die Greife zur Kooperation zu bewegen und… ich werde euch mein Weibchen und ein Teil des Nachwuchses zur Verfügung stellen, um sie zu Reittieren auszubilden. Kethia hat sich schon von diesem Vorhaben überzeugen lassen und ich werde es sicher auch noch bei Ketios schaffen. Ich muss ihm nur erklären, warum ihr ihn gefangen genommen habt. Er wird es sicher verstehen. Doch dazu müsst ihr euren guten Willen erst beweisen und ihn… wieder frei lassen.“
„Frei lassen? Aber das ist zu riskant!“ widersprach Aellia.
„Nein, denn ich habe ja das Weibchen und die Eier.“
„Dafür gibt es aber noch keinen Beweis.“ „Ihr werdet mir in diesen Dingen einfach vertrauen müssen. Es gibt sonst mächtigen Ärger mit diesem Greif hier, das kann ich euch versprechen. Er lässt sich nicht mehr lange gefangen halten und dann verliert ihr alles.“
Aellia überlegte und schaute fragend zu Artemia herüber. Diese nickte still, auch Nannios schien dem Fremden, in dieser Hinsicht, zu vertrauen.
„Nun gut“, sprach Aellia. „Ich vertraue euch, was verlangt ihr dafür für eine Gegenleistung? Ein Schatten huschte über Tantalius Gesicht und er erwiderte mit etwas rauer Stimme: „Ich erwarte keine Gegenleistung ausser…, dass ihr alles in eurer Macht Stehende tun werdet, um das Leben hier in dieser Welt, für alle lebenswerter zu gestalten. Wenn ich euch beim Züchten und Ausbilden der Greife helfe, dann will ich das als vollwertiges Mitglied der harpischen Bevölkerung tun und nicht… als Sklave oder Diener.“
„Wenn das klappt, dann wirst du keinesfalls mehr ein Diener sein, “ sprach Aellia, dann wirst du hochgeachtet sein, denn du ermöglichst unserem Volk wunderbare, neue Welten zu erschliessen.“ Tantalius schien mit dieser Antwort zufrieden und Aellia fragte: „Wie also gehen wir jetzt weiter vor?“ „Wir werden diesen Greif, wie erwähnt, wieder frei lassen. Ich werde noch eine Weile mit ihm sprechen, um ihm vielleicht dadurch etwas die Wildheit und den Zorn zu nehmen. Ich brauche dazu etwas Ruhe. Kommt in einer Stunde wieder, dann sollte ich einen Schritt weiter sein. Kethia wird mir wohl auch noch etwas zur Seite stehen. Es könnte sogar sein, dass ihr sie heute noch zu Gesicht bekommt, denn sie kann Ketios mit ihrer Gegenwart immer noch am besten beruhigen.“
„Wir sehen sie vielleicht noch?“ Ja, doch ich brauche dazu mindestens eine Stunde Zeit, allein mit diesem Greifen. Die Angesprochenen nickten zustimmend und zogen sich etwas zögernd, einer nach dem anderen, zurück.
Und dann…, als das Licht am hellsten wurde und die Mittagsstunde Einzug hielt, ins Reich des dunklen Mondes, erblickte die ganze Obsidian Stadt auf einmal einen mächtigen, schwarzen Schatten, der über ihnen am Himmel kreiste! Der Schatten kam näher und näher und ein spitzer Adlerschnabel und krallenbewehrte Löwenpranken, wurden sichtbar. Der Greif stiess einen durchdringenden Schrei aus, dann setzte er zur Landung an.
„Hallo mein Mädchen!“ freute sich Tantalius. „Schön, dass du dir Zeit genommen hast, herzukommen…“